Editorial

Figuren der Krise

| 22. Dezember 2020
istock.com/Petar Jovanovic

Figuren der Krise

Liebe Leserinnen und Leser,

Krisen schaffen nicht nur Herausforderungen, sie bringen auch Figuren hervor, die sich ihnen stellen. Wir haben für Sie eine kleine Auswahl.

Helden

Ursula von der Leyen: Sie ist äußerst wandlungsfähig. In Rekordzeit ist die CDU-Politikerin 2019 von der undankbaren Rolle der deutschen Verteidigungsministerin in das schillernde Kostüm der europäischen Kommissionspräsidentin geschlüpft, weiß Eric Bonse. Kaum in Brüssel angekommen, gab sie die zu allem entschlossene Klimaretterin. Ein Jahr später hat sie schon wieder eine neue, »historische« Hauptrolle gefunden: Die studierte Medizinerin ist nun die oberste Gesundheits- und Impfbeauftragte in Europa.

»Dies ist Europas Moment«, rief von der Leyen begeistert aus, nachdem die deutsche Bundesregierung bei der Europäischen Arzneimittelagentur in Amsterdam auf den Tisch gehauen hatte, um eine frühere Zulassung des neuen Corona-Impfstoffes von Biontech und Pfizer zu erwirken.

Ihre schwarzgrüne Show kommt zwar an, doch Erfolge lassen auf sich warten. Von der Leyen hat sich auf der Brüsseler Bühne zwar eine Hauptrolle gesichert - ob sie aber zur gefeierten Retterin wird oder als tragische Heldin endet, bleibt abzuwarten.

Gewinner

Die EU: Das erste, so Wolfgang Streeck, was man über Brüssel wissen muss, ist, dass dort nichts so ist, wie es scheint, und dass man alles auf unterschiedlichste Weise darstellen kann. Eingebettet in einen institutionellen Rahmen, genannt »die Verträge«, ist das Spiel so kompliziert, dass es kein Außenstehender versteht.

Und obendrein gibt es ein tief verwurzeltes, stillschweigendes Verständnis unter den Mitgliedern jenes exklusiven und geheimen Gremiums, des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs, wonach es die Pflicht eines jeden von ihnen ist, dafür zu sorgen, dass keiner von ihnen als Verlierer nach Hause zurückkehren muss, damit alle auch weiterhin gewillt sind, das Spiel weiter zu spielen.

Bestes Beispiel Ursula von der Leyens Projekt des Corona-Wiederaufbau-Solidaritäts-Fonds. Der hat nichts mit Corona zu tun und alles mit der Rettung der italienischen Regierung vor Signor Salvini. Das zweite, dass er auch nichts mit europäischer Solidarität zu tun hat: Jedes Land bekommt etwas und niemand zahlt etwas, da der Fonds durch Schulden und nur durch Schulden finanziert wird – eine supranationale Erweiterung des Schuldenstaates (Schulden statt Steuern). Entscheidend ist nur – alle Beteiligten können sich zu Gewinnern erklären.

Kleinbürger

Roland Tichy: Für ihn war der Schuldenstaat, wie er durch den Recovery-Funds institutionalisiert wurde, schon immer ein Dorn im Auge. Mit seinen »Einblicken« hat er seiner Leserschaft Staatsschulden jahrzehntelang als das Werk des Satans verkauft. Nun aber spricht er sich in einem Artikel für viel höhere Staatschulden aus - obwohl er, wie er schreibt, sein ganzes Leben für Austerität und Sparsamkeit gekämpft habe. Es scheint also zunächst, dass es auch Ordoliberalen möglich ist, ihre Grundüberzeugungen aufgrund ihnen offensichtlich widersprechenden Evidenzen zu revidieren.

Tichy aber belegt, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, mit quälenden kognitiven Dissonanzen umzugehen. Vernünftig sei selbstverständlich weiterhin eine »solide« Haushaltspolitik. Dieser Kampf aber sei nun verloren. Dass die Deutschen an ihrem tugendhaften Pfad des Sparens festhielten, mache keinen Sinn mehr. Die Eurozone entwickele sich zu einem Staat, der Schulden in einer Größenordnung generiere, gegen die die Neuverschuldung Deutschlands ein Witz sei.

Mit Proponenten wie Tichy, findet Heinrich Röder, verkommt der Ordoliberalismus zu einer engstirnigen Kleinbürgerbewegung.

Stehaufmännchen

Die europäische Industrie: Nach zuletzt schwachem Wachstum konnte sie im Oktober noch einmal Boden gut machen. Und das in einem Monat, in dem die meisten Mitgliedsländer von der zweiten Corona-Welle erfasst wurden und neuerliche Lockdowns anordneten. Im Euroraum stieg die saisonbereinigte Industrieproduktion um 2,1 %.

Das gilt insbesondere auch für Deutschlands lange darbende Industrie. Im Oktober stieg die Industrieproduktion im Vergleich zum Vormonat um überraschende 3,4 %, was der zweithöchste Zuwachs in der EU in diesem Monat ist. Erheblichen Anteil daran hat die Autoindustrie, die vom ersten Lockdown wie keine andere Branche sonst in Mitleidenschaft gezogen wurde. In der größten Branche des Verarbeitenden Gewerbes legte die Fertigung im Oktober um 9,9 Prozent im Monatsvergleich zu.

Allerdings bleibt auch viel aufzuholen: Deutschlands Industrie produziert im Vergleich zu den anderen Kernländern und der Eurozone weiterhin auf sehr niedrigem Niveau und knapp 4 % unter dem Volumen von Oktober 2019. Trotzdem kehrt der Optimismus zumindest bei den Analysten zurück. »Wenn alles normal läuft, könnte die Corona-Scharte in der Industrie sogar noch in diesem Jahr ausgewetzt werden«, glaubt Jens-Oliver Niklasch von der Landesbank Baden-Württemberg.

Genies

Donald Trump: Der scheidende US-Präsident war einst mit dem Versprechen angetreten, Amerika wieder großartig zu machen. Das selbsterklärte »sehr stabile Genie« hat auch wirklich was geschafft. In zwei Kategorien ist Amerika heute führend in der Welt. Unter seiner präsidialen Obhut liegt Amerika sowohl bei der Anzahl der Coronavirus-Infektionen als auch der Anzahl der an Covid-19 Verstorbenen unangefochten an der Weltspitze. Jörg Bibow ist sich sicher: Bis zum 20. Januar 2021 wird der abgewählte US-Präsident die Krise weiter ignorieren als hätte er damit nie etwas zu tun gehabt. 

Zwar sei Trumps persönlicher Beitrag zu diesen traurigen Rekorden unbestreitbar, doch sein Wirken nicht nur in politischer Hinsicht durch einen sehr fruchtbaren Boden zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung begünstigt gewesen, so Bibow weiter: Die in Amerika sehr stark ausgeprägte Tradition des Individualismus mit ihrer einflussreichen und als Libertarismus bezeichneten extremen Strömung war hierfür ein weiterer Faktor. Staatliche Macht über das Individuum gilt darin als Todsünde und Ursprung allen Übels.