Rusty Charley und der Rechtsstaat
Vor Gericht und auf hoher See, weiß der Jurist, ist man in Gottes Hand. Und so hoffen die EU-Integrationisten auf den Europäischen Gerichtshof, der die Legitimität des Rechts an die Stelle der erschöpften Legitimität supranationaler Politik setzen soll.
In Brüssel passieren seltsame Dinge, und sie werden von Tag zu Tag seltsamer. Die Europäische Union, ein internationaler Möchtegern-Superstaat mit einem beeindruckenden demokratischen Defizit, geht daran, zwei ihrer Mitgliedstaaten und ihre demokratisch gewählten Regierungen, zusammen mit den Bürgern, die sie gewählt haben, für ein von ihr festgestelltes demokratisches Defizit zu bestrafen.
Regiert wird die EU von einer nicht gewählten Technokratie, nach Maßgabe einer Verfassung ohne Volk, die keine ist, bestehend aus unlesbaren internationalen Verträgen und den gesammelten Urteilen eines internationalen Gerichtshofs, des EuGH – Verträge, die in der Praxis nicht revidiert werden können und Urteile, die nur das Gericht selbst revidieren kann – mit einem Parlament, das keine Gesetze verabschieden darf, keine Regierung bilden kann und keine Opposition kennt.
Das Thema, um das derzeit geht, ist alt, wurde aber nach europäischer Art lange gemieden, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Inwieweit bricht „europäisches“ Recht, geschöpft von den in den Hinterzimmern des Europäischen Rates versammelten nationalen Exekutiven und vom EuGH in seinen geheimen Beratungsräumen, das nationale Recht der demokratischen Mitgliedsstaaten der EU?
Die Antwort scheint für EU-Ungebildete einfach genug: Wo und nur wo die Mitgliedstaaten in den Verträgen der EU ein Recht übertragen haben, Gesetze zu erlassen, die für alle Mitgliedstaaten bindend sind, damit in den Angelegenheiten, die sie an die EU delegiert haben, alle dieselben Gesetze haben und befolgen müssen, damit ihre Union reibungslos funktionieren kann.
Wäre es doch nur dabei geblieben. Bereits Anfang der 1960er Jahre entdeckte der Gerichtshof in den Verträgen einen generellen Vorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht. Mit bloßem Auge freilich ist in den Verträgen nichts dergleichen zu finden; man muss Mitglied des Gerichts sein, um es zu sehen. Solange die Zuständigkeit der EU noch eng begrenzt war, störte das zunächst niemanden.
Später jedoch, als die EU zunehmend dazu genutzt wurde, die Volkswirtschaften für die „vier Freiheiten“ des Binnenmarktes zu öffnen und dann für die gemeinsame Währung fit zu machen, diente die Doktrin vom Primat des europäischen Rechts als bequemes Mittel zur laufenden Ausweitung der Autorität der Union, ohne dass man die Verträge neu hätte schreiben müssen, zumal dies mit dem Anstieg der Zahl der Mitgliedsstaaten von 6 auf vor dem Brexit 28 immer schwieriger wurde.
Was zunächst nur eine sehr selektive Übertragung nationaler Souveränität nach oben hatte sein sollen, wurde so nach und nach zum wichtigsten institutionellen Motor für das, was dann „Integration durch Recht“ genannt wurde, betrieben von den zentralen Behörden der Union und unterstützt oder hingenommen von wechselnden Koalitionen von Nationalstaaten und Regierungen wurde – was insbesondere von Juristen als einer Integration durch Politik normativ und überlegen empfunden wurde und wird.
Während sich die Motive im Laufe der Zeit änderten, erforderte Integration durch Recht ein immer tieferes Lesen der Verträge, in der Absicht, immer neue Gründe zu finden, warum demokratische verfasste nationale Politik einer postdemokratischen internationalen Techno- bzw. Juridikokratie untergeordnet werden kann oder gar muss. Am Ende, nachdem Vertragsrevisionen nach der Ablehnung des Entwurfs eines „Vertrags für eine europäische Verfassung“ im Jahr 2005 in einem französischen Referendum (bei dem 55,7 Prozent dagegen stimmten) effektiv blockiert waren, wurde der EuGH zum wichtigsten Gesetzgebungs- und Verfassungsgeber der EU. (Ironischerweise war einer der wahrscheinlichen Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrags, dass er ausdrücklich den Vorrang des europäischen Rechts festlegte.)
Niemand weiß genau, was sich in den Tiefen der europäischen Verträge in ihrer jetzigen Form verbirgt, auf hunderten, ja tausenden von Seiten, je nach gewählter Schriftart. Die einzige Ausnahme ist der EuGH, und das liegt daran, dass das, was er behauptet, gefunden zu haben, auch das ist, was für alle praktischen Zwecke dort ist – was daran liegt, dass das Gericht hier immer das letzte Wort hat. So mag der EuGH, oder im Vorgriff darauf die Europäische Zentralbank oder die Europäische Kommission, in die Verträge funktionale Gründe für das, was die Deutschen „mehr Europa“ nennen, hineinlesen (Geldpolitik muss (!) heute (!) Fiskalpolitik umfassen), oder allgemeine Absichten versteckt im Bekenntnis der Mitgliedstaaten zu einer „immer engeren Union der Völker Europas“, wobei „Völker“ als „Volk“ gelesen wird, oder „Werte“ wie „Demokratie“ und „Menschenrechte“, die etwa einen auf dem letzten Stand aufgeklärten Sexualunterricht an öffentlichen ungarischen Schulen erfordern.
Was genau der Gerichtshof in jedem Einzelfall finden wird, mag ungewiss sein – vor Gericht und auf hoher See, weiß der Jurist, ist man in Gottes Hand. Sicher ist jedoch, dass der Gerichtshof keine Gelegenheit verpassen wird, „Europa zu bauen“, also den Vorrang des europäischen Rechts über das nationale Recht, den letztlich er selber geschaffen und begründet hatte, zu bestätigen. Wenn man dem EuGH bei seiner Amtsausübung zusieht, fühlt man sich an eine Figur in einer Kurzgeschichte von Damon Runyan namens Rusty Charley erinnert, ein kleiner Gangster, der am Broadway der 1940er Jahre seinen Unterhalt verdiente, indem er beim Würfelspiel mit seinen Mit-Gangstern die Würfel in seinem Hut warf und dann das Ergebnis verkündete, ohne es die Mitspieler sehen zu lassen. Obwohl er immer gewann, hatte niemand Lust, dumme Fragen zu stellen, da Charley, so Runyan, "ein Typ war, der es hasste, ein Lügner genannt zu werden".
Dass der Vorrang des europäischen Rechts über das nationale Recht zum Gegenstand eines hohen politischen Dramas geworden ist, hat mit den auf Überdehnung hinauslaufenden Erweiterungs- und Vertiefungsbestrebungen der EU zu tun. Angesichts der von diesen ausgelösten Konflikten, die sie politisch immer weniger eindämmen können, hoffen die Integrationisten zunehmend auf den Gerichtshof, der die Legitimität des Rechts an die Stelle der erschöpften Legitimität supranationaler Politik setzen soll.
Widerstand gegen die „Integration durch Recht“
Im Zentrum der gegenwärtigen Kontroverse stehen dabei Polen und Ungarn mit ihren „illiberalen“ politischen Regimen. Beide Länder insistieren auf einer strikten Auslegung der Verträge, die das Ausmaß, in dem die Politik, und vor allem die Europapolitik, eines Mitgliedstaats für andere Mitgliedstaaten oder für EU-Institutionen von legitimem Interesse sein können, stark einschränkt. In den Verträgen unterliegt das Rechtssystem eines Landes der EU-Aufsicht, soweit dies erforderlich ist, um die ordnungsgemäße, insbesondere nicht korrupte Verwendung von EU-Mitteln durch die Regierung sicherzustellen.
Während in wörtlicher Lesart dies alles ist, was mit dem sogenannten Rechtsstaatsgebot gemeint sein kann, wollen die „Pro-Europäer“ es auf den Status und die Organisation des höchsten Gerichts eines Landes erstreckt sehen, insbesondere seine Unabhängigkeit von der Exekutive und der Politik im allgemeinen. Des Weiteren erwarten die Verträge, dass die Mitgliedstaaten bestimmte demokratische und menschenrechtliche Standards einhalten; tun sie dies nicht, kann der Rat ihnen mit einstimmigem Beschluss das Stimmrecht entziehen. Ausschließen kann er sie nicht, da die Europäische Union die Mitgliedschaft als unumkehrbar betrachtet.
Normalerweise sind Korruption und die Politisierung nationaler Höchstgerichte in der europäischen Politik kein Thema. In Bezug auf Korruption gilt Polen als weitgehend sauber (Ungarn weniger), während Länder wie Rumänien, Bulgarien, Slowenien, die Slowakei und Malta als Hochburgen von Vetternwirtschaft und Käuflichkeit bekannt sind, ganz zu schweigen von in einigen dieser Länder tief verwurzelter Diskriminierung von ethnischen Minderheiten wie den Sinti und Roma. Die Slowakei und Malta sahen kürzlich die Ermordung unabhängiger investigativer Journalisten, die Korruption in hohen Staatsämtern untersuchten, durch mit Regierungskreisen verbundene kriminelle Banden.
Dennoch droht niemand mit der Kürzung ihrer europäischen Subventionen, und die liberale europäische Presse verzichtet darauf, ihre Rechtsstaatlichkeit mit der polnischen oder ungarischen in ein Verhältnis zu setzen. Es gibt Grund zu der Annahme, dass dies damit zu tun hat, dass sie sich im Gegensatz zu Polen und Ungarn für das erhaltene Geld dadurch bedanken, dass sie in Brüssel vorhersehbar brav mit der Kommission abstimmen und ansonsten den Mund halten.
Ähnlich ist politische Einflussnahme auf die obersten Gerichte eines Landes etwas, von dem die EU-Organe gute Gründe haben, nicht allzu viel Aufhebens zu machen: Wo es überhaupt Verfassungsgerichte gibt, stehen sie alle auf die eine oder andere Weise unter den Einfluss ihrer nationalen Regierungen. (Manchmal übrigens gilt die Politisierung eines Verfassungsgerichts als geradezu erwünscht: So verklagen die EU-Kommission und das EU-Parlament gegenwärtig Deutschland vor dem EuGH, weil die deutsche Regierung das deutsche Verfassungsgericht nicht daran gehindert hat, sich in der Frage der Rechtmäßigkeit der Anleihekaufprogramme der EZB ein unabhängiges Urteil über die Grenzen der europäischen Zuständigkeiten zu bilden – „ultra vires“.)
Das Besondere an Polen und Ungarn ist nicht, dass ihre höchsten Richter unter politischem Einfluss ernannt werden – das scheint überall mehr oder weniger der Fall zu sein – sondern dass ihre Regierungen öffentlich auf einer engen Auslegung des Vorrangs des europäischen Rechts und einer entsprechend weiten Auslegung der nach einem EU-Beitritt verbleibenden nationalen Souveränität bestehen, und zwar in offenem Widerstand gegen die vom EuGH betriebene „Integration durch Recht“.
Einknicken gegenüber „Europa“?
Die Geschichte, die sich hier derzeit abspielt, ist also keine rechtliche, sondern eine politische. Seine jüngste Episode begann damit, dass der Rat den mehrere Milliarden schweren NGEU-Corona-Wiederaufbaufonds verabschiedete, wobei Ungarn und insbesondere Polen erhebliche Summen zugeteilt wurden, obwohl sie nur geringfügig von dem Virus betroffen waren. Für das Europäische Parlament, das der Maßnahme zustimmen muss, war dies eine Gelegenheit, seine Bemühungen für einen Regimewechsel in den beiden Ländern zu verstärken, indem es die Auszahlung ihrer „Wiederaufbau“-Gelder von politischen und rechtlichen Zugeständnissen an die EU abhängig machen wollte. In Polen wie Ungarn stehen bald Wahlen an, und die Hoffnung war, dass ein Verlust europäischer Gelder, angeblich dazu bestimmt, den Polen und Ungarn ein besseres Leben zu ermöglichen und ihre Länder widerstandsfähiger gegen kapitalistische Krisen im Allgemeinen und das Coronavirus im Besonderen zu sein, die gegenwärtigen Regierungen ebenso schwächen würde wie ein schließliches Einknicken gegenüber „Europa“.
Die Hoffnung war, im Zuge eines international-imperialen Elitenmanagements Regierungen an die Macht zu bringen, die sich weniger an ihren Völkern als an „Europa“, verfasst in der EU, orientieren würden. Auch könnte sich dabei die Zahl der liberalen Abgeordneten aus den beiden Ländern erhöhen, was das EP noch „pro-europäischer“ machen würde, als es ohnehin schon ist.
Das Problem für die Kommission bestand darin, dass der Wiederaufbaufonds einstimmig im Rat beschlossen werden musste, weil er sonst offenkundig vertragswidrig gewesen wäre; Polen und Ungarn hatten jedoch angekündigt, mit Nein zu stimmen, wenn es eine Sonderklausel gegen ihre Regierungen geben sollte. Auf der Gegenseite machte das EP seine Zustimmung davon abhängig, dass die Kommission einen sogenannten „Rechtsstaatsmechanismus“ akzeptierte, der die Kommission zwingen würde, Gelder an Länder zurückzuhalten, die den vom Gericht in den Verträgen oder sonstwo erkannten Vorrang des europäischen Rechts nicht respektieren.
Um ihren Fonds durchzusetzen, schloss sich die Kommission dem EP an, versprach aber zugleich Ungarn und Polen, dass der „Mechanismus“ niemals aktiviert werden würde. Offiziell wurde angekündigt, dass er erst nach Genehmigung durch den EuGH eingesetzt werden würde, vor dem Polen und Ungarn seine Rechtmäßigkeit anfechten würden. Angenommen bzw. zugesichert wurde, dass das Verfahren länger dauern und erst nach Auszahlung der NGEU-Mittel abgeschlossen werden würde. Gleichzeitig bestanden im Rat die selbsterklärt „frugalen“ Nordeuropäer, angeführt von den Niederlanden, auf einer strengen Behandlung Polens und Ungarns – wohl um ihre nationale Öffentlichkeit glauben zu machen, dass sie kostbares nordeuropäisches Geld sparen könnten, indem sie die EU dazu verpflichteten, die polnischen und ungarischen Zuteilungen aus dem Fonds als Strafe die unzureichende Rechtsstaatlichkeit zu kürzen.
Das Ergebnis war ein beispielloser öffentlicher Streit, bei dem der Druck auf die Kommission zunahm, mit den beiden, nach eigener Nomenklatur, „illiberalen Demokratien“ streng zu sein, was den Gerichtshof offenbar dazu bewog, schneller als erwartet vorzugehen. Als Antwort veröffentlichte das polnische Verfassungsgericht ein lange in Arbeit befindliches, aber auf Wunsch der Regierung zurückgehaltenes Urteil, in dem unter Berufung auf das deutsche Verfassungsgericht die polnische Verfassung grundsätzlich über das europäische Recht gestellt wird. Weitere Turbulenzen können sicher vorhergesagt werden.
Polen „Aushungern“
Nichtdeutschen Beobachtern muss es schwerfallen, sich des Eindrucks zu erwehren, dass die schlimmsten Scharfmacher im Kampf gegen das liberaldemokratische Defizit Polens und Ungarns Deutsche sind. Eine führende Gestalt ist hier eine Katharina Barley, Sozialdemokratin und ehemalige Justizministerin der Großen Koalition, die ihre Partei zur nationalen Spitzenkandidatin für die Europawahl 2019 machte. Dies endete in einem veritablen Desaster, mit 15,8 Prozent nach 27,3 Prozent fünf Jahre zuvor. Nachdem sie wohl oder übel nach Brüssel gezogen war, gelang es Barley, sich einen der vierzehn (!) Posten als Vizepräsident des EP zu sichern. Im Herbst 2020 ließ sie im deutschen Rundfunk verlauten, dass der „Rechtsstaatsmechanismus“ angewandt werden müsse, um Viktor Orbán in Ungarn und ganz allgemein Polen „auszuhungern“.
In Polen gibt es über Generationen hinweg lebhafte Erinnerungen an den letzten deutschen Aushungerungsversuch – Erinnerungen, die pro-europäischen deutschen Politikern fremd zu scheinen. Dies hindert sie nicht daran, genau zu wissen, wie ihre Nachbarländer regiert werden müssen: nach deutschem Vorbild, wie von der Bundesregierung auf dem Weg über Brüssel vorgegeben. So etwa Manfred Weber von der CSU, Chef der Christdemokraten im EP und ehemaliger vergeblicher Kandidat für den Kommissionsvorsitz, der Polen und Ungarn neuerdings immer wieder mit einem in den Verträgen nicht vorgesehenen Ausschluss aus der EU droht. Ebenfalls zu erwähnen wäre der amtierende deutsche Außenminister, ebenfalls ein Sozialdemokrat, der das Gesetz zur „Rechtsstaatlichkeit“ wegen der von ihm eröffneten Möglichkeit begrüßte, Ungarn und Polen „Schmerz zuzufügen“, unter dem Applaus einer wahren Armee deutscher Grüner innerhalb und außerhalb des EP und bejubelt von der deutschen Presse, öffentlicher Rundfunk inklusive. Wenn man von der Leyen hinzufügt, mag man es polnischen Bürgern verzeihen, wenn sie glauben, dass ihr Land – dessen Regierung wie die Ungarns von mehr oder weniger der Hälfte seiner Bevölkerung unterstützt wird – wieder einmal zum Objekt deutscher Aggression geworden ist.
Das eigentliche Ziel des Fonds
Was steckt dahinter, abgesehen von der historischen Amnesie und/oder zeitgenössischen Dummheit allzu vieler deutscher „Pro-Europäer“? Das Geld, das aus dem Wiederaufbaufonds an die EU-Mitgliedsländer fließt, kann dem durchschnittlichen deutschen Steuerzahler enorm vorkommen, zumal er die Kosten der bevorstehenden „Energiewende“ oder der Sanierung der vom Sparzwang „ausgehungerten“ deutschen Infrastruktur zu ahnen beginnt. Das eigentliche Ziel des Fonds – die Machterhaltung nationaler Eliten in Osteuropa, die dem Binnenmarkt verpflichtet und Allianzen mit Russland oder China abgeneigt sind – ist zu heikel, um öffentlich darüber zu sprechen.
Deshalb muss gezeigt werden, dass mit dem Geld etwas Erbaulicheres erkauft wird als imperiale Stabilität: Hinnahme einer westeuropäischen kulturellen Hegemonie, dokumentiert durch die Wahl von Führern, die dem westeuropäischen Geschmack entsprechen. Ein Beispiel wäre der neoliberale Donald Tusk, ein ehemaliger polnischer Ministerpräsident, der abgewählt wurde, nachdem seine Regierung die nationale Wirtschaft ruiniert hatte, und dann in Brüssel als einer von einer Handvoll europäischer Präsidenten zwischengelagert wurde, zur Vorbereitung einer siegreichen Rückkehr in sein Heimatland nach Erledigung Kaczyńskis und der Seinen.
Werden Polen und Ungarn lernen, wie Rumänien oder Bulgarien zu sein, oder auch wie Malta und die Slowakei, und damit ihre Brüsseler Feinde besänftigen? Wenn sie sich weigern und der EuGH das letzte Wort hat, kann die nächste Stunde der Wahrheit schlagen, diesmal im Osten. Wie das Gericht entscheiden wird, ist so sicher wie dass die Anzahl der Augen auf Rusty Charleys Würfeln genau der Zahl entspricht, die er benötigt, um zu gewinnen. Dies könnte dann den Weg zum Polexit ebnen, ebenso wie seinerzeit Merkels Verweigerung von Zugeständnissen an Cameron in Sachen Einwanderung dem Brexit zusätzlichen Schwung verlieh.
Während von der Leyen die Rhetorik von Barley, Maas, Weber und den Grünen übernommen hat, forderte Merkel in ihren letzten Stunden als Kanzlerin die EU auf, Mäßigung zu üben und eine politische statt einer juristischen Lösung zu suchen. (Merkel könnte von den Vereinigten Staaten mitgeteilt worden sein, dass sie nicht amüsiert wären, wenn Polen, ihr stärkster und gefestigt antirussischer Verbündeter in Osteuropa, aus der EU herausfiele, wo Westeuropa es füttern soll, damit es von den USA bewaffnet werden kann.)
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass in anderen Mitgliedsländern nun ein langsames Erwachen über die Anmaßung des zunehmend expliziten Beharrens der EU auf einem allgemeinen Vorrang ihres Rechts vor dem ihrer Mitgliedsstaaten, einschließlich ihres Verfassungsrechts, im Gang zu kommen scheint. Der Kampf um Polen und Ungarn könnte der Ära ein Ende setzen, in der „Integration durch Recht“ wegen ihres Inkrementalismus von immer kurzfristiger denkenden nationalen Regierungen wohlwollend vernachlässigt werden konnte.
So machen sich derzeit französische Politiker der Mitte, die im kommenden Jahr für die Präsidentschaft kandidieren wollen, wie Valérie Pécresse (Les Républicains), Arnaud Montebourg (ein ehemaliger Sozialist) und sogar Michel Barnier, der euromilitante Brexit-Unterhändler der EU, Sorgen um das, was sie jetzt Frankreichs „rechtliche Souveränität“ nennen – wobei einige von ihnen, darunter ausgerechnet Barnier, ein nationales Referendum fordern, um ein für alle Mal den Vorrang des französischen über das europäische Recht zu sichern.
Während dies geschrieben wurde, verurteilte der EuGH Polen aus heiterem Himmel zu einer Geldstrafe von einer Million Euro pro Tag, weil es eine per Gesetz eingerichtete Kammer seines Obersten Gerichtshofs zur Überwachung der polnischen Justiz nicht abgeschafft hatte, wie es scheint um diese einer stärkeren politischen Kontrolle zu unterwerfen. (Polen hatte sich bereit erklärt, die Kammer bis Ende des Jahres abzuschaffen.) Zusammen mit einer schon früher verhängten Geldbuße für den Weiterbetrieb eines besonders schmutzigen Braunkohleabbaus in Höhe von 500.000 Euro pro Tag entspricht dies etwa einer halben Milliarde Euro pro Jahr. So hoch dies auch erscheinen mag, es ist winzig im Vergleich zu den 36 Milliarden, die Polen aus dem Wiederaufbaufonds bekommen soll, zusätzlich zu seinen Zuschüssen aus dem laufenden EU-Haushalt. Offenbar werden die polnischen NGEU-Mittel zurzeit von der Kommission auf Druck des EP zurückgehalten, bisher ohne offizielle Begründung.
Ob diese Art von politischem Powerplay den gewünschten Regimewechsel herbeiführen wird, ist jedoch alles andere als sicher. Die erste Zeile der polnischen Nationalhymne, Jeszcze Polska nie zginęła, heißt auf Deutsch „Noch ist Polen nicht verloren“; in ihr drückt sich ein ausgeprägter nationaler Hang dazu aus, eine Schlacht, auch eine verlorene, gegen alle Widrigkeiten bis zum Ende auszufechten, um der nationalen Ehre willen. Auch deshalb scheint ein Einlenken der EU noch möglich, und vielleicht ist die Geldstrafe von einer Million pro Tag nicht mehr als ein letztes Aufbäumen eines Gerichts, das befürchtet, von Politikern, die zweimal messen, bevor sie einmal abschneiden (Lenin) und dabei einen weiteren EU-Austritt einladen, beiseitegeschoben zu werden. (Das deutsche Kommentariat ist sich einig, dass Polen nachgeben wird, da es wie alle anderen käuflich ist.)
Gerüchten zufolge hat Donald Tusk, der sich kürzlich selbst zum Spitzenkandidaten der polnischen Opposition für die Nationalratswahl 2023 ernannt hat, hinter den Kulissen von der Kommission Zusicherungen dahingehend gesucht und erhalten, dass die erste Tranche des polnischen Anteils am Wiederaufbaufonds bald ausgezahlt wird, wohl in der Furcht, dass eine weitere Verzögerung nicht ihm helfen würde, sondern der regierenden PiS-Partei unter Kaczyński.
Dieser Artikel erschien auf MAKROSKOP zuerst am 5. November 2021.