Leben Untote länger?
Liebe Leserinnen und Leser,
der Titel dieses Spotlights ist eine Anspielung auf ein denkwürdiges Buch des bedeutenden us-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Philip Mirowski. Der bescheinigte 2015 in »Untote leben länger« dem Neoliberalismus – obwohl die Weltwirtschaft in der Finanzkrise an den Rand des Zusammenbruchs gebracht zu haben – stärker denn je zu sein. Und vor ihm konstatierte bereits der britische Politologe Colin Crouch 2011 das »befremdliche Überleben des Neoliberalismus«.
Sechs bzw. zehn Jahre später, vor dem beispiellosen Eindruck der Covid-19-Krise, in deren Zuge sich derzeit die geld- und wirtschaftspolitischen Ereignisse einmal mehr überschlagen, muss die Frage erneut gestellt werden: Erleben wir eine Zeitenwende, oder dürfen wir uns auf ein erneutes neoliberales Rollback gefasst machen? Darüber herrscht Dissens. Und so ist dieses Spotlight ein spannendes Pro & Contra widerstreitender Argumente für das Über- oder Ableben des Neoliberalismus.
An ein Rollback glauben Günther Grunert und Walter Tobergte. Schließlich wurde auch nach der globalen Finanzkrise und »Großen Rezession« 2008 in zahlreichen Veröffentlichungen, Interviews und Diskussionen das Ende des Neoliberalismus prognostiziert. Wie jetzt auch im Lockdown hatten die Staaten durch ihr aktives Eingreifen in die Krise auf den Finanzmärkten die Weltwirtschaft vor einer Depression bewahrt.
Doch die in der Folge steigende Staatsverschuldung wurde schon bald in eine Staatsschuldenkrise umgedeutet und auf verschwenderische Staatsausgaben zurückgeführt. Eine strenge Austeritätspolitik galt als unausweichlich. Flankiert wurde diese durch »Strukturreformen« – darunter Lohnsenkungen und eine weitere Flexibilisierung der Arbeitsmärkte – um die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu steigern.
»Warum sollte das diesmal anders sein? Warum sollten die Chancen auf eine Abkehr vom neoliberalen Modell jetzt besser stehen?«, fragen Grunert und Tobergte nicht zu Unrecht.
Allein die veränderten Spielregeln in der Eurozone deuten schon auf eine Zeitenwende hin, glauben hingegen Dirk Ehnts und Michael Paetz. Am 20. März 2020 verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts mit seiner starren 3%-Defizit-Regel, indem sie die allgemeine Ausweichklausel aktivierte und damit den Weg für nationale Ausgabenpläne ebnete. Heißt, die Euroländer können, anders als damals, »so viel Liquidität wie nötig« in die Wirtschaft pumpen. In Kombination mit den Maßnahmen, die die EZB nach dem Ausbruch von COVID-19 ergreift, habe das die Mitgliedsstaaten auf ihren Status als souveräne Währungsemittenten zurückgehoben, folgern die beiden. Mit anderen Worten, die neoliberalen Ketten der fiskalischen Einschränkungen durch die Eurozone seien gesprengt.
Nur für den »Moment«, relativiert Thomas Fazi. Tatsache sei, dass die institutionelle Ausgestaltung des Euro weiterhin die Fähigkeit der Nationalstaaten einschränkt, Staatsausgaben zu tätigen. Aus gutem Grund erwarten die Euroländer, dass die Unterstützung durch die EZB irgendwann gedrosselt und die Regeln für eine »solide Fiskalpolitik« wieder in Geltung gesetzt werden, so Fazi.
Sebastian Müller und Lee Jones sind sich darin einig, dass die über zwei Jahrzehnte unangreifbar scheinende neoliberale Ordnung bereits mit der globalen Finanzkrise von 2008 langsam zu bröckeln begann: »Der Neoliberalismus kehrte [damals] zwar zurück, allerdings mit offenen Wunden. Er siegte, aber es war ein Pyrrhussieg«, konstatiert Müller. Dass der Neoliberalismus – anders als Mirowski behauptet – eben nicht stärker denn je, vielmehr durch Krise und Stagnation das seit dem Wirtschaftswunder inhärente Vertrauen in die Kräfte des Wettbewerbs erschüttert ist.
Das zeigten nicht nur die astronomischen Konjunkturpakete der Staaten, sondern auch das stille Umdenken in der Realpolitik hinsichtlich der Infrastruktur. Nicht erst seit der Corona-Krise kommt es zur Teilverstaatlichung von Unternehmen wie der Lufthansa. Die Verheißungen, die die Privatisierung von Bundesbetrieben geweckt hatte, ist Ernüchterung gewichen. Auch Gemeinden und Kreise vollziehen eine Kehrtwende. Kliniken, Wasserwerke oder die Müllentsorgung kehren in staatliche Obhut zurück. Der Spiegel konstatierte jüngst: »Die Sehnsucht nach dem starken, schützenden Staat wächst.«
Doch braucht einen »starken Staat« nicht auch der autoritäre Liberalismus, fragt Paul Steinhardt. Und wurde nicht argumentiert, dass der Liberalismus dem Staat sehr viele Ketten angelegt hat? In der Not dürfe der Staat auch im Dienste des (Neo)Liberalismus seine Machtressourcen energisch zum Einsatz bringen. Denn, so erkannte schon Carl Schmitt: »Nur ein starker Staat kann entpolitisieren, nur ein starker Staat kann offen und wirksam anordnen [...].« Der Begriff des Liberalismus ist auch für Friedrich A. von Hayek durchaus mit dem des Autoritarismus vereinbar. Denn beim Liberalismus gehe »es um das Ausmaß der Regierungsgewalt, bei der Demokratie darum, wer diese Gewalt ausübt.«
Hier wären wir für Steinhardt am neuralgischen Punkt, den auch Fazi anspricht: Dass der autoritäre Liberalismus tatsächlich einen Referenten hat, bewiesen eindrucksvoll die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der Europäische Gerichtshof. Der EuGH kann von Parlamenten beschlossene Gesetze für nichtig erklären. Und wie man am Beispiel Griechenlands eindrucksvoll demonstrierte, kann die gleiche EZB, die just von Ehnts und Paetz für ihre Staatsfinanzierung gelobt wird, sogar den Abgeordneten gewählter Parlamente die Verabschiedung von Gesetzen diktieren. Eine Garantie für einen bleibenden Richtungswechsel der EZB gäbe es also nicht.
Mit anderen Worten, die technokratisch-neoliberale Verrechtlichung der EU erzwinge die Rückkehr der Austerität geradezu. Und das daraus resultierende Wirtschaftsdesaster würde die autoritären Tendenzen verstärken, ist sich Steinhart sicher. Darauf müssten sich alle Kritiker des Neoliberalismus einstellen, anstatt dem Traum einer postneoliberalen Utopie nachzuhängen.