INTERNATIONALE POLITIK - 4

Der Tunnelblick der Bellizisten

| 23. November 2022

„Gerechte Krieger“ pflegten ein bellizistisches Paradigma, so der pragmatische Pazifismus: Die Tendenz zur Dämonisierung der Gegenseite, die Blindheit für friedliche Strategien der Konfliktbeilegung und die Unterschätzung von Risiken einer unkontrollierten Eskalation.

Im letzten Artikel hat Sophie Lukas in die Lehre vom gerechten Krieg eingeführt. Heute bespricht sie mit ihm den pragmatischen Pazifismus.

„Kann man den Terror von 9/11 ohne militärische Gegengewalt hinnehmen? Kann man die Vertreibung und Ermordung der Kosovo-Albaner geschehen lassen, ohne mit militärischen Mitteln einzugreifen? Kann man angesichts der russischen Aggression tatenlos zusehen, wie eine hilflose Ukraine unterworfen wird? Diese Fragen hat der Philosoph Michael Walzer alle mit „Nein“ beantwortet – und die militärische Reaktion auf die Gewalt als ‚gerechten Krieg‘ eingestuft.

Ganz anders der pragmatische Pazifismus: Aus dieser Sicht sind friedliche Mittel fast immer vorzuziehen. Der Grund ist nicht, dass militärische Mittel generell unmoralisch wären, sondern weil friedliche Mittel der insgesamt bessere Weg sind.“

„Was machen die Kriegsbefürworter dann falsch?“

„Sie sehen die Welt mit einer fragwürdigen Brille.“

„Was ist damit gemeint?“

„Schauen wir uns dazu eine kleine Geschichte aus einem ganz anderen Bereich an: Peter bringt schlechte Noten nach Hause, worüber sich dessen Vater sehr ärgert, der an sich und andere äußerst hohe Leistungsanforderungen stellt. Er beginnt Peter mit großer Härte zum Lernen zu treiben. Der Erfolg stellt sich ein und Peter macht Karriere. Durch den Erfolg sieht der Vater sich bestätigt: Es war richtig, wie er gehandelt hat. Ist sein Urteil unangreifbar?“

„Nein. Das kann man auch anders sehen.“

„Offensichtlich. Denn einmal hängt das Urteil von Werten ab: Für Peters Vater bedeutet Leistung alles. Andere würden Glück und eine unbeschwerte Jugend viel höher einschätzen. Vielleicht ist Peter trotz seines Erfolgs durch seinen Vater zu einem frustrierten Workaholic geworden. Doch das Leistungsdenken zu hinterfragen ist Peters Vater gänzlich unmöglich. Außerdem lässt sich fragen, ob der Erfolg nicht auch anders als mit großer Härte hätte erreicht werden können: Durch das Wecken von Leidenschaft und Begeisterung. Aber für Peters Vater hat die Vergangenheit eine Art von Unausweichlichkeit angenommen: Anders wäre der Erfolg nicht möglich gewesen.“

„Was hat das mit Krieg zu tun?“

„Folgt man dem amerikanischen Historiker und Pazifisten Howard Zinn, verhält es sich mit der westlichen Öffentlichkeit häufig ähnlich wie mit Peters Vater: Krieg wird mit einem Set von Werten verteidigt, die zu hinterfragen man sich sehr schwer tut. In den USA gebe es Kriege, die als unantastbar gelten und geradezu den Status heiliger Kriege angenommen haben.“

„Da würde mich ein Beispiel interessieren.“

„Einer dieser Kriege sei der Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien. Die amerikanischen Kolonien wurden von England unterdrückt und der Sieg über England gilt als die Geburtsstunde der Vereinigten Staaten, die sich daraufhin die erste demokratische Verfassung gegeben haben.“

„Warum sollte man einen Wert wie Demokratie als Kriegsgrund hinterfragen?“

Abstrakte Begriffe sind kein gerechter Grund

„Weil das ein abstrakter Begriff ist, den man auf das Leben konkreter Menschen herunterbrechen muss. Wie hat sich das Leben der Menschen durch den Krieg verändert? Zinn schätzt die amerikanischen Todesopfer auf ungefähr 25.000 bis 50.000 Menschen. Der Verlust für die Gesellschaft insgesamt würde heute einer Größenordnung von 2,5 Millionen Menschen entsprechen. Zinn betont, dass man dies allzu leicht als Statistik hinnimmt, doch um die Kosten des Krieges wirklich ermessen zu können, müssten wir jedes einzelne Schicksal, jeden Toten und jeden Invaliden, betrachten und in die Beurteilung des Krieges einbeziehen.

Und wessen Leben hat der Krieg letztendlich verbessert? Das Leben der Indianer? Sicherlich nicht, für sie stellte die amerikanische Unabhängigkeit eine Verschlechterung dar. Denn England hatte die Eroberung der indianischen Gebiete westlich einer geographischen Linie untersagt. Nach dem Krieg fiel diese Linie und die Vernichtung indianischer Völker wurde bis an die Westküste fortgesetzt. Den Sklaven? Die Sklaverei wurde nach dem Krieg nicht etwa abgeschafft, sondern das Recht zur Sklaverei in der Verfassung festgeschrieben. Den einfachen Bauern? Die Gründerväter hatten große Schwierigkeiten mit der Rekrutierung von Soldaten. Der Krieg ging keineswegs aus einer gemeinschaftlichen Bewegung der gesamten Bevölkerung hervor. Während dem Krieg wurden die einfachen Soldaten so schlecht bezahlt, dass es große Meutereien gab, auf die Washington teilweise mit Erschießungen reagierte.

Um die Armee auszuheben, war auch damals Propaganda das geeignete Mittel: Die Gründerväter versprachen eine Verfassung, in denen das Recht auf Leben und Freiheit und das Streben nach Glück im Mittelpunkt stehen sollten. Wie Zinn ausführt, ging es den Gründervätern nach ihrem Sieg in ihrer Verfassung tatsächlich aber viel mehr um den Schutz ihres Eigentums als um diese Ideale. Krieg wurde seitdem zu einem beinahe ununterbrochen genutzten Mittel der amerikanischen Außenpolitik.“

„Aber was ist, wenn es bei dem Krieg gerade darum geht, Terror, Vertreibung oder gar Völkermord zu verhindern?“

„Zwischen Krieg und Passivität liegen tausende Möglichkeiten“

„Auch in solchen Fällen hat der pragmatische Pazifist und Philosophieprofessor Olaf L. Müller bei den Vertretern der Lehre vom gerechten Krieg Werte diagnostiziert, die die Entscheidung für militärische Mittel befördern. Dazu gehöre, dass man eine militärische Lösung zu schnell als alternativlos einstuft. Dieses Problem sieht der neuseeländische Politologe Frank Jackson auch in der Theorie der Internationalen Beziehungen: Friedlichen Mitteln der Konfliktlösung werde in der Forschung eine vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit gezollt, obwohl es inzwischen vielfältige Belege für deren Wirksamkeit gebe.

Die pessimistische Einschätzung friedlicher Mittel gilt nach Zinn auch für den Rückblick auf vergangene Kriege. War der Krieg erfolgreich, erhält die Geschichte wie bei Peters Vater einen Charakter von Unausweichlichkeit: Anders wären die Ziele nicht zu erreichen gewesen.

Was den Unabhängigkeitskrieg betrifft, verweist Zinn auf die Geschichte Kanadas. Kanada erreichte seine Unabhängigkeit von England ohne Krieg und seine Gesellschaftsordnung ist sicherlich nicht weniger demokratisch als die der USA. Noch weniger bekannt ist, dass es ein Jahr vor dem Unabhängigkeitskrieg in Western Massachusetts friedliche Demonstrationen tausender Bauern gegen die britische Verwaltung gab, die erfolgreich waren und zu deren Rückzug führten.

Der Verzicht auf Krieg bedeutet also keine Passivität. Zinn hält vielmehr fest: Zwischen Krieg und Passivität liegen tausende Möglichkeiten. Zu der kriegsaffinen Haltung gehört nach Müller aber auch ein pessimistisches Menschenbild, die Tendenz zur Dämonisierung der Gegenseite.“

Mit der Dämonisierung in die Irrationalität

„Was bedeutet das?“

„Zu dem Urteil neigen, dass jemand in höchstem Maße böse, grausam, zynisch und menschenverachtend ist. Ein Monster oder gar die Inkarnation des Bösen selbst.“

„Was ist das Problem daran? Gerichte stellen doch manchmal eine besondere Schwere von Schuld  fest.“

„Wenn eine politische Macht das Leben von Menschen bedroht, ist es wichtig, sie realistisch einzuschätzen. Schauen wir uns dazu aber ein weniger umstrittenes Beispiel als Krieg an: Ein Geiselnehmer hat sich in einem Haus mit dreißig Geiseln verschanzt. Jetzt kommt es darauf an, verschiedene Strategien gegeneinander abzuwägen und die Reaktion des Geiselnehmers darauf möglichst gut einzuschätzen. Welche Informationen liefert dafür das Urteil, der Geiselnehmer sei ‚ein Monster‘? Zunächst einmal lässt sich daraus nicht entnehmen, welche Ziele dieses Monster verfolgt. Ist er ein eiskalter Killer, der für Geld zu allem bereit ist, ein Gekränkter, der in eine Racheorgie verfallen ist oder ein skrupelloser Sadist?

Für die Strategie der Polizei macht dies einen bedeutenden Unterschied. Und die Aufgabe von Kriminalpsychologen ist es, sich in den Täter hineinzuversetzen und sein Handeln zu verstehen. Sie suchen nach dem Menschen hinter der Grausamkeit, mit dem man einen möglichst gewaltfreien Ausgang erreichen kann.

Der pragmatische Pazifist hält nach Müller beharrlich an diesem Vorgehen fest – ohne dabei in Naivität zu verfallen. Der Kriegsbefürworter ist hingegen schneller mit dem Urteil zur Hand, dass in der Gegenseite keine Menschlichkeit mehr zu erkennen ist, sie nur noch aus Gier, Hass oder Sadismus handelt und jeder friedliche Ausweg eine Illusion ist.

Ins Irrationale driftet die Dämonisierung nicht zuletzt ab, wenn die Gegenseite zu einer Art metaphysisch Bösem, ja zum Bösen selbst überhöht wird. Denn dadurch gerät die reale Welt und die konkreten Folgen von Krieg für die betroffenen Menschen aus dem Blick. Um das Böse selbst zu besiegen, scheint fast kein Opfer zu groß, selbst wenn das Weltende auf dem Spielt steht.

Auch im Westen lässt sich eine solch religiös anmutende Rhetorik immer wieder diagnostizieren. Darüber hinaus wird die Welt dadurch in Schwarz und Weiß eingeteilt: Wenn das Böse in der Gegenseite inkarniert ist, dann muss man selbst zu den Guten gehören. Man kann den Balken im eigenen Auge nicht mehr erkennen. Und vielleicht ist gerade dieser Balken ein Motiv für das Handeln der Gegenseite, das man nicht mehr verstehen kann und ihr folglich reine Bösartigkeit unterstellt. Man sieht sozusagen das Gewehr in der eigenen Hand nicht mehr und wundert sich, warum jemand ausrastet.

Wenn es aber um Schwarz und Weiß geht, sind die diejenigen, die nicht so weit gehen, die die Gegenseite ‚verstehen’ wollen, nicht mehr tragbar. Eine solche Reaktion würde der Polizei aber offensichtlich nicht weiterhelfen. Einen Kriminalpsychologen, der noch eine Spur Menschlichkeit erkennt, der man auf kluge Weise begegnen kann, als „Geiselnehmerversteher“ zu verurteilen, wäre verantwortungslos. Denn eine Überschätzung seiner Gewaltbereitschaft kann genauso fatal sein wie eine Unterschätzung – und darum muss der Versuch, zu verstehen, berechtigt bleiben. Das dritte Element in der Haltung der Kriegsbefürworter ist laut pragmatischem Pazifismus, die Risiken einer unkontrollierten Eskalation zu unterschätzen.“

„Was hat es damit auf sich?“

Das Risiko einer unkontrollierten Eskalation

„Viele Kriege haben sich ganz anderes entwickelt als erwartet. Wie vor dem Ersten Weltkrieg hat man oft auf einen schnellen Sieg gesetzt und dann artete der Krieg in ein jahrelanges Gemetzel aus. Auch die Entstehung des Islamischen Staates beispielsweise als Folge des Irakkriegs hatte die amerikanische Führung nicht vorausgesehen. Der Afghanistankrieg endete nach zwanzig Jahren, ohne dass die Taliban besiegt werden konnten. Besonders schwer wiegt das Risiko eines Weltkriegs und einer nuklearen Eskalation. Und so verflochten wie die Welt ist, muss man das Risiko ernst nehmen, dass ein Krieg sich auf Großmächte ausweitet, auch wenn das nicht ummittelbar sichtbar ist. Dies hat Müller an Hand verschiedener Beispiele verdeutlicht:

Mitten im Kosovo-Krieg entschied das russische Parlament, Serbien mit Weißrussland zum Partner einer politischen Union zu machen, wodurch der Krieg der NATO gegen Serbien auch als Krieg gegen Russland eingeordnet werden konnte. Im weiteren Verlauf standen NATO-Truppen unerwartet russischen Truppen gegenüber, die ohne Absprache den Flughafen der kosovarischen Hauptstadt eingenommen hatten.

Was den Ukrainekrieg betrifft, hat Müller im Zusammenhang mit der Zerstörung des russischen Flaggschiffs „Moskwa“ darauf aufmerksam gemacht, dass Margaret Thatcher im Falklandkrieg nach der Zerstörung eines britischen Kriegsschiffs mit dem Einsatz von Atomwaffen drohte. Das wurde als Rhetorik abgetan, aber es ist belegt, dass der französische Präsident Mitterand nach einem Telefonat mit Thatcher zu dem Schluss kam, dass ihr das zuzutrauen war.“

„Es mag sein, dass Pazifisten eine größere Zahl solcher Zusammenhänge aufdecken. Aber nehmen wir an, ein Kriegsbefürworter und ein pragmatischer Pazifist hätten genau die gleichen Fakten auf dem Tisch. Auch der Kriegsbefürworter will ja keinen unverhältnismäßigen Krieg. Müssten die beiden auf Grund der Fakten nicht zum selben Ergebnis kommen?“

„Dem würde Müller nicht zustimmen. Die Interpretation der Fakten ist nicht eindeutig. Sie lassen es zu, Chancen und Risiken unterschiedlich einzuschätzen. Dabei spielen nach Müller gerade die genannten Werte eine entscheidende Rolle. Ob man ein optimistischeres oder ein pessimistischeres Menschenbild hat, ob man friedliche Mittel als mehr oder weniger erfolgversprechend einstuft und ob man in Bezug auf eine unkontrollierte Eskalation vorsichtiger oder weniger vorsichtig ist. Aus diesen normativen Grundsätzen folgen unterschiedliche Einschätzungen einer Krise.

Die Grundsätze selbst lassen sich Müller zur Folge wiederum nicht empirisch begründen. Das bedeutet aber nicht, dass die Entscheidung zwischen beiden Paradigmen dem Wurf einer Münze gleichkommt. Müller sieht im pazifistischen Paradigma wesentliche Vorteile: Die optimistischere Haltung des pragmatischen Pazifisten ist nicht naiv, sondern erfordert eine ausdauernde, intellektuell anspruchsvolle und kreative Suche nach friedlichen Mitteln. Der Kriegsbefürworter hingegen, der sich auf die militärische Logik konzentriert, verengt seinen Blick und kommt nicht umhin, sich ein Mindestmaß an Härte und Gnadenlosigkeit anzutrainieren.“

„Was lässt sich an dieser Position kritisieren?“

Kritik

„Kriegsbefürworter werden argumentieren, dass die Position des pragmatischen Pazifisten naiv ist. Der Philosoph Holger Baumann hingegen hat hervorgehoben, dass sich Kriegsbefürworter und pragmatischer Pazifist immer näher kommen, je genauer sie die Fakten betrachten. Der Philosoph Uwe Steinhoff hat westliche Kriege im Orient wie Müller abgelehnt, allerdings nicht auf Grund eines Pazifismus, sondern weil er die Kriterien des gerechten Kriegs nicht für erfüllt hielt.

Für eine Aufnahme von Verhandlungen im Ukraine-Krieg haben Realisten argumentiert, die internationale Konflikte aus der Sicherheitsarchitektur des internationalen Staatssystems erklären und keine Pazifisten sind.

Aus der Sicht des radikalen Pazifismus geht Müller wiederum nicht weit genug, weil er in extremen Fällen – wie dem Zweiten Weltkrieg – Krieg für legitim hält.“

Der nächste Artikel behandelt den radikalen Pazifismus.