Soziales

Schummeln die Krankenkassen?

| 12. Oktober 2016

Ja, sagt der Vorsitzende der Techniker Krankenkasse. Für viele sicher Grund genug, den Risikostrukturausgleich (RSA) in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) als bürokratisches Monster mit systematischen Fehlanreizen darzustellen. Der RSA an sich ist aber ein unverzichtbares Instrument zur Steuerung gegliederter Krankenversicherungssysteme.

Jens Baas, Chef der größten Krankenkasse TK (Techniker Krankenkasse) hat in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (9. Oktober 2016) gepetzt und eine in der Branche längst bekannte Schummelei öffentlich gemacht (hier). Es sei ein Wettbewerb unter den Kassen darüber entbrannt, „wer es schafft, die Ärzte dazu zu bringen, für Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren.“ So werde schon mal aus einem leichten ein schwerer Bluthochdruck oder aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression. Ein solches „Upgrading“ im RSA könne 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall bringen. Dafür zahlten die Kassen den Ärzten Prämien, insgesamt über eine Milliarde Euro pro Jahr. Dieses Geld fehle für die Behandlung der Patienten.

Sicher verfolgt Baas mit diesem gar nicht so mutigen, weil allen Insidern längst bekannten Hinweis eigene Interessen. Der TK hat der RSA noch nie gepasst, weil er ihr Wettbewerbsvorteile genommen hat, die sie als Kasse mit überdurchschnittlich gut verdienenden Mitgliedern früher hatte. Aber es stimmt, der geltende RSA ist in dem von Baas genannten Punkt latent missbrauchsanfällig. Aber der RSA ist keineswegs das per se mit falschen Anreizen verbundene bürokratische Monster, als das er von seine Gegnern gerne hingestellt wird (das habe ich hier begründet). Gegliederte Krankenversicherungssysteme können nur mit einem solchen Instrument angemessen funktionieren, weil sonst die Risikoselektion und nicht die Versorgungsoptimierung im Fokus des Wettbewerbs steht. Das bestreitet kein ernst zu nehmender Gesundheitsökonom. Deshalb gibt es einen RSA mit unterschiedlichen Ausprägungen auch in anderen europäischen Ländern (Niederlande, Schweiz, Belgien). Sogar die private Krankenversicherung (PKV) benötigte einen gemeinsamen Risikopool, wenn man sie wirklich wettbewerblich gestalten würde, wie die Kommission zur Reform des Versicherungsvertragsrechts 2004 feststellte (hier , S. 138 ff.).

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