Habecks Zwiespalt
Kurz vor dem Aus der Ampel veröffentlichte das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck ein Papier, das der Angebotspolitik seines liberalen Ex-Koalitionspartners entgegenkommt. Doch das Ministerium versucht auch, nachfragepolitische Impulse zu setzen. Gelingt der Spagat?
Die Ampel ist an der Auseinandersetzung über den Bundeshaushalt 2025 zerbrochen, ein Ende der Streitigkeiten aber noch nicht in Sicht. Immer wieder schieben sich Spitzenpolitiker aus dem gescheiterten rot-gelb-grünen Regierungsbündnis den schwarzen Peter für das Aus zu.
Der Disput findet vor allem zwischen SPD und FDP statt: Bei der Entlassungsrede von Christian Lindner fand Kanzler Olaf Scholz harte Worte für seinen Ex-Finanzminister: Dieser handele „verantwortungslos“, hätte „kleinkariert parteitaktisch taktiert“ und zu oft das Vertrauen des Kanzlers „gebrochen“. Dazu kommt, dass die FDP laut Berichten von Die Zeit und Süddeutsche Zeitung „wochenlang und viel akribischer als bekannt“ auf den Koalitionsbruch hingearbeitet habe. Es hätte parteiinterne Pläne für eine „Operation D-Day“ gegeben.
Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck gibt vor allem der FDP die Schuld. Am Abend des Regierungsbruchs verkündete er: Zwar fühle sich das Ampel-Aus „nicht richtig an“ und es wäre „nicht nötig gewesen, dass der Abend so endet“, denn es hätte „Lösungsmöglichkeiten“ gegeben, um das Haushaltsloch zu füllen. Aber die FDP sei nicht bereit gewesen, diese Möglichkeiten wahrzunehmen. Lindners Entlassung durch Scholz sei daher „folgerichtig wie unnötig“.
Aus dem Munde von FDP-Politikern stellt sich die Sache jedoch vollkommen anders dar. Lindner kontert auf die Anschuldigung des geplanten Ampelbruchs durch die Liberalen, dass Scholz „bereits im Sommer über meine Entlassung nachgedacht hat“. Auch, dass es ein „Drehbuch“ für das Koalitionsaus gegeben hätte, dementieren FDP-Politiker vehement. Etwa betont Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, dass die FDP die „Regierungsarbeit in einem fort bewertet und dabei alle Szenarien, die vorstellbar wären, durchdacht“ hätte. Allerdings habe es keine einzelne FDP-Sitzung zum „Drehbuch“ eines Koalitionsbruchs gegeben, wie die rechtsliberale Neue Züricher Zeitung berichtet.
Der Mittelweg
Wer hauptverantwortlich für das Scheitern der Ampel ist, lässt sich angesichts des heutigen Wissenstands der Öffentlichkeit wahrscheinlich (noch) nicht abschließend sagen. Jedoch entsteht durch die weitestgehend einhelligen Darstellungen von SPD und Grünen der Eindruck, dass vor allem die Liberalen das „Enfant terrible“ der Koalition waren.
Aber auch Scholz, der während seiner Zeit als Finanzminister als vehementer Verteidiger der schwarzen Null aufgetreten ist, hat sich während der Haushaltsverhandlungen wenig kompromissbereit gezeigt und die Sparpläne seines Finanzministers immer wieder unterstützt. Es sei nur an die Einzelgespräche für den Haushalt 2024 erinnert, in denen Lindner und Scholz sparunwillige Minister zusammen auf Linie gebracht haben.
Habecks Worte über seine Bemühungen, eine einvernehmliche Lösung für das Haushalt-Problem zu finden, erwecken den Eindruck, dass zumindest die Grünen konstruktive Lösungen für die Streitigkeiten angestrebt haben. Das kurz vor Koalitionsbruch erschiene Papier Update für die Wirtschaft – Impuls für eine Modernisierungsagenda des Grünen Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz konkretisiert diesen Eindruck. Denn es ist insbesondere für die wirtschaftspolitische Positionierung der Grünen zwischen Angebots- und Nachfragepolitik und damit auch der Nähe beziehungsweise Distanz zur FDP aufschlussreich.
Mit dem Anliegen im Impulspapier, „Strukturreformen und Investitionsimpulse“ zu verbinden, schien Habeck dem Gelben Koalitionspartner entgegen kommen zu wollen. Es liest sich wie ein Eingeständnis an liberale Angebotspolitik, wenn Habeck betont, dass „Strukturreformen“ notwendig seien, „sie aber das Land ebenso wenig allein nachhaltig nach vorne bringen wie eine isolierte Lockerung der Fiskalpolitik ohne weitere Reformen. Es braucht beides.“
Doch welcher wirtschaftspolitische Ansatz erhält mehr Gewicht und ist stringenter – Angebots- oder Nachfragepolitik? Will heißen: in welche Richtung wollte Habeck Lindner und zumindest teilweile auch Scholz stärker bewegen?
Angebotspolitische Buzzwords
Auf Seiten der Angebotspolitik fordert das Wirtschaftsministerium[1] eine „drastische Reduzierung der Datenschutzbürokratie“, um das „große Potenzial von Datenwissen für Innovation und Produktivität zu haben“. Auch an anderer Stelle betont das Habeck-Ministerium immer wieder die Wichtigkeit von Bürokratieabbau. Mit diesen Aussagen stellt sich das Ministerium auf die Seite einer angebotsorientierten Policy, die staatliche Eingriffe in Form von Anforderungen an „Papierkram“ begrenzen und den Unternehmen mehr Freiheiten in der Organisation von Betriebsabläufen gewähren soll.
In die gleiche Kerbe schlägt das Postulat von weniger Berichtspflichten – sowohl für deutsche Unternehmen als auch im europäischen Binnenmarkt – die staatliche Kontroll- und Einflussmöglichkeiten auf Unternehmen reduzieren würden. Stattdessen bräuchte es „mehr Eigenverantwortung bei der Einhaltung von Regeln und dann klare und konsequent durchgesetzte Sanktionen“.
Auch im Klimaschutz sind angebotsseitige Maßnahmen prägnant. Hier geht es vor allem um einen „klaren verlässlichen Rahmen“, wie er für ordnungspolitische Ansätze charakteristisch ist. Ludwig Erhards Leitsatz „je freier die Marktwirtschaft, desto sozialer ist sie“ folgend, versuchen Ordoliberale tendenziell den staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft bzw. den politischen Rahmen zugunsten einer vermeintlichen Maximierung gesellschaftlicher Wohlfahrt zu minimieren[2]. Wie weit Habecks Ministerium hier gehen möchte, bleibt unklar.
Außerdem klingt die Forderung nach einer Umsetzung „aller realistisch verfügbaren Technologieoptionen“ im Zusammenhang der Energiepolitik deutlich nach dem Credo der Technologieoffenheit, mit dem die FDP die Ablehnung des Verbrenner-Aus begründet. Und auch hier schimmert die angebotsseitige Schlagrichtung der Argumentation durch: Der unternehmerischen Innovationskraft wird zugetraut, alternative Energiequellen zu entwickeln, anstatt diese Grundlagenforschung (allein) dem Staat zu überantworten.
Eine konsistente Begründung der angebotsseitigen Maßnahmen findet sich in dem Paper jedoch nicht. Die Appelle an Bürokratieabbau, Eigenverantwortung, Ordnungspolitik und verklausulierter Technologieoffenheit stehen recht additiv nebeneinander: Das Ministerium reiht angebotspolitische „Buzzwords“ für mehr Markt und weniger Staat eher aneinander, als dass ein stringentes Konzept geliefert wird. Das bestärkt den Eindruck, dass das Wirtschaftsministerium angebotspolitische Floskeln aus dem Finanzministerium unreflektiert übernommen hat, um den Frieden in der Koalition zu wahren.
Kohärente Nachfragepolitik…
Geht es dem Wirtschaftsministerium um nachfrageseitige Impulse, ist im Papier der Deutschlandfonds zentral. Dieser soll mehr Investitionen und die Verbesserung der Infrastruktur ermöglichen. Dazu bräuchte es „eine zeitgemäße Anpassung der Fiskalregel“. Denn die Schuldenbremse sei „in ihrer jetzigen Form eine Investitions- und Wachstumsbremse“.
Eine Alternative sei ein sogenannter Deutschlandfonds, dessen erster Teil eine „unbürokratische Investitionsprämie“ ist. Die Bundesregierung solle alle Investitionen mit Ausnahme von Gebäudeinvestitionen mit einer Investitionsprämie von zehn Prozent für zunächst fünf Jahre fördern.
Das würde zwar zusätzliche öffentliche Schulden erfordern, die sich aber ausgleichen würden: Die Staatsverschuldung in Folge der Prämienzahlungen würde im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt lediglich „moderat“ ansteigen, denn die zusätzlichen Investitionen würden das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Makroökonomisch formuliert: Das Wirtschaftsministerium geht von einem investiven Fiskalmultiplikator auf das Wirtschaftswachstum von nahe eins aus.
Das Wirtschaftsministerium begründet die Vorteile der Investitionsprämie gegenüber generellen Unternehmungssteuersenkungen mit der Lenkungswirkung: Denn die Reduzierung der Steuern für Unternehmen würde ihre Investitionstätigkeit nicht unbedingt anreizen, weil alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie Investieren oder nicht, von den staatlichen Zuschüssen profitieren. Auch zusätzliches Sparen wäre trotz Steuersenkungen denkbar.
Diese Überlegung ist zwar richtig, aber immer noch zu kurz gedacht. Denn andersherum garantiert allein die Existenz von Investitionsprämien noch keine Investitionsnachfrage. Unternehmen müssen die Waren und Dienstleistungen auch absetzen können. Es braucht also zusätzliche Marktnachfrage, für die die Unternehmen gewinnversprechend produzieren können.
Plakativ gesprochen: Auch wenn Volkswagen den Kauf eines neuen Industrieroboters zur Autoproduktion vom Staat prämiert kommt, wird der Automobilhersteller in dieses Produktionsmittel nicht investieren, solange er erwartet, auf zusätzlich produzierten Wagen sitzenzubleiben. Und solche Überkapazitäten machen heute der deutsche Fahrzeugindustrie bereits aufgrund fehlender Binnen- und Exportnachfrage zu schaffen – fatal, handelt es sich doch um eine Schlüsselindustrie im deutschen Wachstumsmodell.
Deswegen muss man den zweiten Teil des Deutschlandfonds, der für Infrastruktur, Bildung und Digitalisierung vorgesehen ist, ergänzend zum ersten Teil der Investitionsprämie betrachten. Das Papier beziffert den Investitionsbedarf in diesem Bereich auf insgesamt circa 230 Milliarden Euro bis 2030: etwa 100 Milliarden für den Verkehr, insbesondere in Schiene und Straße, circa 70 Milliarden für Kita-, Schul- und Hochschulgebäude sowie etwa 60 Milliarden für Digitalisierung der Infrastruktur.
Das Wirtschaftsministerium plant also öffentliche Investitionen für Bereiche ein, die sich in öffentlicher Hand befinden, oder in denen der Staat Aufträge an Privatunternehmen vergibt. Allerdings würden privat dominierte Wirtschaftssektoren, an die der Staat keine oder nur wenige Aufträge vergibt, über konsumtive Multiplikatoreffekte ebenfalls von den steigenden Staatsausgaben profitieren. Denn die staatlichen und privaten Unternehmen zahlen die zusätzlichen Einkommen aus dem Deutschlandfonds an Lohnabhängige und Kapitaleigner aus. Diese verkonsumieren Teile des zusätzlichen Lohn- und Kapitaleinkommens, indem sie Autos etc. aus der Privatwirtschaft kaufen.
Indirekt würden also die Mehrausgaben für Bildung, Infrastruktur und Digitalisierung aus Teil zwei des Deutschlandfonds zusätzliche Konsumnachfrage generieren, die wiederum Investitionsnachfrage stimuliert, wie sie von der staatlichen Prämie aus Teil eins honoriert wird. Während Habecks Ministerium die Angebotspolitiken vor allem additiv darstellt, stehen Teil eins und Teil zwei der Nachfragepolitiken komplementär zueinander.
… mit Mängeln
Der nachfrageseitige Teil um den Deutschlandfonds ist also argumentativ stringenter und scheint daher mehr für die Überzeugungen von Habeck und seinem Ministerium zu stehen. Doch auch diese Argumentation hat Mängel, insbesondere was Umfang und Verhältnis von konsumtiven und investiven Ausgaben betrifft.
Erstens ist es fragwürdig, ob die investiven Ausgaben von circa 230 Milliarden Euro für Bildung, Verkehr und Digitalisierung ausreichen, um den nicht nur dem eklatanten Investitionsstau der öffentlichen Infrastruktur zu begegnen, sondern Deutschland auch zukunftsfest zu machen. Laut der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau lag allein der kommunale Investitionsstau 2024 bei 186,1 Milliarden Euro.
Und um nicht nur den vernachlässigten Investitionen zu begegnen, sondern auch um Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft mit Blick auf Klimaschutz und Klimaanpassung, Energie- und Verkehrswende, demografischen Wandel und Digitalisierung „zukunftsfähig zu machen“, bräuchte es laut einer gemeinsamen Studie des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und des unternehmernahen Instituts der deutschen Wirtschaft für 10 Jahre etwa 60 Milliarden Euro Investitionen jährlich. Das wären umgerechnet 300 Milliarden Euro bis 2030, also 70 Milliarden Euro mehr wie von Habecks Wirtschaftsministerium veranschlagt.
Zweitens ist es ein Problem, dass Habecks Ministerium allein investive Ausgaben fordert, aber für konsumtive Ausgaben keine zusätzlichen Gelder anmahnt. Zwar fragen Unternehmen bei einer staatlich geförderten und von Konsumnachfrage flankierten Investition zusätzliche Arbeitskräfte nach, aber öffentliche Institutionen tun dies nicht und kämpfen daher weiterhin mit potenziellen Personalmangel.
Heißt in der Praxis: Wenn der Staat beispielsweise zusätzliches Geld für die Renovierung von maroden Schulgebäuden bereitstellt (Investition), verbessert dies zwar die Qualität des Lehr- und Lernumfeldes, aber er begegnet damit noch nicht dem Lehrermangel. Dafür braucht es zusätzliche Personalausgaben (Konsum) und zwar – je nach Bereich – reichlich: Laut dem Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie fehlen bis 2035 an den allgemeinbildenden Schulen 155.000 bis 177.500 Lehrkräfte – zusätzlicher Personalbedarf wie nach Sozialarbeitern, Hausmeistern oder Putzkräften nicht einberechnet.
Nicht nur zwischen privaten und öffentlichen Bereich, sondern auch innerhalb des öffentlichen Bereichs muss man also Konsum- und Investitionsausgaben komplementär betrachten. Um letzteres bemüht sich Habecks Ministerium schlechterdings nicht.
Was ist noch von den Grünen zu erwarten?
Wie man heute weiß, war Habecks Kompromissbereitschaft vergeblich – vielleicht auch deshalb, weil der nachfrageseitige Teil des Papiers stringenter wirkt und medial ausführlicher diskutiert wird. Die asymmetrische Konzeption und öffentliche Rezeption des Papiers – insbesondere des Deutschlandfonds – stellt Habecks angebotspolitische Zugeständnisse nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern vor allem auch gegenüber der FDP in den Schatten. Zumindest bleiben positive Resonanzen aus dem Gelben Lager weitestgehend aus.
Sollte es noch irgendwelche Absichten aus Reihen der Regierungs-FDP gegeben haben, auch Habeck entgegenzukommen, hatten sich diese spätestens mit Linders „Wirtschaftswendepapier“ kurze Zeit später erledigt. In diesem besiegelte der Finanzminister seine Ablehnung für Habecks Vorschläge mit sozial-, finanz- und klimapolitischen Forderungen, die die Schmerzgrenze von SPD und Grünen entschieden überschritten. Mit diesem „Scheidungsbrief“ (Lukas Poths) brachte Lindner implizit zum Ausdruck, wie wenig er Habecks Entgegenkommen schätzte.
Ob Habeck eine zweite Chance bekommt und dann seine Vision eines Deutschlandfonds verwirklichen kann, bleibt bis zur Konstituierung einer neuen Regierung offen. Doch bei den derzeitigen Umfragewerten der Grünen besteht daran erheblicher Zweifel. Und selbst wenn Die Grünen wieder in die Regierung und dort in die Position kommen sollten, ein solches Vorhaben umsetzen zu können: Werden sie es auch tun?
Zur Erinnerung: Die Grünen haben sich nicht nur in der Ampel ihre Vorhaben oftmals entkernen oder sogar durchkreuzen lassen. Auch sind sie die Partei, die zusammen mit der SPD die stark angebotspolitisch geprägte Agenda 2010 durchgesetzt hat. Und heute haben die „Realos“, also der wirtschafts- und außenpolitisch rechtere Flügel der Grünen, gegenüber den linkeren „Fundis“ Oberwasser. CDU-Generalsekretär Linnemann hat bereits eine Agenda 2030 angekündigt. Ein möglicher Koalitionspartner?
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