Zins- und Konjunkturtheorie

Die Mehrgesichtigkeit des Zinses

| 16. Mai 2023
istock.com/Anton Vierietin

Den einen Zins gibt es nicht. Stattdessen muss man mit Geldzins und Kapitalzins zwischen finanzwirtschaftlichen und realwirtschaftlichen Kreislauf trennen. Mit anderen Worten: Der Zins kommt mehrgesichtig daher.

Es gibt nicht den einen Zins, so wie es der regelmäßige Blick in die Presse oder Buchtitel wie „The Price of Time“ von Edward Chancellor (2022) vermuten lassen. Dies resultiert bereits unmittelbar aus dem Umstand, dass eine moderne Ökonomie eine Geldwirtschaft mit Kreditgeld ist und eben keine Tauschwirtschaft mit einem Numéraire-Gut als Geld (zum Beispiel Getreide, aber ebenso auch Gold).

Stattdessen ist eine Trennung von Geldzins und Kapitalzins bzw. dem finanzwirtschaftlichen und dem realwirtschaftlichen Kreislauf erforderlich, womit bereits deutlich wird: der Zins kommt mehrgesichtig daher.

Aber Achtung: „finanzwirtschaftlich“ ist hier nicht mit dem Geldbegriff der klassischen Ökonomik gleichzusetzen, in der Geld nur ein Schleier und neutral ist – ganz im Gegenteil. Mit Finanzwirtschaft ist vielmehr das Bedürfnis der Wirtschaftsakteure nach Liquidität und der damit verknüpfte Bankensektor mit seiner Kreditschöpfung gemeint, was ein erheblicher Unterschied im Vergleich zu einer Tauschwirtschaft inklusive Numéraire-Geld ist: Kredite in einem Fiatgeldsystem können aus dem Nichts geschaffen werden; Getreide nicht.

Geld- und Kapitalzins

Der Geldzins wird im Sinne dieses Modells daher durch das Konzept der Liquiditätspräferenz bestimmt, das John Maynard Keynes in seiner „General Theory of Employment, Interest and Money“ (1936) einführte. Diese beschreibt gewissermaßen die marginale Effizienz des Geldes als Sicherheitspolster: Je mehr das Bedürfnis nach dem Vorhalten von Liquidität ausgeprägt ist, um die eigene Zahlungsfähigkeit sicher zu stellen, desto höher der Geldzins.

Dies folgt einerseits aus dem Anleihemarkt (und damit ganz allgemein dem Markt für Fremdkapital), wo auf Grund der gestiegenen Liquiditätspräferenz die Anleihekurse fallen und damit die Renditen steigen. Oder anders formuliert: Es ist ein höherer Geldzins erforderlich, um Zahlungsmittel aus der gestiegenen Liquiditätspräferenz zu ‚befreien‘ (die Schuldner müssen attraktivere Konditionen bieten). Andererseits ist dies Ausfluss des Risikomanagements der Banken, die bei gestiegenem Sicherheitsbedürfnis einen höheren Zins verlangen, um trotzdem Kredite auszureichen.

Der Kapitalzins dagegen wird durch die Keynes’sche Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals bestimmt (ebenfalls in der General Theory definiert); diese wiederum wird durch die Absatzerwartungen der Unternehmen einerseits sowie Produktivitätsfortschritten und dem vorhandenen Angebot an Kapitalgütern andererseits bestimmt.[1]

Keinesfalls dagegen bestimmt sich der Kapitalzins, womöglich sogar mit dem irreführenden Begriff Realzins belegt (dazu später mehr) lediglich aus Angebot und Nachfrage bestehender Kapitalgüter: Er ist eben kein Spotpreis am Kapitalgütermarkt, sondern gewissermaßen ein Future auf die erwartete Rendite des Kapitals in der Zukunft, die eben nur zum Teil vom aktuellen Markt für Kapitalgüter abhängig ist, vor allem aber von der Erwartungsbildung der Unternehmen, die wiederum von der effektiven Nachfrage abhängt.

Was ist mit alternativen Bezeichnungen oder Herleitungen der Bedeutung des Zinses wie zum Beispiel, dass er eine Kompensation für den Verzicht auf heutigen Konsum oder aber eine sonstige, alternative Opportunität und damit sozusagen den „Preis der Zeit“ darstelle, wie es der eingangs erwähnte Edward Chancellor beschreibt? Tatsächlich ist sogar bereits Chancellors Bezeichnung vom „Preis der Zeit“ eine beinahe wortwörtliche Anleihe bei einem der Gründerväter der österreichischen Schule der Volkswirtschaftslehre, Eugen von Böhm-Bawerk.

Nach dessen Auffassung erklärte sich der Zins maßgeblich aus der individuell verschiedenen Zeitpräferenz verschiedenartiger Unternehmertypen: der Entrepreneure und der Kapitalisten. Letztere müssten Kapitalgüter sparen, um den Entrepreneuren überhaupt erst eine Investition zu ermöglichen. Mit anderen Worten: Weil manche Unternehmer Kapitalgüter in der Gegenwart gegenüber jenen in der Zukunft vorziehen und vice versa, entsteht ein Markt zwischen Gegenwart und Zukunft. Solche, die Kapitalgüter heute relativ niedrig bewerten (die Kapitalisten), leihen diese an Jene, die diese Güter nachfragen. Der Kapitalist im Sinne Böhm-Bawerks verzichtet also auf einen Teil seines Konsums, um den Entrepreneuren Produktionskapital zu leihen; und die Bewertung der individuellen Zeitpräferenz findet im Zins als Marktpreis Ausdruck.[2]

Dieses Modell der Wirklichkeit greift jedoch bereits deshalb zu kurz, weil es von einem einheitlichen Zinsbegriff ausgeht, der aus den hier geschilderten Gründen in Kreditgeldökonomien nicht mehr haltbar ist. Bezeichnungen wie die von Chancellor und der österreichischen Schule mögen allenfalls auf den Geldzins zutreffen, so wie er hier definiert wird. Aber auch hier bestenfalls nur zum Teil; wichtiger ist demgegenüber in einer Geldwirtschaft das Vorsichtsmotiv der Gläubiger, für die der Zins ganz im Sinne der Liquiditätspräferenz dann in erster Linie eine Kompensation für das eingegangene Risiko darstellt (dazu zählt übrigens auch die Kompensation für den erlittenen Kaufkraftverlust infolge etwaiger erwarteter Inflation).

Hier ist vor allem wichtig zu beachten, dass Geschäftsbanken in einem Kreditgeldsystem eben nicht die hereingenommenen Depositen weiterverleihen, wie dies in einer Tauschwirtschaft mit Numéraire-Geld der Fall wäre, sondern mit jedem Kredit neues Geld schöpfen. In diesem Zusammenhang so wie Chancellor und die österreichische Schule den Zins als ein Konstrukt auf der Grundlage von Opportunitätskosten zu verstehen, erscheint dann unmittelbar als unsinnig; denn die Bank würde das neue Geld im Fall der Nichtausreichung des Kredits ja gar nicht erst schöpfen und also auch nicht alternativ verwenden. Höchstens in Bezug auf sogenannte „narrow banks“ ‒ also Finanzakteure ohne Kreditgeldschöpfung wie aktuell prominent beispielsweise Apple ‒ kann die Vorstellung vom Zins als Preis einer entgangenen Opportunität (eine naheliegende Alternative für Apple wäre, das Geld in den eigentlichen Geschäftsbetrieb zu investieren) Anwendung finden. Ähnliches gilt für Geldmarktfonds. Beide verleihen jedoch stets Geld und eben kein Realkapital, so dass auch für sie das Motiv der Liquiditätspräferenz ausschlaggebend ist.

Die Interaktion zwischen Geld- und Kapitalzins

Was lässt sich nun zur Interaktion zwischen Geld- und Kapitalzins sagen? Hier kommt in abgewandelter Form das Modell des schwedischen Ökonomen Knut Wicksell (1898) zum Tragen, der diese wichtige Unterscheidung fast zur selben Zeit wie Eugen Böhm-Bawerk entwickelt hatte: Liegt der Geldzins abzüglich der erwarteten Inflationsrate oberhalb des Kapitalzinses, sinkt die Investitionsnachfrage der Unternehmen ebenso wie die Kreditfreudigkeit der Banken (das Ausfallrisiko steigt, der höhere Zins wirkt hier sowohl als Indikator als auch als Kompensation). Liegt der so bereinigte Geldzins dagegen unterhalb des Kapitalzinses, steigt die Investitionsnachfrage und zugleich die Kreditfreudigkeit der Banken (die erwartete Rendite der Investition ist höher als die Fremdkapitalkosten, das Ausfallrisiko sinkt dementsprechend).

Entscheidend dabei ist, dass ganz im Sinne von Keynes der Geldzins derjenige ist, an den sich alle übrigen Renditen in einer Volkswirtschaft anpassen müssen, da der Geldzins aus der Liquiditätspräferenz der Wirtschaftsteilnehmer und mithin ihrem dem Marktsystem exogenen Sicherheitsbedürfnis folgt. Solange keine Vollbeschäftigung vorliegt, erfolgt somit der Anpassungsprozess für den (regelmäßigen) Fall einer Abweichung des Kapital- vom Geldzins auf Seiten des Kapitalzinses, nämlich durch steigende/falle Preise für Kapitalgüter. Liegt dagegen nahezu oder faktisch Vollbeschäftigung vor, kommt der Geldpolitik eine wichtige Rolle zu, um den Geldzins geeignet anzupassen, dazu später mehr.

Letztlich ist dies die endgültige Versöhnung der Zins- und Konjunkturtheorie Knut Wicksells mit der von John Maynard Keynes: Die Trennung von nominalem Zins (Geldzins) und dem sogenannten „natürlichen“ Zins (Kapitalzins) ist der Kern der Wicksell’schen Analyse; Keynes selber hatte dies in seinem Treatise on Money (1930) aufgegriffen, entfernte sich davon jedoch später in der General Theory. Denn obwohl auch Wicksell erkannt hatte, dass Geld in einer Kreditgeldwirtschaft endogen ist ‒ das Angebot also der Nachfrage folgt und die Geldmenge (was immer das sein soll) somit jedenfalls definitiv nicht fix ist ‒, ging er in seiner Analyse doch zum einen von Vollbeschäftigung als natürlichem Zustand der Volkswirtschaft aus (und folgte insoweit der klassischen Nationalökonomie).

Zum anderen folgte sein „natürlicher“ Zins (der Kapitalzins im Kontext dieses Beitrags) eben doch aus dem Spotmarkt für Realgüter, den die Geldsphäre nicht beeinflussen könne, und entsprach somit weit mehr der österreichischen Theorie.[3] Insofern ist es konsequent, dass tatsächlich der moderne Mainstream der neukeynesianischen Theorie, die eine Assimilierung Keynes’scher Konzepte in die Neoklassik darstellt, weitgehend dem Wicksell’schen Modell im Original folgt: Auch sie geht von Vollbeschäftigung als Normalzustand in der langen Frist aus und sieht zusätzlich in der kurzfristigen Fixierung von Löhnen und Preisen (die berühmten nominalen Rigiditäten, auf die Keynes in diesem analytischen Rahmen reduziert worden ist) den Grund dafür, warum der Geldzins überhaupt vom ‚natürlichen‘ Zins abweichen kann.[4]

Doch ein derartiger Rückgriff auf neukeynesianische Konzepte ist gar nicht nötig, um Keynes mit Wicksell vereinbaren zu können: Führt man die Keynes’schen Konzepte der Liquiditätspräferenz als Leitelement des Geldzinses und die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals als Quasi-Future auf die zukünftige Rendite von Investitionen in das Wicksell’sche Modell ein, erhält man einen vollkommen konsistenten Analyserahmen. Insbesondere ist es dann möglich, dass Veränderungen der Liquiditätspräferenz, also des allgemeinen Sicherheitsbedürfnisses von Haushalten, Unternehmen und Banken und damit des Geldzinses ihrerseits den Kapitalzins beeinflussen können, die Geldsphäre also im Kontrast zur klassischen Nationalökonomie Auswirkungen auf die Realsphäre hat. Man hat es also mit einem inhärent instabilen System mit Hystereseeffekten zu tun, das nur zufällig und vorübergehend in den Zustand der Vollbeschäftigung findet - ganz so wie das dem Kern der Keynes’schen Theorie entspricht.[5]

Achtung Konfusionsgefahr: Der Begriff des Realzinses

Konfusionsgefahr herrscht allerdings, wenn im Zusammenhang dieses Analyserahmens der Begriff des Realzinses in seiner landläufigen Bedeutung eingeführt wird, der dann wahlweise Wicksells natürlichem Zins zu entsprechen scheint (sich also auf die aktuelle Rendite des Eigenkapitals bezöge) oder aber oft das statistische Residuum aus Geldzins und aktueller (!) Inflation bezeichnet. Dass sich diese Zinsbegriffe in aller Regel jedoch nicht entsprechen, war ja gerade der Erkenntnisgegenstand von Wicksell und leuchtet auch jeder Unternehmerin ein, so wie es schließlich auch durch die Statistik bestätigt wird.[6]

Damit erscheint auch bezogen auf Kapitalgüter schließlich die Vorstellung vom Zins als Preis der Zeit völlig verfehlt: Denn nur durch die Inkaufnahme des Verstreichens von Zeit kann eine Investition überhaupt ihren Zweck entfalten und den gewünschten Ertrag bringen. Dies führt elegant zu dem eingangs beschriebenen Charakter der Keynes’schen Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals als eine Art Future auf die erwartete Rendite des Kapitals in der Zukunft zurück: wenn überhaupt, ist der Zins dann also der ‚Lohn der Zeit‘.

Doch wer steuert dann ‚den‘ Geldzins, wenn der Kapitalzins offenbar seinen ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt? Tatsächlich zumeist nicht die Zentralbank, jedenfalls nicht in einem autarken Sinne: Vielmehr vollzieht die Zentralbank die Setzung eines Geldzinses, der sich aus der Liquiditätspräferenz der Wirtschaftssubjekte ableitet. Sehen Haushalte, Banken und Unternehmen keine Notwendigkeit für eine größere Vorhaltung von Liquidität und kaufen stattdessen sowohl Konsum als auch Vermögensgüter aller Art bzw. gehen steigende Kreditvergaberisiken ein, steigt der Wert auch von Fremdkapital. Damit fällt der Zins im Sinne eines Renditekonzepts.

Hält die Zentralbank in einem solchen Szenario die Zinsen künstlich hoch, würgt sie die Konjunktur ab (was mitunter genau auch ihre Absicht sein kann, zumal falls die Fiskalpolitik der eigentliche Treiber des Kapitalzinses sein sollte). Dies wäre die von Keynes zu Recht so geschmähte „Rentierökonomie“, in der das einfache Halten von Fremdkapital (sprich: das Verleihen von Geld) mehr Rendite einbringt als die produktive Verwendung des Geldes für Investitionszwecke.

Senkt die Zentralbank im umgekehrten Fall einer enorm gesteigerten Liquiditätspräferenz künstlich die Zinsen, so hätte dies kaum einen Effekt: Die Wirtschaftssubjekte halten hier Liquidität nicht wegen Renditeerwägungen vor, sondern wegen großer Unsicherheit und also aus Vorsicht. Dies ist just das Szenario der Jahre nach der Großen Finanzkrise.

Das Phänomen der Inflation/Deflation

Angenommen dieser Modellrahmen ist zutreffend, wie passt dann das Phänomen der Inflation/Deflation ins Bild? Ist es denn nicht die relative Höhe des Geldzinses und damit die Geldpolitik, die hier maßgeblich sind (so, wie es übrigens auch Wicksell selbst gesehen hatte)?

Nein, tatsächlich sind sie es nicht. Entgegen der vorherrschenden Meinung ist die Geldpolitik nicht die ausschlaggebende Instanz bei der Inflationssteuerung, sondern die Fiskalpolitik. Denn falls sich die Volkswirtschaft bereits nahe oder sogar auf dem Niveau der Vollbeschäftigung befindet (die Lage also eher dem Wicksell’schen denn dem Keynes’schen Modell entspricht), baut sich Inflationsdruck auf, sofern sich der Kapitalzins infolge einer stark gesteigerten Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals dauerhaft oberhalb des Geldzinses halten kann. Ist diese beständige Steigerung des Kapitalzinses das Ergebnis der Fiskalpolitik, ist diese damit der eigentliche Treiber der Inflation, sofern nahezu Vollbeschäftigung herrscht.

Liegt dagegen im Normalfall keine Vollbeschäftigung vor, folgt auch keinerlei Inflationsdruck aus dem Auseinanderfallen von Geld- und Kapitalzins: Der Anpassungsmechanismus läuft dann ganz im Keynes’schen Sinne über eine Produktionsausdehnung von Kapitalgütern und also Beschäftigungsaufbau statt (nur) über steigende Kapitalgüterpreise. Bemerkenswerterweise hat daher nicht zuletzt Fed-Präsident Jerome Powell selbst eingeräumt, dass das Verständnis des Zusammenhangs von Geldpolitik und Inflation ganz offenbar überarbeitungsbedürftig sei.[7]

Für Post-Keynesianer und Vertreter der Modern Monetary Theory ist das nun keine Besonderheit: Sie vertraten stets die Auffassung, dass Inflation ein realwirtschaftliches und kein monetäres Phänomen sei (dies nicht zuletzt wegen der Endogenität des Geldes, wonach es in einem Kreditgeldsystem kein ‚Zuviel‘ an Geld geben kann). Post-Keynesianer, die von Vollbeschäftigung als einem bestenfalls zufällig und nur vorübergehend zu erreichendem Zustand ausgehen, messen daher Inflationsgefahren auch vergleichsweise geringe Bedeutung zu: Eine durch den Staat gesteigerte effektive Nachfrage führt bei Unterauslastung der Kapazitäten und damit Unterbeschäftigung zum Beschäftigungsaufbau, nicht zu steigenden Preisen.

Wenn dies aber so ist, dann folgt daraus nur logisch, dass der Staat mit seinem Einfluss auf die effektive Nachfrage im Verhältnis zur Beschäftigungsreserve der entscheidende Parameter für die Inflationsentwicklung sein muss. Und tatsächlich liefern die Jahre nach der Großen Finanzkrise wie auch besonders die nach der Corona-Pandemie klare Anhaltspunkte dafür.

Nachdem infolge des Finanzkrachs von 2007/08 die Geldpolitik zu einer maximal expansiven Haltung übergegangen war, erwarteten Viele eine baldige Hyperinflation, da sich das viele Geld irgendwann seinen Weg an die Gütermärkte bahnen und dort zu Überhangnachfrage führen müsse. Passiert ist aber: nichts. Denn zugleich verfolgten viele Regierungen ‒ mindestens in den westlichen Industrienationen ‒ ausgerechnet im Angesicht einer der schlimmsten Rezessionen in den zurückliegenden Jahrzehnten eine rigorose Austeritätspolitik. Sie strichen die Staatsausgaben zusammen und trimmten die Haushaltsdefizite teilweise bis hin zu Überschüssen. In dieser ganzen Zeit bewegte sich die Inflation nicht nur nicht vom Fleck, sondern drohte oftmals sogar der Nulllinie und damit einer latenten Deflation gefährlich nahe zu kommen (ein Idealbeispiel für das Modell hinter Keynes‘ General Theory).

Ganz anders dagegen im Gefolge der Coronapandemie: Regierungen weltweit, insbesondere aber die in den G7-Staaten, pumpten Hunderte von Milliarden in ihre jeweiligen Volkswirtschaften, um sie vor dem Kollaps zu bewahren. Und es waren die USA unter zwei verschiedenfarbigen Regierungen, die dann in den Aufschwung hinein auch noch massive Ausgabenprogramme auflegten, kombiniert mit frei verfügbaren Schecks an alle Haushalte. So traf eine gewaltig ausgedehnte effektive Nachfrage auf ein ohnehin massiv gestörtes Angebot – mit der vorhersehbaren Folge einer sprunghaft anziehenden Inflation, vor der in der Folge auch einige Ökonomen wie beispielsweise Larry Summers gewarnt hatten.

Eine derartige Fallanalyse ist natürlich kein rigoroser ökonometrischer Beleg; den haben jedoch Andere bereits erbracht. Der Ökonom John Cochrane hat mit seiner „Fiscal Theory of the Price Level“ (2023) exakt die Erkenntnis systematisiert und wissenschaftlich ausgearbeitet, die hier beschrieben wird: In einer modernen Kredit-/Fiatgeldökonomie ist der Staat schon allein deshalb die dominante, exogen wirksame Kraft, weil er per Federstrich Geld schaffen und damit Nachfrage auf den Gütermärkten entfalten kann – er muss als einziger Akteur in der Wirtschaft nicht erst einnehmen, was er ausgibt.

Damit aber hat er zugleich einen dominanten Einfluss auf die Einkommenserwartungen der übrigen Wirtschaftsteilnehmer und damit auf die Liquiditätspräferenz ebenso wie auf die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals. Das heißt, beide Parameter werden durch den Staat entscheidend und zumal exogen beeinflusst.[8] Wie sich also die relevanten Zinssätze in einer modernen Volkswirtschaft individuell aber auch im Verhältnis zueinander entwickeln, ist eher eine Frage der jeweiligen Fiskal- denn der Geldpolitik ‒ und ersterer sollte folglich eine gesteigerte Aufmerksamkeit in puncto Inflationssteuerung gewidmet werden.

---------------------------------

[1] Vgl. Wray, Randall L. (1992): Alternative Theories of the Rate of Interest, in: Cambridge Journal of Economics, Vol. 16, No. 1, 69-89.
[2] Von Böhm-Bawerk, Eugen (1884): Kapital und Kapitalzins: Positive Theorie des Kapitales, Innsbruck: Verlag der Wagner’schen Universitätsbuchhandlung.
[3] Vgl. Tamborini, Roberto, Trautwein, Hans-Michael, Mazzocchi, Ronny (2009): The Two Triangles: What Did Wicksell and Keynes Know about Macroeconomics that Modern Economists do not (consider)?, in: University of Trento Department of Economics Discussion Papers, No. 6/2009.
[4] vgl. Zum Beispiel Borio, Claudio (2011): Central banking post-crisis: What compass for uncharted waters?, in: Bank for International Settlements (BIS) Working Papers No. 353, September; Fontana, Giuseppe (2007): Why money matters: Wicksell, Keynes, and the new consensus view on monetary policy, in: Journal of Post Keynesian Economics, Vol. 30, No. 1, 43-60; Tamborini et al., 2009
[5] Vgl. Tamborini et al., 2009; die Versöhnbarkeit der beiden Ansätze hatte zum Beispiel bereits 1992 L. Randall Wray erkannt, wenn er auch Wicksell merkwürdigerweise mit keinem Wort erwähnt.
[6] Vgl. zum Beispiel Bundesbank (2017): Zur Entwicklung des natürlichen Zinses, in: Monatsbericht, Oktober 2017, 29-44.
[7] Vgl. Europäische Zentralbank (2022): ECB Forum on Central Banking - Challenges for monetary policy in a rapidly changing world, Policy Panel.
[8] Vgl. Fontana 2007 und Tamborini et al., 2009.