Hyman Minsky und die MMT (Teil 1)
Der US-Ökonom Hyman Minsky hat wesentliche Elemente der „Modern Monetary Theory“ vorweggenommen. Seine Erkenntnisse sind nach wie vor wichtig für die Formulierung einer Alternative zur herrschenden ökonomischen Lehre.
In ihrem neuen Buch Modern Monetary Theory – Bill and Warren’s Excellent Adventure überraschen die Autoren William Mitchell und Warren Mosler mit einer starken Relativierung der Relevanz des US-amerikanischen Ökonomen Hyman Minsky, der nicht wenigen als einer der Wegbereiter der „Modern Monetary Theory“ (MMT) gilt: „ […] es ist schwierig, irgendeinen schlüssigen und konsistenten Weg von der Arbeit Hyman Minskys zu dem, was wir MMT nennen, ausfindig zu machen“ (S. 110; diese und alle folgenden Übersetzungen durch mich, G.G.).
Mitchell/Mosler werfen Minsky vor allem vor, im Laufe der Zeit den „functional finance“-Ansatz Abba Lerners[1] aufgegeben und sich zu einer „Defizit-Taube“[2] und schließlich zu einem Befürworter „der reinen Grundsätze solider Finanzen“ (S. 116) gewandelt zu haben. Dass dies so nicht stimmt, hat erst kürzlich Randall Wray in dem Beitrag „Why Hyman Minsky matters for Modern Money Theory“ im gemeinsam mit Yeva Nersisyan herausgegebenen Sammelband The Elgar Companion to Modern Money Theory gezeigt. Hier wird deshalb anders verfahren. Statt einer Kritik der Kritik an Minsky erfolgt eine Darstellung wichtiger theoretischer Beiträge des US-Ökonomen, die später als grundlegende Komponenten in die „Modern Monetary Theory“ eingeflossen sind und die generell für die Formulierung einer tragfähigen Alternative zur herrschenden (neoklassischen) Lehre von großer Bedeutung sind.
Dazu zählen die Erkenntnisse, dass Steuern eine Nachfrage nach der Währung des Staates schaffen; dass Banken keine reinen Finanzintermediäre sind, die Geld wieder ausleihen, das sie vorher erhalten haben; dass und warum das Investieren dem Sparen vorausgehen muss und dass ein souveräner Staat beziehungsweise seine Regierung nicht in der eigenen Währung pleitegehen kann.
Darüber hinaus zeigte Minsky die Interdependenzen zwischen den volkswirtschaftlichen Sektoren auf und entwickelte seine einflussreiche „Hypothese der finanziellen Instabilität“, die sich gut mit der MMT verbinden lässt. Auch wies er mit Recht darauf hin, dass es bei den Staatsausgaben nicht nur auf deren Höhe, sondern auch auf deren Art beziehungsweise Zusammensetzung ankommt – ein Problem, das auch in der MMT häufig zu geringe Beachtung findet. In Teil 1 und Teil 2 dieses Beitrages soll auf die genannten Punkte näher eingegangen werden.
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Klaus Diekmann | 19. November 2024
Die Akzeptanz des Geldes
Beginnen wir mit dem Geld als Basis einer monetären Produktionswirtschaft. Wenn Geld nicht gegen Edelmetalle wie Gold und Silber getauscht werden kann, warum sollte dann jemand die Währung eines Staates akzeptieren? Die Antwort der MMT lautet: Der Staat kann die Verwendung seiner Währung zur Erfüllung der von ihm auferlegten Steuerpflichten erzwingen. Aus diesem Grund sind weder Edelmetallreserven noch Zahlungsmittelgesetze notwendig, um die Akzeptanz der staatlichen Währung zu gewährleisten. Alles, was erforderlich ist, ist die Auferlegung einer Steuerschuld, die in der Währung des Staates zu zahlen ist.
Diese Ansicht findet sich bereits bei Minsky. Für ihn ist zunächst einmal nichts Besonderes oder Ungewöhnliches am Geld an sich. Er drückt dies so aus: „Jeder kann Geld schaffen; das Problem ist, dass es akzeptiert wird“ (Minsky 1986, S. 228). Wie aber erlangt es diese Akzeptanz? Nach Minsky „verleiht die Tatsache, dass Steuern gezahlt werden müssen, dem Geld der Volkswirtschaft einen Wert. [...] die Notwendigkeit, Steuern zu zahlen, bedeutet, dass die Menschen arbeiten und produzieren, um das zu erhalten, womit Steuern gezahlt werden können“ (Minsky 1986, S. 231).
Die Funktionsweise von Banken
Geld wird entweder von Zentralbanken oder von Geschäftsbanken herausgegeben. Zentralbanken besitzen das Monopol auf die Schaffung von Zentralbankgeld – Einlagen bei der Zentralbank und Bargeld –, während die Geschäftsbanken Giralgeld quasi „aus dem Nichts“ erzeugen, indem sie bei der Kreditvergabe auf der Aktivseite ihrer Bilanz eine Forderung (Kreditvertrag) und auf der Passivseite eine betragsmäßig gleich hohe Verbindlichkeit (Sichteinlage auf dem Girokonto) gegenüber ihren jeweiligen Kunden verbuchen. Geschäftsbanken sind also Geldproduzenten und nicht etwa bloße Finanzintermediäre, die die Ersparnisse privater Haushalte oder Unternehmen einsammeln und als Kredite an andere Unternehmen oder Haushalte sowie den Staat weiterreichen.
Die Geschäftsbanken benötigen Zentralbankgeld (in Form von Reserven) unter anderem für den Zahlungsausgleich untereinander, da sie das Giralgeld anderer Banken nicht als Zahlungsmittel akzeptieren. Allerdings werden zum Zahlungsausgleich nur Reserven gebraucht, wenn beim Zahlungsverkehr zwischen den Banken negative resp. positive Salden entstehen, wenn also über einen bestimmten Zeitraum eine Bank in der Summe mehr an Überweisungen an eine andere Bank vornimmt als die andere in umgekehrter Richtung. Die beiden Banken ermitteln dann die Differenz im Zahlungsverkehr und gleichen nur diese über ihre Reservekonten bei der Zentralbank aus.
Minsky hatte dies bereits im Jahr 1960 in seinem Beitrag The Pure Theory of Banking korrekt beschrieben:
„Eine Geschäftsbank gewährt einen Kredit, indem sie dem Kreditnehmer den Kreditbetrag als Sichteinlage gutschreibt, und sie investiert, indem sie entweder dem Verkäufer des Wertpapiers den Kaufbetrag als Sichteinlage gutschreibt oder einen Scheck auf sich selbst zugunsten des Verkäufers des Wertpapiers ausstellt. Die Bank geht davon aus, dass der Kreditnehmer oder der Verkäufer des Wertpapiers, dem eine Einlage gutgeschrieben wird, seine Einlage sehr bald nach ihrer Entstehung verwenden wird. Dies führt dazu, dass Schecks auf die initiierende Bank gezogen werden.
In einem Bankensystem mit vielen Banken – wie dem amerikanischen Bankensystem – wird erwartet, dass Schecks, die auf eine bestimmte Bank gezogen werden, bei einer anderen Bank eingereicht werden. Die Bank, auf die der Scheck gezogen wird, muss der Bank, bei der der Scheck eingereicht wird, den Nennwert des Schecks zahlen. Diese Zahlung erfolgt durch den Transfer von Zentralbankgeld. In einer aktiven Handelsgemeinschaft entstehen unter den Banken gegeneinander aufrechenbare Ansprüche auf Zahlungen. Die Banken richten vernünftigerweise eine Verrechnungsregelung ein, so dass nur die Differenz zwischen Zahlungen von einer Bank und Zahlungen an die Bank in Form von Zentralbankgeld ausgeglichen wird“ (S. 1).
Banken sind keine einfachen Geldverleiher
Die Banken leihen also nichts aus, was sie besitzen, das heißt, sie erlauben ihren Kunden nicht, vorübergehend einen Teil der Bank-Vermögenswerte zu nutzen. Sie greifen auch nicht auf „das Geld anderer“ zurück, verwenden mithin nicht das Geld beziehungsweise die Bankkonten ihrer Kunden, um Kredite zu gewähren – wie es die Banken-Intermediations-Theorie behauptet. Diese Theorie ignoriert, dass Bankeinlagen für eine Bank aus einer bilanziellen Perspektive Verbindlichkeiten darstellen, die in der Bankbilanz auf der Passivseite verbucht werden. Wie sollte da eine Kreditvergabe als Finanzintermediär buchungstechnisch ablaufen? Die Bank kann ja nicht einfach entsprechende Umbuchungen auf den Bankkonten ihrer Kunden vornehmen, also beispielsweise ihre Verbindlichkeiten (Bankeinlagen) gegenüber dem Kunden A reduzieren und die entsprechende Summe als Kredit auf das Konto des Kunden B übertragen.
Letztendlich unterstellt die Intermediations-Theorie, dass sich moderne Geschäftsbanken nicht von einfachen Geldverleihern unterscheiden. Dass diese Gleichsetzung falsch ist, hatte Minsky klar erkannt:
„Banken sind gerade deshalb so wichtig, weil sie nicht unter der Restriktion eines Geldverleihers arbeiten – Banken müssen kein Geld zur Verfügung haben, um Geld verleihen zu können“ (Minsky 1986, S. 249; vgl. auch Minsky 1975, S. 154).
Daraus folgt:
„Geld wird erzeugt, wenn Banken Kredite vergeben – hauptsächlich an Unternehmen – und Geld wird vernichtet, wenn Kreditnehmer ihre Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Banken erfüllen“ (Minsky 1982, S. xx).
Investitionen und Ersparnis
Nach Marc Lavoie, einem der international führenden Post-Keynesianer, ist es die von den Investitionen zu den Ersparnissen laufende Kausalität, „die Post-Keynesianer als ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zwischen ihren Theorien und dem neoklassischen Ansatz betrachten“ (S. 160). Die MMT teilt diese Auffassung: „Investitionen schaffen Ersparnisse“ konstatieren Mitchell, Wray und Watts in ihrem Lehrbuch Macroeconomics (S. 331).
Ersparnis fällt nicht vom Himmel. Ersparnis bedeutet die Nichtverwendung von Einkommensteilen zum Konsum. Folglich kann Ersparnis so lange nicht entstehen, bis die Ausgaben das Einkommen geschaffen haben, aus dem gespart werden kann. Mit anderen Worten: Die Ersparnis ist das Endergebnis des ökonomischen Prozesses und nicht der Anfang. Einkommen ermöglicht Ersparnis, aber auf makroökonomischer Ebene erzeugen Ausgaben Einkommen und somit erzeugen Ausgaben auch Ersparnis.
Diese umgekehrte makroökonomische Kausalität – dass mehr Investitionsausgaben zu mehr Ersparnis führen und nicht andersherum – steht in einem engen Zusammenhang mit unserer monetären Produktionswirtschaft, in der Banken Kredite geben können, ohne dazu vorherige Bankeinlagen zu benötigen. Es ist die Verfügbarkeit von Geldmitteln über die Einkommen hinaus – und gänzlich unabhängig von der Ersparnis –, die die Investitionen zu einer autonomen Variablen im System werden lässt, die primär durch die unternehmerischen Erwartungen beeinflusst wird. Kurzum: Die Investoren – und nicht die Sparer – bestimmen den Lauf der Dinge.
Dass es gesamtwirtschaftlich schon aus Gründen der Logik keinen Ansparprozess im Vorfeld der Investitionen geben kann, wusste bereits Keynes (vgl. Keynes 1939, S. 572), aber es war Hyman Minsky, der bereits zu Beginn der 1960er Jahre am klarsten dargestellt hat, warum in einer monetären Marktwirtschaft das Investieren dem Sparen vorausgeht. Minsky wies darauf hin, dass die Finanzmärkte eine fortwährend steigende gesamtwirtschaftliche Nachfrage erzeugen müssen, wenn das Einkommen wachsen soll. Er fuhr fort:
„Damit die reale Gesamtnachfrage steigen kann […], ist es erforderlich, dass die gegenwärtig geplanten Ausgaben, summiert über alle Wirtschaftssektoren, größer sind als die gegenwärtig erhaltenen Einnahmen und dass ein Marktmechanismus (market technique) existiert, der es ermöglicht, dass die Gesamtausgaben, die über die gesamten erwarteten Einnahmen hinausgehen, finanziert werden können“ (Minsky 1963, S. 104).
Dieser von Minsky genannte Marktmechanismus, der Ausgaben über die gegenwärtigen Einnahmen hinaus erlaubt, ist der Geldschöpfungsprozess der Banken. Nur die Banken sind in der Lage, zusätzliche Investitionen via Kreditgeldschöpfung, d.h. durch Kredite „aus dem Nichts“, zu finanzieren. Bankkredite ermöglichen Investitionen, die den Kapitalstock vergrößern und gleichzeitig die gegenwärtigen Einkommen erhöhen[3]; diese mit den Investitionsprozessen einhergehende Einkommensbildung – also die Steigerung des gesamtwirtschaftlichen Einkommens – führt dann wiederum zu Ersparnis (da das Sparen von der Höhe des Volkseinkommens abhängt). Ersparnis wird durch Einkommen erzeugt und Einkommen wird durch Kredite finanziert, folglich kann die Ersparnis nicht vor dem Kredit existieren.
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[1] Dieser Ansatz besagt, dass die Fiskalpolitik nicht danach beurteilt werden sollte, was in herkömmlicher Sicht als „solide“ oder „unsolide“ gilt, sondern nur danach, welche Wirkungen die fiskalischen Maßnahmen auf die Volkswirtschaft ausüben. Der Staat solle allein dafür Sorge tragen (durch eine Erhöhung oder Senkung seiner eigenen Ausgaben oder durch entsprechende Steuerreduzierungen bzw. –anhebungen), dass die Gesamtausgaben in der Volkswirtschaft weder zu gering noch zu hoch seien, so dass es weder zu Arbeitslosigkeit noch zu Inflation komme (vgl. Lerner 1943).
[2] „Defizit-Falken“ (deficit hawks) wollen ausgeglichene Haushalte oder sogar Haushaltsüberschüsse; „Defizit-Tauben“ (deficit doves) akzeptieren Haushaltsdefizite in der Rezession, wollen diese aber durch Überschüsse im Aufschwung ausgleichen. „Defizit-Eulen“ (deficit owls) hingegen übernehmen den „functional finance“-Ansatz (die Terminologie geht auf Stephanie Kelton zurück).
[3] Die erhöhten Investitionsausgaben beleben die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und die Kapitaleigner reagieren darauf mit einer Ausweitung der Produktion. Dies führt zu steigenden Lohn- und Gehaltszahlungen und einer dadurch induzierten höheren Konsumgüternachfrage, was wiederum auf den Ausgabenstrom zurückwirkt und weitere Produktion und Einkommen schafft.
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