Kommentar

Lobrede auf Joe Biden

| 09. November 2021

Der amerikanische Präsident wird von den deutschen Medien geschmäht. Links-Republikaner sollten dagegenhalten.

Die deutschen Medien sind seit Monaten sehr ungnädig mit US-Präsident Biden. Der Spiegel bezeichnet ihn als „gerupften Präsidenten“, die Tagesschau als „glücklosen Präsidenten“ und die FAZ prophezeit schon lange „Bidens erste große Krise“. Die sehr negative Presse steht in einem deutlichen Kontrast zu den jahrelangen Hymnen auf Ex-Präsident Obama (insbesondere bei den linksliberalen Presseorganen), obwohl diesem sowohl in Bezug auf die Außenpolitik noch in der Wirtschaftspolitik kaum etwas Progressives gelang.

Doch die negative Presse ist auch in der Sache nicht gerechtfertigt. Joe Biden hingegen hat in seiner kurzen Amtszeit schon mehr vorzuweisen als die anderen US-Präsidenten der letzten Jahrzehnte und hebt sich auch erfreulich vom Wirken der letzten deutschen Bundesregierungen ab.

Zukunftsweisende Investitionsprogramme

Gerade hat der amerikanische Kongress ein Infrastrukturinvestitionspaket mit einem Volumen von 1,1 Billionen US-Dollar für zehn Jahre verabschiedet. Das neue Paket addiert nochmals 550 Milliarden Dollar zu jenen 600 Milliarden, die ohnehin in dieser Dekade in die Infrastruktur investiert werden sollen. Zu den Bestandteilen des neuen Pakets gehören unter anderem 110 Milliarden Dollar für die Renovierung von Straßen, Brücken und Häfen, 39 Milliarden für den ÖPNV, 66 Milliarden für den Ausbau des Schienennetzes und 65 Milliarden für die Modernisierung der Strominfrastruktur. 7,5 Milliarden Dollar gehen in ein Netzwerk von Ladestationen für Elektroautos, weitere 7,5 in elektrische Schulbusflotten und elektrisch betriebene Fähren. Um das amerikanische Stromnetz für den Transport von regenerativen Energien zu stabilisieren, werden weitere 73 Milliarden investiert.

Neben diesen allgemein nutzbaren Investitionen richtet sich das Infrastrukturpaket auch gezielt an soziale Gruppen, die in den letzten Jahrzehnten sträflich vernachlässigt wurden. Dazu gehören beispielsweise 55 Milliarden für den Austausch von alten Bleirohrsystemen in der Trinkwasserversorgung (ein besonderes Problem beispielsweise in der überwiegend von Schwarzen bewohnten Stadt Flint), 65 Milliarden für eine bessere Internet-Infrastruktur in ländlichen Räumen und 21 Milliarden für Gemeinden mit verseuchten Böden. Bei mehreren dieser Maßnahmen ist im Gesetz festgelegt, dass Unternehmen mit einem hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad bevorzugt werden.

Wohlgemerkt, das ist ein zukunftsgerichtetes Investitionsprogramm, das zusätzlich zum bereits früher beschlossenen Paket von Corona-Hilfen („American Rescue Plan“, ca. 1,8 Billionen Dollar zur Verausgabung in 2021) verabschiedet wurde. Dieses Paket enthielt unter anderem Einmalzahlungen von 1400 Dollar für jedes Familienmitglied in Haushalten mit einem Jahreseinkommen unter 110.000 Dollar, weitere Zuschüsse für bedürftige Familien, Mieter und Arbeitslose sowie Kleinunternehmen.

Das neue Paket soll auch nicht das letzte Investitionspaket sein. Bereits in den kommenden zwei Wochen soll noch ein zweites Paket („Build Back Better“) mit einem Volumen von 1,75 Billionen Dollar und einem Schwerpunkt in den Bereichen Sozialleistungen (insbesondere vorschulische Bildung, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung) und Klimaschutz (555 Milliarden, etwa für regenerative Energien) verabschiedet werden. Finanziert werden soll dieses Paket insbesondere durch die Mindestbesteuerung von Unternehmen, höhere Steuern für Multimillionäre und eine bessere Ausstattung der Steuerbehörden.

Bidens Amtsvorgänger Obama und Trump hatten ebenfalls große Infrastrukturprogramme angekündigt, jene aber nie realisiert. Bidens Leistung ist umso eindrucksvoller, als es ihm gelang, das Programm in einer Situation noch weiter gestiegener politischer Polarisierung und mit hauchdünnen Mehrheiten in den beiden legislativen Kammern durchzusetzen.

Die amerikanische Regierung legt vor – mit jenen öffentlichen Investitionen, die unabdingbar sind für eine langfristige Minderung des Klimawandels und den langfristigen Ausgleich sozialer Ungleichheit. Es sind Investitionen, die auch in Deutschland seit Jahrzehnten vernachlässigt werden, aufgrund einer Fixierung auf den Export. Sie widmet das Infrastrukturpaket explizit jenen Amerikanern, die sich nach sicheren und gut bezahlten ‚Blue Collar‘-Arbeitsplätzen sehnen – und sich in ihrer Verzweiflung über den Wegfall dieser Jobs zunehmend dem Rechtspopulismus zugewendet hatten: „Für alle daheim, die sich in einer Wirtschaft, die sich so schnell verändert, zurückgelassen und vergessen fühlen: Dieses Gesetz ist für euch“, so Biden nach Verabschiedung des Pakets.

Nicht nur öffentliche Investitionen

Ebenfalls erfreulich ist, dass Biden das amerikanische Abenteuer in Afghanistan beendet hat, wiederum im deutlichen Gegensatz zur Obama-Administration. Auch hier waren viele deutsche Medien nicht zufrieden und hätten sich eine Fortsetzung der kriegerischen Auseinandersetzungen gewünscht, die ein amerikanisches Abweichen von dem von Präsident Trump ausgehandelten Abzugsabkommen zweifellos hervorgerufen hätte.

Auch in der Migrationspolitik stehen die deutschen Medien Präsident Biden skeptisch gegenüber. Kritisiert wird hier, dass er die Südgrenze der USA nicht einfach gegenüber der Wirtschaftsmigration aus Mittelamerika öffnet – obwohl die Anzahl der Menschen, die sich auf den Weg in die USA machen, auf Rekordhöhe liegt und sich viele Amerikaner berechtigte Sorgen über die Auswirkungen auf den amerikanischen Arbeitsmarkt für Niedrigqualifizierte machen.

Ignoriert werden zudem viele andere progressive Wendungen der US-Regierung während der neuen Präsidentschaft. Unter Präsident Biden sind die USA wieder der intergouvernementalen Kooperation zur Verhinderung eines tiefgreifenden Klimawandels beigetreten, versuchen neue Öl- und Gaserkundungen zu stoppen, verurteilen die Ausweitung des israelischen Siedlungsbaus im Westjordanland und stellen sich gegen das de-facto Verbot von Abtreibungen durch den Bundesstaat Texas. Auch in der Regulierung droht Biden durch die Einsetzung von Rohit Chopra als Chef des „Consumer Financial Protection Bureaus“ der Finanzbranche mit härteren Restriktionen und stärkt die Wettbewerbspolitik im Kampf gegen Monopole und Kartelle.

Im Kampf gegen die Pandemie zeichnete sich die Regierung nicht nur durch den Versuch aus, strenge Impf- oder Testpflichten in der Wirtschaft durchzusetzen, sondern auch durch ihre Zustimmung zur Aufhebung des Patentschutzes für Corona-Impfstoffe (welcher dann durch die Bundesregierung torpediert wurde).

Natürlich ist nicht alles perfekt. Auch unter Biden wird die Konfrontation mit China fortgesetzt – die allerdings auf einem breiten Konsens des außenpolitischen Establishments in den USA beruht. Auch unter Biden liegen die amerikanischen Rüstungsausgaben auf einer absurden Höhe. Auch unter Biden wird die amerikanische Wirtschaft noch von Großkonzernen aus der IT-Branche und von Prozessen der Finanzialisierung dominiert – letztere mit verheerenden Folgen für die Gesellschaft, wie in der Pandemie einmal mehr durch das Wirken von Private Equity im US-Gesundheitssektor deutlich wurde.

Sollte es den Demokraten gelingen, bei den Wahlen im nächsten Jahr gut abzuschneiden, bleiben also noch genug Optionen für weitere progressive Reformen, auch in einer zweiten Präsidentschaftsperiode. Bidens Umfragewerte haben sich seit der Wahl um ca. 15 Prozentpunkte verschlechtert, aber dieser Rückgang hatte bei Obama, Clinton und Reagan (sogar ohne Pandemie) dasselbe Volumen – und alle wurden wiedergewählt. Sorgen machen muss man sich allerdings um die aktuellen Manipulationen der Republikaner in Bezug auf den Wahlprozess, etwa beim Zuschneiden von Wahlkreisen.

Biden als Feindbild der Liberalen

Man kann nur spekulieren, warum die positive Bilanz von Joe Biden in den deutschen Leitmedien so wenig gewürdigt wird. Wahrscheinlich nimmt man ihm nachhaltig übel, dass er den globalen Feldzug für die Verbreitung des Liberalismus abgewürgt hat und sich nun auf die Wahrnehmung amerikanischer Anliegen konzentriert. Große öffentliche Ausgabenprogramme sind aus der Sicht der in Deutschland dominierenden Ideologie des Exportismus zudem hochgradig suspekt, genauso wie die Vergabe öffentlicher Aufträge an Unternehmen mit einem hohen Gewerkschaftsgrad.

Aus links-republikanischer Perspektive ist das Wirken Bidens bisher aber überwiegend sehr erfreulich. Lösungen für globale Probleme wie dem Klimawandel sind nur dann möglich, wenn wir die Souveränität jener Länder respektieren, deren Kooperation wir benötigen und darauf verzichten, ihnen unser Gesellschaftsmodell aufzudrängen. Diese Lösungen sind auch nur dann realistisch, wenn wir durch erhebliche öffentliche Investitionen dafür sorgen, dass diejenigen, die durch den wirtschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte Sorgen haben, den Anschluss zu verlieren und sich dem Rechtspopulismus zuwenden, wieder eine feste wirtschaftliche Perspektive gewinnen.