JAKOB ERKLÄRT LUKAS WIRTSCHAFT - 1

Märkte sind effizient - die Neoklassik

| 27. Oktober 2020
istock.com/Scott O'Neill

Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.

Ein Dialog zwischen dem Schüler Lukas und dem Philosophen Jakob. Lukas fragt, wie es sein kann, dass sein Großvater nach einem langen Arbeitsleben in einem reichen Land wie Deutschland so wenig Rente bekommt. Jakob begrüßt das sehr: Es gebe kaum ein wichtigeres Thema in der Bildung als die Volkswirtschaftslehre.

»Warum ist die Volkswirtschaftslehre so wichtig?«

»Weil es dabei um Leben und Tod geht.«

»In der Volkswirtschaftslehre?«

»Oh ja! Manchmal geht es sogar um das Leben von Millionen. Das gilt natürlich besonders für arme Länder. China wollte Mitte des letzten Jahrhunderts seine Wirtschaft mit großen Reformen voranbringen. Diese Reformen hießen bezeichnenderweise ›Der große Sprung‹. Sie führten jedoch aus der Sicht vieler Historiker in eine große Hungersnot, denn die Landwirtschaft wurde stark vernachlässigt. 30 Millionen Menschen starben.«

»Schrecklich.«

»Aber leider nicht der einzige Fall einer solchen Katastrophe. Folgt man dem Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, sah es in Indien nicht besser aus. Er schätze in einer 1989 erschienen Studie, dass in Indien etwa alle acht Jahre mehr Menschen umkommen als während des ›großen Sprungs‹. Der Grund ist auch hier eine mangelhafte Wirtschaftspolitik.«

»Das ist furchtbar. Zum Glück kann bei uns so etwas nicht mehr passieren.«

»Auch in reicheren Ländern kann eine falsche Wirtschaftspolitik katastrophale Auswirkungen haben. Nach dem ersten Weltkrieg wurde im französischen Versailles ein großer Friedensvertrag ausgehandelt. Deutschland, das den Krieg verloren hatte, sollte sehr hohe Reparationszahlungen leisten. Zu den britischen Vertretern der Verhandlungen gehörte der später bedeutende Ökonom John Maynard Keynes. Er trat jedoch enttäuscht von den Verhandlungen zurück. Die hohen Reparationszahlungen, befürchtete er, würden Deutschland in eine schwere wirtschaftliche und politische Krise führen. Er schrieb daraufhin einen Bestseller, in dem er vor einem erneuten Krieg warnte, vor dem ›die Schrecken des vergangenen Deutschen Krieges verblassen würden.‹ Welche Katastrophe der Zweite Weltkrieg bedeutete, ist dir bekannt. Diese Beispiele zeigen: Wirtschaftspolitische Entscheidungen können schwerwiegende Auswirkungen haben. Für das materielle Überleben, für den sozialen Frieden und selbst für den Weltfrieden. Die Wahl der richtigen Wirtschaftspolitik ist ohne Zweifel eine Frage größter Verantwortung. Auch der Kampf gegen den Klimawandel kann nur mit einer klugen Wirtschaftspolitik erfolgreich sein.«

»Aber kann uns die heutige Wissenschaft denn nicht klar sagen, was die richtige Wirtschaftspolitik ist?«

»Leider nein. In der Volkswirtschaftslehre gibt es viele Theorieschulen. Deren Antworten weichen teilweise stark voneinander ab. Auch dann, wenn viel auf dem Spiel steht und ein Land in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt.«

»Kannst du mir das an einem Beispiel verdeutlichen?«

»2007 brach eine große Finanzkrise aus, die Millionen von Menschen in die Arbeitslosigkeit stürzte. Diese Krise wirkte sich auf viele Länder aus, unter ihnen Griechenland. Wie sollte Griechenland seine wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommen? Hier ist eine Liste mit den Antworten zweier wichtiger Theorieschulen: Die Neoklassik und der Postkeynesianismus.«

Abbildung 1

»Das könnte in der Tat kaum gegensätzlicher sein.«

»Man kann sich beim Thema Wirtschaft also nicht damit herausreden, dass es letztlich keinen großen Unterschied macht, welche Partei man wählt. Denn auch Parteien hängen zumeist einer bestimmten Wirtschaftspolitik an. Du solltest also die Grundgedanken verschiedener Theorien kennen. Sie zu verstehen ist nicht schwer. Allerdings kostet es eine gewisse Zeit, sie anschaulich zu machen. Deshalb mache ich dir folgenden Vorschlag: Wir konzentrieren uns auf zwei Theorien, die im 20. Jahrhundert im Westen die größte Bedeutung hatten: Die Neoklassik und die Lehre von John Maynard Keynes, von dem Du bereits gehört hast. Das wird dich mit dem ökonomischen Denken näher vertraut machen. Am Ende gebe ich Dir dann einen Überblick über Grundgedanken anderer Theorien. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

»Wir beginnen mit der Neoklassik. Die Neoklassik entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wie das ›Neo‹ im Namen Neoklassik andeutet, geht sie auf die Klassik zurück. Die Klassik wurde unter anderem von Adam Smith begründet, von dem Du bestimmt schon gehört hast.«

»Wir haben in Sozialkunde über ihn gesprochen. Er verteidigte die freie Marktwirtschaft.«

»Wie sehr er das wirklich getan hat, darauf werden wir noch zurückkommen. Auf viele Neoklassiker trifft das aber zu: sie glauben an die Überlegenheit freier Märkte. Die Neoklassik ist die heute am weitesten verbreitete Theorieschule der Wirtschaftswissenschaft. Es gibt viele Varianten neoklassischer Theorien. Da Du dich für Frage interessierst, warum viele Menschen in einem reichen Land so wenig haben, konzentrieren wir uns auf typisch neoklassische Argumente, die gegen einen großen Sozialstaat vorgebracht werden. Diese Argumente finden sich auch in den gebräuchlichsten Lehrbüchern, die Studenten an den Universitäten verwenden. Der größte Bestseller unter den Lehrbüchern ist Mankiws ›Grundzüge der Volkswirtschaftslehre‹, auf das ich deshalb manchmal hinweise. Darauf werden wir uns weitgehend beschränken müssen.«

»O.K.«

»Ich beginne die Beschreibung der Neoklassik mit einer kleinen Geschichte. Die Geschichte enthält eine verbreitete Vorstellung über die neoklassische Ökonomie. Wie wir gleich sehen werden, ist die Geschichte jedoch sehr ungenau.«

»Dann lass hören!«

»Michael ist Bauer und möchte sein Gemüse auf dem Markt in einer kleinen Stadt anbieten. Der Markt wird jedoch von Bauer Andreas beansprucht. Er besitzt das alleinige Recht auf dem Markt zu handeln. Darüber ist nicht nur Michael verärgert, auch die Bewohner der Stadt beschweren sich über Andreas: Sein Gemüse ist viel zu teuer und auch die Qualität lässt sehr zu wünschen übrig. Michael führt eine Klage gegen die Stadt und hat Erfolg: Der Markt wird für andere Bauern geöffnet. Die Konkurrenz zwingt Andreas, aber auch alle anderen Bauern dazu, ihre Preise zu senken und die Qualität ihrer Produkte zu verbessern. Michael und die Bürger der Stadt freuen sich. Optimal ist das Ergebnis aber immer noch nicht. Michael könnte nämlich noch mehr Gemüse anbieten, ihm fehlen jedoch Arbeiter. Es gibt zwar Arbeitslose, die er einstellen könnte, leider existiert aber ein Mindestlohn, der viel zu hoch liegt. Mit diesem Mindestlohn müsste er sein Gemüse unter dem Produktionspreis anbieten. Glücklicherweise kommt eine Partei an die Macht, die so denkt wie er. Sie schafft den Mindestlohn ab. Er stellt die Arbeitslosen ein und kann bald mehr Kartoffeln anbieten. Das ist nicht nur gut für ihn, sondern auch für die Arbeitslosen und die Kunden – alle sind zufrieden. Was ist die Moral von der Geschichte?«

»Die Konkurrenz zwingt die Bauern, ihre Preise zu senken und die Qualität zu verbessern. Damit ihnen nicht die Kunden weglaufen, müssen sie auf deren Wünsche achten. Angebot und Nachfrage passen sich einander an. Der Wohlstand vergrößert sich. Wenn der Staat sich einmischt und Mindestlöhne einführt, führt das zu schlechteren Ergebnissen. Man sollte den Markt deshalb sich selbst überlassen.«

»Richtig. Das ist eine weit verbreitete ›Moral‹ freier Märkte. Der freie Markt tendiert zu einem Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Wenn sich das Gleichgewicht eingestellt hat, werden die vorhandenen Ressourcen optimal genutzt. Die Vorstellung von Gleichgewichten stammt übrigens aus der Naturphilosophie bzw. Naturwissenschaft. Ein Beispiel wäre das Gleichgewicht in einem Ökosystem wie dem Wald. Die Wölfe verhindern, dass es zu viele Rehe gibt. Zu viele Rehe würden den Wald schädigen, weil sie junge Bäume anfressen. Wird in solch ein Gleichgewichtssystem eingegriffen, werden alle Wölfe getötet, leidet die Natur darunter. Am besten also, man überlässt die Kräfte der Natur sich selbst. Verteidiger freier Märkte sprechen häufig ähnlich: am besten man überlässt die Wirtschaft den Kräften des Markts.«

»Aber wie kann man denn begründen, dass der Markt zu einem Gleichgewicht tendiert? In den Marktwirtschaften treten ja immer wieder Krisen auf, es gibt Arbeitslosigkeit und Verschwendung von Lebensmitteln.«

»In der Neoklassik wird dies durch ein mathematisches Modell bewiesen.«

»Und wie kann man einen Markt mit lebendigen Menschen in einem mathematischen Modell darstellen?«

»Es funktioniert ähnlich wie bei einem Computerspiel mit Charakteren wie Rittern, Elfen oder Zwergen. Man muss vorher genau festlegen, welche Eigenschaften die Charaktere haben. In einem solchen Computerspiel muss man ebenfalls genau festlegen, welche Eigenschaften die Welt hat, ob es Häuser, Berge und Wälder gibt und ob die Charaktere sie verändern können. Auch in dem neoklassischen Modell wird genau bestimmt, welche Eigenschaften Menschen haben, die im Markt handeln. Auch Eigenschaften des Markts werden festgelegt. Unter diesen Voraussetzungen kann man tatsächlich beweisen, dass ein Gleichgewicht existiert, in dem die Ressourcen optimal genutzt werden. Diese Voraussetzungen sind speziell und auch unrealistisch ‒ was neoklassische Ökonomen im Allgemeinen nicht bestreiten. Wie Du gleich sehen wirst, müssen wir die Geschichte von Michael noch einmal ziemlich umschreiben. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, spricht man vom vollkommenen Markt. Bevor wir uns den vollkommenen Markt näher ansehen, sollten wir uns aber das Ziel der gesamten Geschichte vor Augen halten: die optimale Nutzung von Ressourcen. Was würde für Dich in der Wirtschaft denn ›optimal‹ bedeuten?«

Abbildung 2

Optimal statt gerecht

 »Ich finde, die Geringverdiener und Rentner sollten auf jeden Fall einen fairen Anteil vom Kuchen abbekommen.«

»Dann müsste der Markt automatisch zu einer gerechten Verteilung führen. Neoklassiker wollen aber Fragen der Ethik aus der Wissenschaft heraushalten. Da sie die mathematische Methode bevorzugen, muss ›optimal‹ auch etwas bedeuten, dass sich mathematisch ausdrücken lässt. Der ›optimale‹ Zustand hat für sie deshalb einen ganz speziellen Sinn: Optimal bedeutet für sie ein Zustand, in dem niemand mehr besser gestellt werden kann, ohne einen anderen schlechter zu stellen. Das ist das berühmte Pareto-Optimum, das der Ökonom Vilfredo Pareto beschrieben hat.«

»Und wie kann man jemanden besser stellen ohne einen anderen schlechter zu stellen?«

»Durch eine Reallokation der Ressourcen.«

»Ich verstehe nur Bahnhof.«

»Stelle Dir vor, Deine Familie fährt in den Urlaub und packt das Auto mit jeder Menge Gepäck: Koffern, Taschen, Schuhen, Tennisschlägern, usw. Dann stellt Ihr fest, dass Ihr so nicht alles in das Auto reinbekommt. Ihr holt die Sachen wieder raus und versucht das Auto platzsparender zu packen. Das wäre eine optimalere Reallokation des Gepäcks. Bei Paretos Bedeutung von ›optimal‹ ist es ähnlich: Man geht von einer bestimmten Ausstattung der Wirtschaft aus: Einer Ausstattung an natürlichen Rohstoffen, Bildung, Technologie usw. Auch die Wirtschaft kann man mit dieser Ausstattung sozusagen auf verschiedene Weise ›packen‹. Wird der freie Markt durch den Staat oder ein Monopol beeinträchtigt, werden die Ressourcen ungünstig genutzt. Es könnte Verschwendung und Arbeitslosigkeit geben. Die bestmögliche Form der Nutzung bringt der freie Markt hervor. Allerdings darf dabei niemand schlechter gestellt werden. Das Pareto-Optimum beinhaltet also nicht die Korrektur einer hohen Ungleichheit durch Besteuerung der Reichen. Denn das würde ja bedeuten, jemandem etwas wegzunehmen und ihn schlechter zu stellen. Der vollkommene Markt garantiert also keine gerechte Verteilung, sondern eine optimale Nutzung von Ressourcen bei einer gegebenen Verteilung. Soviel zur Bedeutung von ›optimal‹ in der Neoklassik.«

»Dann wären Neoklassiker also eher gegen Steuern?«

»Viele prominente Neoklassiker sind skeptisch, durch Steuern für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Ein wichtiges Argument dabei sind Anreize. Die Unternehmer brauchen Anreize, um sich anzustrengen. ›Leistung muss sich lohnen‹ ist ein häufig genanntes Schlagwort. Steuererhöhungen zugunsten eines größeren Sozialstaats sind demnach fragwürdig. Auf der anderen Seite brauchen die Angestellten Anreize, um zu arbeiten. Bietet der Sozialstaat zu große Sicherheiten, ist das Arbeitslosengeld zu hoch, fehlt der Antrieb, sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Das sind bereits Argumente gegen einen größeren Sozialstaat. Wir werden später noch weitere kennen lernen. Jetzt schauen wir uns aber die Voraussetzungen genauer an, die der vollkommene Markt besitzen muss, damit sich ein Gleichgewicht einstellt, mit dem die Ressourcen optimal genutzt werden.«

 »Gerne.« 

Abbildung 3

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buchprojekt »Thinking for Future«, das die politische Philosophie und angrenzende Sozialwissenschaften thematisiert.