Ignoranz und Glaubenssätze: Die FAZ zur Reform der Krankenkassen
Die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung müsse auf neue Füße gestellt werden, fordert die FAZ. Sie präsentiert abgedroschene Vorschläge, die komplett an den Problemen unseres Gesundheitswesens vorbeigehen.
„Die Kassenfinanzen brauchen eine große OP“, so betitelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) einen großen Artikel ihres für die Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zuständigen Redakteurs Christian Geinitz am 6. Dezember. Dieser Feststellung kann man nicht widersprechen. Die Krankenkassen werden zum Jahresbeginn 2025 ihre Beiträge um durchschnittlich etwa einen Prozentpunkt anheben müssen, ihre Ausgaben laufen aus dem Ruder.
Nun sind überproportional zum Einkommen wachsende Gesundheitsausgaben an sich ein normaler Vorgang. Ärztliche Behandlungen und pflegerische Betreuung sind hochqualifizierte Dienstleistungen, die weit weniger gut rationalisierbar sind als die Produktion von Konsumgütern. Daher geben wir seit Jahrzehnten immer mehr für diese Leistungen aus, bei gleichzeitig relativ zum Haushaltsbudget sinkenden Ausgaben für Lebensmittel und Gebrauchsgüter. Der US-Ökonom William Baumol hat diesen Prozess anhand eines Vergleichs der Preisentwicklung für medizinische Leistungen und Computer dargestellt.
Das gilt für alle Gesundheitssysteme. In Deutschland kommen gravierende Effektivitäts-und Effizienzmängel hinzu, die unser Gesundheitswesen deutlich teurer machen als das in vergleichbaren Ländern wie den Niederlanden, Frankreich oder Schweden.
Dazu gehört zum einen das duale System von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung (GKV, PKV), in dem für zehn Prozent der Bevölkerung als privat Versicherten für die gleichen Leistungen ein Drittel mehr ausgegeben wird als für Kassenpatienten. Vor allem aber sorgt ein kostspieliges Gemisch aus Unter- und Überversorgung für sehr hohe Ausgaben, die mit einer organisierten Nicht-Verantwortung für die Abläufe in der medizinischen Versorgung zusammenhängen.
Organisierte Nicht-Verantwortung
Es gibt keine effektive sektorübergreifende Steuerung der medizinischen Versorgung. Die ambulante Versorgung wird auf Landesebene von den Krankenkassenverbänden und den Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder gesteuert, die Regierungen und Parlamente der Länder haben darauf so gut wie keinen Einfluss. In ihrer Verantwortung liegt nur die stationäre Versorgung. Die Länder planen die Krankenhausstandorte mit ihrem Versorgungsangebot verantwortlich und tragen die Investitionskosten.
Der Bund gestaltet über das Sozialgesetzbuch V (SGB V) die von der GKV zu bezahlenden stationären Leistungen und deren Vergütung. Darauf haben die Länder meist nur über die Durchführungsverordnungen Einfluss, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen.
Diese sektorale Steuerung der medizinischen Versorgung führt zu ineffektiven und zu teuren Behandlungsabläufen. Jährlich werden circa fünf Millionen Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern behandelt, die eigentlich ambulant versorgt werden könnten. Zwar gibt es im SGB V Regelungen zur ambulanten Behandlung der GKV-Versicherten in Krankenhäusern, aber die sind sehr kompliziert und für die Kliniken oft unattraktiv. Die für dieses Problem in Lauterbachs Krankenhausreformgesetz vorgesehenen Regelungen sind auch für Fachleute unverständlich und müssten komplett neu gefasst werden, um praktische Bedeutung zu bekommen.
Aber diese gravierenden Strukturprobleme des Gesundheitswesens interessieren die FAZ offenbar nicht. Für sie liegt der Schlüssel zur Reform des GKV-Systems in der Abschaffung der lohnbezogenen solidarischen Beitragsfinanzierung. Sie gebe Anreize zur Überinanspruchnahme von Leistungen und schade der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft mit überdurchschnittlich hohen Sozialabgaben, die den Arbeitnehmern immer weniger Netto vom Brutto übrigließen. Demnach sind also nicht die ineffektiven Strukturen unseres Gesundheitswesens das Problem, sondern eine überzogene Anspruchshaltung der Patientinnen und Patienten.
Faktenverdrehungen zur Bürgerversicherung
Die FAZ bekämpft seit jeher ein einheitliches Krankenversicherungssystem, auch „Bürgerversicherung“ genannt, obwohl sich das herrschende duale System von GKV und PKV ökonomisch nicht begründen lässt, wie sogar der Wirtschafts-Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 2004/2005 feststellte. In dem Artikel vom 6. Dezember 2024 begegnet die FAZ dieser empirisch fundierten These mit fadenscheinigen Argumenten.
Ein solches einheitliches Krankenversicherungssystem werde zwar die Kasseneinnahmen zunächst erhöhen. Es gebe aber Zweifel, „ob sich angesichts der ungünstigen Demographie und steigender Ansprüche die Beiträge langfristig stabilisieren lassen.“ Diesen Anspruch kann aber wegen der oben angesprochenen Tatsache, dass das Gesundheitswesen als personalintensive Dienstleistungsbranche per se überdurchschnittlich hohe Kostensteigerungen hat, kein Krankenversicherungssystem erfüllen.
Die FAZ setzt noch ein weiteres unsinniges Argument gegen eine Erweiterung der Finanzierungsbasis der GKV drauf. Der Vorschlag, die Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze in der GKV auf das in der Rentenversicherung geltende Niveau anzuheben, „würde die Betriebe und Angestellte finanziell stark fordern. Das wäre in der mauen Konjunktur unvorteilhaft, würde den Faktor Arbeit verteuern und die Standortattraktivität schmälern.“
Das ist keine steile These mehr, das ist kompletter Unsinn. Modellrechnungen vom IGES-Institut haben ergeben, dass der durchschnittliche Beitragssatz um über drei Prozentpunkte sinken würde, wenn wir ein einheitliches Krankenversicherungssystem und eine Beitragsbemessungsgrenze wie in der Rentenversicherung hätten. Gerade wenn man die Sozialabgaben als Standortfaktor betrachtet, müsste man daher eigentlich für die Bürgerkrankenversicherung eintreten.
Sicher hätte ein solches System Beitragssatzerhöhungen für Personen mit einem über der Beitragsbemessungsgrenze von 66.150 Euro pro Jahr (ab 2025) liegenden sozialversicherungspflichtigen Einkommen zur Folge. Aber damit würden ihre Belastungen nur denen der unteren und mittleren Einkommen angepasst. Die gegenwärtige Regelung hat den äußerst fragwürdigen Effekt, dass der reale Beitragssatz für freiwillig Versicherte mit einem über der Beitragsmessungsgrenze von 5.512 Euro liegenden versicherungspflichtigen Einkommen mit dessen Wachstum sinkt.
Wer zum Beispiel 10.000 Euro im Monat verdient, zahlt als freiwillig in der GKV versicherte Person nur einen halb so hohen Beitragssatz wie die unter der Beitragsbemessungsgrenze von 5.512 Euro verdienenden Versicherten. Für diese Subventionierung von Besserverdienenden gibt es keine ökonomische oder sozialpolitische Begründung.
Kopfpauschale: eine politische Leiche
Die gesundheitsökonomische Ignoranz der FAZ zeigt sich auch bei ihren Vorschlägen zur Reform der GKV-Finanzierung. Die beschränken sich auf zwei zu Lasten der Versicherten gehende Maßnahmen. Zum einen soll die lohnbezogene Finanzierung der GKV auf Kopfpauschalen umgestellt werden, d.h. alle versicherten Personen zahlen einen einheitlichen Betrag. Außerdem könnten die Krankenkassen durch erhöhte Zuzahlungen der Patientinnen und Patienten entlastet werden und so auch Investitionsmittel generiert werden.
Mit der Kopfpauschale buddelt die FAZ eine schon zweimal beerdigte politische Leiche wieder aus. Sie wurde 2003 von Teilen der von der von der rot-grünen Koalition eingesetzten „Rürup-Kommission“ und der von der CDU/CSU berufenen „Herzog-Kommission“ favorisiert.[1] Diese in der Schweiz und den Niederlanden geltende Finanzierung der Krankenversicherung, von der Herzog-Kommission damals auch „Bürgerprämie“ genannt, sieht einen einheitlichen Euro-Betrag für alle versicherten Personen vor, wobei der Sozialausgleich und die Kinderversicherung aus dem Staatshaushalt finanziert werden sollen.
Dieses von der damaligen Kanzlerkandidatin der Union Angela Merkel befürwortete Konzept hätte nicht nur einen enormen bürokratischen Aufwand für den Sozialausgleich mit sich gebracht. Es hätte nach damaligen Schätzungen den Bundeshaushalt mit etwa 17 Milliarden Euro belastet, was ohne Steuererhöhungen kaum zu finanzieren gewesen wäre. Daraufhin wurde das Projekt von der Union ad acta gelegt, schon weil sie zugleich im Wahlkampf 2005 Steuersenkungen versprach.
2009 wollte der FDP-Gesundheitsminister Philipp Rösler in der schwarz-gelben Koalition dieses Konzept reaktivieren, konnte aber auch kein belastbares Finanzierungsmodell vorlegen. Die Kopfpauschale wurde nach einem heftigen, mit Invektiven angereicherten koalitionsinternen Streit („Gurkentruppe“, „Wildsäue“) von der politischen Agenda gestrichen und gilt seither als tot und begraben.
Strukturreformen kosten Geld
Das bestätigt in dem FAZ-Artikel der Gesundheitsökonom Wolfgang Greiner (Uni Bielefeld), der betont, dass es eher darum gehen müsse, das bestehende System effizienter zu machen. Aber die dafür nötigen Schritte wie die Krankenhausreform, die Digitalisierung und die Ambulantisierung der Versorgung erforderten hohe öffentliche Investitionen, die ohne eine Lockerung der Schuldenbremse nicht zu realisieren seien.
Da die aber zurzeit politisch schwer durchzusetzen sei, müsse man auch über erhöhte Zuzahlungen nachdenken. So könne man zum Beispiel die seit über 20 Jahren konstante Selbstbeteiligung bei Krankenhausbehandlung von 10 Euro auf 20 Euro verdoppeln, in der Notaufnahme noch stärker. Außerdem sollte es in den Arztpraxen „eine Kontaktgebühr für jede Konsultation geben, abgefedert durch Sozial- und Chronikerklauseln“.
Meint Wolfgang Greiner das wirklich ernst? Mal abgesehen davon, dass mit diesem Abkassieren bei Patientinnen und Patienten auch nicht annähernd genug Geld für die notwendigen Investitionen im Gesundheitswesen zusammenkommen würde, sind erhöhte Selbstbeteiligungen ein grundsätzlich falscher Reformansatz in einem Wirtschaftszweig, in dem der Leistungsumfang wesentlich vom Versorgungsanbot, d.h. den Arztpraxen und Krankenhäusern bestimmt werden. Im Gesundheitswesen gibt es keine Konsumentensouveränität.
Darauf haben schon vor 60 Jahren der Pate der Public-Choice-Lehre Kenneth Arrow und der Soziologe Talcott Parsons hingewiesen. Die Behauptung, man könne die Strukturprobleme unseres Gesundheitswesens über erhöhte Zuzahlungen der GKV-Mitglieder lösen, gleicht der Vorstellung, die in Schieflage geratene Stahl- und Automobilindustrie durch Preiserhöhungen wieder auf Kurs bringen zu können.
Man kann es drehen und wenden wir man will: Unser Gesundheitswesen kann nur durch eine Erweiterung der Finanzierungsbasis, den Aufbau integrierter Versorgungsformen und öffentliche Investitionen eine effektive und bezahlbare medizinische und pflegerische Betreuung aller Bürgerinnen und Bürger sicherstellen.
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