Die BRICS auf den Spuren von Keynes
Liebe Leserinnen und Leser,
in den Sozialwissenschaften gehört es fast schon zum guten Ton, den Globalen Norden für die Ausbeutung des Globalen Südens zu kritisieren. Doch auch ganz ohne Moralisierung – die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd konfrontieren die Schuldner-Staaten mit großen Herausforderungen:
Wie Indermit Gill, Chefvolkswirt und Senior Vice President für Entwicklungsökonomie bei der Weltbank auf MAKROSKOP schreibt, haben seit 2022 private Gläubiger aus dem Ausland den Kreditnehmern des öffentlichen Sektors von Entwicklungsländern fast 141 Milliarden US-Dollar mehr an Schuldendienstzahlungen abgenommen, als sie an neuen Finanzmitteln ausgezahlt haben.
Das ist ein Problem, weil der US-Dollar für die Schuldnerstaaten des Globalen Südens eine Fremdwährung ist, die ihre Zentralbanken nicht selbst erzeugen kann. Um trotzdem ihre Schulden zu begleichen, müssen sie in US-Dollar denominierte Waren und Dienstleistungen exportieren. Gill warnt: Der Schuldendienst führt bei vielen Entwicklungsländern zu einer verheerenden „Umverteilung von Ressourcen aus Bereichen, die für langfristiges Wachstum und Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind, etwa Gesundheit und Bildung.“
Gemeinhin werden diese globalen Disparitäten als ungerecht empfunden – auch im Westen. Aber allein an den guten Willen der privaten Geldgeber zu appellieren und einen „Schuldenerlass“ wie Gill zu fordern, ist angesichts des Eigennutzes der Gläubiger nicht viel versprechend. Es bräuchte vielmehr eine schlagkräftige Internationale Organisation, die Interessen des Globalen Südens artikuliert. Aber welche soll das sein? Am ehesten kämen die Vereinten Nationen in Frage – gäbe es nicht den Sicherheitsrat, durch den westliche Staaten mit einem Veto solche Initiativen im Keim ersticken können. Und auch wenn es gelänge, einen Schuldenerlass zu verabschieden: Welche Instanz würde ihn durchsetzen?
Nicht verwunderlich also, dass sich Organisationen abseits der westlichen Hegemonie formieren, die alternative währungspolitische Wege jenseits des US-Dollars gehen möchten. Die prominenteste Organisation sind wohl die BRICS-Staaten – ein Zusammenschluss aus Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und seit 2024 auch Iran, Ägypten, Äthiopien und die Vereinigten Arabischen Emirate –, die mit dem Gedanken einer BRICS-Währung spielen.
Zwar sorgt Indiens klare Absage auf dem jüngsten Gipfeltreffen in Kasan vorerst für eine Beerdigung des Projekts für eine gemeinsame Währung. Doch fordern die Schwellenländer nach wie vor den Dollar heraus: Eine lange Liste an Vorschlägen in der Deklaration von Kasan gleicht einem „Experimentierkasten“ für die Umgehung des Dollars, so unsere Autorin Ulrike Simon: „Eine Getreidebörse; BRICS-Bridge, ein Verfahren zur Abwicklung von Handelsgeschäften über digitale Zentralbankwährungen; BRICS-Pay, eine Zahlkarte; oder eine BRICS-Versicherungsgesellschaft.“
Besonders Brisant: mit dem BRICS-Pay ist auch eine Einrichtung vorgesehen, die an John Maynard Keynes Clearing Union und seinen Bancor erinnert. Der Bancor ist eine Verrechnungseinheit, in die laut Keynes die nationalen Währungen nach einem festgelegten Wechselkurs umgerechnet werden sollten. Um die Mitgliedsstaaten zu einer ausgeglichenen Handelsbilanz zu zwingen, sollten nicht nur die Schulden, sondern auch die Guthaben eines Landes bei der Clearingstelle mit Strafzinsen belegt werden.
Die BRICS sind also auf den Spuren des großen englischen Ökonomen. Gelingt es ihnen so, die Dollar-Hegemonie zu durchbrechen?
Diese und weitere Artikel lesen Sie in unserer neuen Ausgabe:
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