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Markt oder Kapitalismus?

| 18. November 2021
istock.com/Alexander Farnsworth

Liebe +Leserinnen und +Leser,

welche Rolle kann, darf und muss der Staat in der Wirtschaft einnehmen? Kann der Kapitalismus überhaupt ohne die Intervention des Staates funktionieren? Die Frage nach dem Staatsinterventionismus und den Funktionsbedingungen des Marktes ist so alt wie die moderne Ökonomik selbst. Doch sie ist und bleibt Dauerthema und ein immerwährender Streitpunkt zwischen neo-, ordoliberalen und keynesianischen Ökonomen: Stiftet der Staat mehr Schaden oder Nutzen, wenn er korrigierend in den Markt einzugreifen versucht?

Dass es sich hierbei um eine rhetorische Frage handelt, wird deutlich, wenn man bereit ist, den ideologischen Ballast abzuwerfen, der mit ihr verbunden ist. So schwer wie die Anwürfe gegen das „Biest“ Staat von der herrschenden Ökonomik sind, so zahlreich sind auch die Facetten, die als Katalysatoren der Debatte dienen. Eine davon steht im Zentrum dieses Spotlights: die Goldene Lohnregel. Heißt: eine Nominallohnentwicklung, die der Produktivitätsentwicklung plus der Zinsinflationsrate entspricht.

Es gibt Stimmen, die meinen, allein die Einhaltung der Goldenen Lohnregel würde reichen, um auf fiskalpolitische Eingriffe des Staates, also auch auf Haushaltsdefizite und Staatsschulden verzichten zu können. Mit anderen Worten, ein paar ordoliberale Regeln hier und da, und fertig sei die funktionierende Marktwirtschaft.

Paul Steinhardt zeigt, dass es sich um eine Behauptung handelt, die sich aus den Axiomen der neoklassischen Ökonomik ableiten lässt. Angenommen wird dabei, dass der Preis für Arbeit – wie der Preis eines jeden anderen Gutes – über Angebot- und Nachfragerelationen, und damit seine „Knappheit“, bestimmt wird. Notwendig dafür sei allein, dass Arbeitsmärkte flexibel sind, Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände keine Preissetzungsmacht besitzen und Sozial- und Steuersysteme keine Fehlanreize setzen. Es ist das Modell eines kleinen Bullerbüs des Marktes.

Doch ein Blick auf die kapitalistische Realität und ihrer Bedingungen zeigt, dass die „richtige Lohnpolitik“ keinesfalls hinreichend ist, um den Kapitalismus makroökonomisch zu stabilisieren. Mehr noch: Ohne Fiskalpolitik würde der Kapitalismus zusammenbrechen. Eine kapitalistische Wirtschaftsordnung benötigt notwendig Haushaltsdefizite.

Noch deutlicher wird Günther Grunert: Eine antizyklische Haushaltspolitik reicht nicht aus, um eine Stagnation der Wirtschaft zu vermeiden; in der Regel bedarf es sogar eines permanenten Anstiegs der Staatsausgaben. Eine Aussage, die bei den bundesrepublikanischen Schuldenphobikern eine Hysterie auslösen dürfte. Doch blickt man auf die Entwicklung der Staatsschuldenquote in den Industrienationen, dann entpuppt sich das haushaltspolitische Sakrileg schnell als banale Normalität.

Der US-amerikanische Ökonom Abba P. Lerner hatte daraus schon vor fast 80 Jahren seine Schlüsse gezogen: Anstatt sich auf die Einhaltung sinnloser Defizit- und Schuldengrenzen zu fokussieren, verlange eine „funktionale Fiskalpolitik“, dass der Staat seine Fähigkeit der Geldschöpfung so einsetzt, dass Vollbeschäftigung erreicht und gleichzeitig so begrenzt wird, dass unerwünscht hohe Inflationsraten vermieden werden.

Diese Interpretation des fiskalisch intervenierenden Staates widerspricht auch diametral der neoklassischen Theorie der „loanable funds“ (ausleihbaren Geldmittel). Demnach gibt es in einer Volkswirtschaft einen begrenzten Pool an Ersparnissen, um welche die verschiedenen Kreditnehmer konkurrieren. Nimmt der Staat Kredite auf, konkurriert er demnach um die Ersparnisse der Privatwirtschaft und hemme somit deren Investitionsbereitschaft. Doch es ist umgekehrt: Die Investoren – und nicht die Sparer – bestimmen den Lauf der Dinge.

Die Theorie der „loanable funds“ bildet aber auch die Basis der Ausführungen des Memorandum-Ökonomen Rudolf Hickel, der ein Phänomen des „Übersparens“ ausmacht. Hickel geht davon aus, dass Finanzierungsüberschüsse der volkswirtschaftlichen Sektoren als auch des Staates abgeschöpft werden können. Dem widerspricht Grunert: Der entscheidende Punkt ist, der Staat kann keinen Budgetüberschuss für die Zukunft „aufsparen“. Es existiert kein „Spartopf“, in den Haushaltsüberschüsse gesteckt werden, um sie dann später zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben zu nutzen. Mit anderen Worten: Am Staatsdefizit führt kein Weg vorbei.

Am Ende kulminiert all dies in einem nüchternen Fazit: Von der Vorstellung einer Marktwirtschaft als eines sich selbststeuernden Mechanismus der effizienten Allokation von Ressourcen können wir uns verabschieden. Die Marktwirtschaft ist ein theoretisches Konstrukt, das in der Realität nicht realisierbar ist. Willkommen im Kapitalismus.