Debatte

Liberale versus Soziale Demokratie

| 09. Juni 2023
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Der Sozialstaat ist in der Defensive, das Konzept einer „Sozialen Demokratie“, welches die soziale Gleichheit in ihren Mittelpunkt stellt, weitgehend in Vergessenheit geraten. So wird von „Demokratie“ und ihrer Verteidigung unablässig geredet, obwohl wir längst in einer Fassadendemokratie leben.  

„Die ökonomische Vernunft der Solidarität. Perspektiven einer demokratischen Sozialpolitik“, so heißt das aktuelle Buch von Hartmut Reiners, das jüngst in der Edition Makroskop veröffentlicht wurde. Mit diesem Titel werden gesellschaftliche Zusammenhänge behauptet, die Anlass zu kritischen Nachfragen nach folgenden Muster geben könnten: Was hat eine gefühlige „Solidarität“ mit einer kühlen „ökonomischen Vernunft“ zu tun? Ist Sozialpolitik nicht ein Element der „sozialen Marktwirtschaft“, das sogar mit der für „Demokratie“ charakteristischen Selbstbestimmung in einem gewissen Spannungsverhältnis steht?

Aus der Lektüre von Reiners Buch lernt man, dass derartige Fragen ein Bild des Sozialstaates zeichnen, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Dieses Bild aber ist unter politischen und medialen Eliten weit verbreitet und daher politisch äußerst wirkmächtig.

Die einschlägigen Sozialstaatsfiktionen leiten „Reformen“ des Sozialstaats an ‒ wie etwa die „Aktienrente“ – und rechtfertigen sie als alternativlos. Wie Reiners ausführlich darlegt, ist die Privatisierung des Sozialstaats (wo überhaupt möglich) nicht nur hochgradig ökonomisch unvernünftig, sondern untergraben solche Versuche auch die Demokratie.

Hartmut Reiners liefert viele überzeugende Erklärungen für die Realitätsverweigerung der politischen und medialen Eliten. Sie lassen sich mit Hermanns Hellers Konzept der „Sozialen Demokratie“ etwas erweitern.

Demokratie und soziale Homogenität

Hellers Schriften kann man entnehmen, dass die Verleugnung sozialer Tatsachen kein neuartiges Phänomen ist. Eine dieser Tatsachen ist für Heller die folgende: „Die nationale ohne die soziale Volksgemeinschaft ist nicht zu haben.“

Diese These Hellers als eine Tatsache hinzustellen, dürften viele als Unverschämtheit werten. Denn der Begriff der „Volksgemeinschaft“, so liest man bei Wikipedia, sei ein „Zentralbegriff des nationalsozialistischen Denkens“.  

Zu Recht wird allerdings auch darauf hingewiesen, dass „nach dem ersten Weltkrieg fast alle deutschen Parteien“ den Begriff der „Volksgemeinschaft“ verwendeten. Es handelt sich dabei um ein Konzept aus der „politischen Ideenwelt des 19. und 20. Jahrhunderts“. Das Ideal sei eine „weitgehend konfliktfreie, harmonischen Gesellschaftsordnung, die Klassenschranken und Klassenkampf hinter sich gelassen hatte.“

Soll man nun die Menschen dieser Zeit, ob ihrer politischen Hoffnungen beneiden oder sie ob ihrer politischen Naivität schelten? Hermann Heller war Sozialist und wollte sicherlich die Klassenherrschaft überwinden. Er war aber nicht naiv. Weder glaubte er an eine Gesellschaft, die es Menschen erlaubte, „heute dies, morgen jenes zu tun“, noch daran, dass die „Bewegungsgesetze“ des Kapitalismus automatisch zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel führen. Heller hielt das noch nicht einmal für ein erstrebenswertes Ziel, weil er befürchtete, dass eine staatliche Planwirtschaft unweigerlich zum Despotismus führe.

Heller stand fest auf dem Boden der Wirklichkeit und daher ging es ihm primär darum, den Kapitalismus politisch einzuhegen, was er wie folgt formulierte:

„Die politische Funktion [muß] die Auswirkung der ökonomischen Funktion mit unbedingter Notwendigkeit hemmen und ablenken […]“

Er sah den demokratischen Staat also in der Verantwortung, für eine gewisse „soziale Homogenität“ zu sorgen. Große Einkommens- und Vermögensunterschiede waren für ihn unvereinbar mit der „Volkssouveränität“.

Auch dieser Begriff mag nach der „Ideenwelt des 19. und 20. Jahrhunderts“ klingen. Dennoch heißt es in Artikel 20(2): „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Es ist jedoch kein Zufall, dass dieser Begriff kaum noch Verwendung findet. Über „Demokratie“ wird vornehmlich mit Verwendung des Adjektivs „liberal“ geredet.

Die liberale Demokratie

Die „liberale Demokratie“ stehe, so heißt es im Vorwort einer Studie der Heinrich Böll Stiftung zur Demokratiesicherung, für eine „plurale, durch kritische Gegenöffentlichkeit und garantierte Minderheitenrechte geprägte Gesellschaftsordnung“. Auf der anderen politischen Seite stünden die „Populisten“, die den Begriff der „Demokratie“ umdeuteten und darunter „die Herrschaft der Mehrheit verstehen“ und einem „starken, autoritären Staat“ das Wort redeten. Sie stünden daher für „einen Staatsumbau, der die Unabhängigkeit von Verfassungsgerichtsbarkeit, Justiz und Medien beschränken soll“.

Doch wenn nicht die Mehrheit, wer dann soll über strittige politische Maßnahmen entscheiden? Wenn politische Entscheidungen nicht auf bestimmten gesellschaftspolitischen Idealen beruhen dürfen, worauf dann? Der Staat darf sich nach Lesart der Böll-Stiftung auf keinen Fall als normative Instanz gerieren.

Das Ideal der liberalen Demokraten, so schreibt der französische Sozialphilosoph Jean-Claude Michéa, sei ein Verzicht auf die „Regierung von Menschen“:

„Um eine berühmte Differenzierung Saint-Simons aufzugreifen, stellt er lediglich eine ‚Verwaltung von Dingen‘ dar und verlangt eher die einfache Zuständigkeit eines ‚Experten‘ oder umsichtigen Geschäftsführers als aufrichtige politische Überzeugungen.“

Für liberale Demokraten ist ein technokratischer Regierungsstil also kein Problem, sondern vielmehr ein Segen. Auf Basis „unveräußerbarer Menschenrechte“ ist es sogar geboten, dass politisch „unabhängige“ Organisationen, wie etwa Verfassungsgerichten oder Zentralbanken, als Schutzwall gegen die „Tyrannei der Mehrheit“ agieren.

Muss, wer „Demokratie“ sagt, aber nicht auch notwendig „Gemeinwohl“ sagen? Wenn ja, braucht es dann nicht so etwas wie einen „Volkswillen“, der die Handlungen eines Staat als Repräsentant seines „Volkes“ anleitet? Auch solche Fragen werden von überzeugten Proponenten der „liberalen Demokratie“, wie etwa von dem Politologen Jan-Werner Müller, als typisch „populistisch“ zurückgewiesen:

„In der Demokratie darf prinzipiell jeder für sich reklamieren, eine bestimmte Gruppe zu repräsentieren (beispielsweise indem er eine Partei gründet), dafür muss sich aber auch jeder dem einzigen ‚Volksurteil‘ beugen, das sich wirklich empirisch nachweisen lässt: dem Wahlausgang.“

Man mag mit Jan-Werner Müller übereinstimmen, dass Wahlen das geeignete Verfahren darstellen, um darüber zu entscheiden, wer die Interessen eines Volkes repräsentieren soll. Dennoch kann man trefflich darüber streiten, ob bestimmte von einer parlamentarischen Mehrheit verabschiedeten Gesetze tatsächlich im Interesse des „Volkes“ sind oder eher der Durchsetzung von Partikularinteressen dient.

Dazu bringt Günther Nonnenmacher in der FAZ Julian Nida-Rümelins „demokratische Intuition“ ins Spiel:

„Im Konfliktfall muss die Wohlfahrt hinter den Rechten der Einzelnen zurückstehen, was zur Forderung nach einer Rechtsordnung führt, die Kollektiventscheidungen zum Schutz von Minderheiten- und Individualrechten einschränkt.“

Nonnenmacher bezieht sich auf Julian Nida-Rümelins Definition der Demokratie als „Konsens höherer Ordnung“, den er wie folgt bestimmt:

„Der normative Grundkonsens der Demokratie hat seinen Ursprung in der wechselseitigen Anerkennung als Freie und Gleiche. [...] Gleichheit bedeutet allerdings keineswegs Gleichverteilung. Gerechtigkeit ist die oberste politische Tugend, sie beruht in der Demokratie auf gleicher Freiheit, ist aber mit Ungleichheiten des Einkommens und Vermögens vereinbar.“

Die Bürger sind nach Meinung Nida-Rümelins in erster Linie als Rechtssubjekte, aber nicht als Wirtschaftssubjekte gleichgestellt. Der politische modus operandi der liberalen Demokratie sei die gleichberechtigte Teilnahme am politischen „Diskurs“ und ein sich daran anschließender „Konsens“.

Offen bleibt, wie ein solcher Konsens erzielt werden soll, wenn die Mehrzahl der Bürger gar nicht über das Wissen verfügt, um an einen solchen Diskurs teilzunehmen. Demokratische Entscheidungen, so Jürgen Habermas, bezögen im postnationalen Zeitalter „ihre legitimierende Kraft nicht mehr nur, nicht einmal in erster Linie, aus Partizipation und Willensäußerung, sondern aus der allgemeinen Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses, dessen Beschaffenheit die Erwartung auf rational akzeptable Ergebnisse begünstigt“.

Diese Aussage lässt sich als Plädoyer dafür lesen, inhaltlich voraussetzungsreiche politische Entscheidungen bei Expertengremien anzusiedeln, etwa bei Zentralbanken oder Verfassungsgerichten. Dagegen wendet der Politologe Dirk Jörke ein:  

„[Es] wird […] die Rolle von Macht und Interessen verdeckt, denen sich auch die Experten nicht entziehen können. Nicht zuletzt wird insofern einem unpolitischen Verständnis von Regieren das Wort geredet, als von optimalen Problemlösungen ausgegangen wird. Dem liegt jedoch ein entweder unterkomplexes oder schlichtweg ideologisches Verständnis von Politik zugrunde.“

Fritz Scharpf nennt zwei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Entscheidungen solcher Expertengremien als demokratisch legitimiert gelten können: Erstens müsse ein „Konsens über erwünschte und unerwünschte Ergebnisse“ der Handlungen und zweitens eine „subsidiäre Interventionskompetenz einer vom Wähler majoritär legitimierten Legislative“ bestehen.

Ein solcher gesamtgesellschaftlicher Konsens setze aber, so meint der Philosoph Alsdair MacIntyre, ein geteiltes Gerechtigkeitskonzept der Mitglieder einer politischen Gemeinschaft voraus. Eine solche normative Basis aber gebe es in kapitalistisch organisierten Gesellschaften nicht, weshalb dort ein permanenter Bürgerkrieg herrsche.

Hermann Heller betont, dass es in kapitalistischen Gesellschaften keine „soziale Homogenität“ gebe könne, „welche jede Verschiedenheit der Gerechtigkeitsprinzipien und Rechtsgrundsätze ausschlösse.“ Daraus folgt für ihn jedoch keineswegs, dass „Demokratie“ unter kapitalistischen Bedingungen unmöglich sei.

Es sei richtig, dass moderne Gesellschaften sich durch ein „in Zielen oder Mitteln dissentierende Vielheit im Volke“ auszeichneten, wo der „einzelne vielen gegenübersteht, die fördernd oder hemmend sein Verhalten beeinflussen“. Es handele sich demnach nicht um Gemeinschaften wie eine Familie oder ein Dorf. Der mangelnde Gemeinsinn unter Menschen in modernen Gesellschaften sei der Grund für die Existenz von Staaten, die er eine mit „Zwangsgewalt ausgestatte Autorität“ charakterisiert.

Die soziale Demokratie

Die Funktion des Staates besteht nach Heller „in der selbständigen Organisation und Aktivierung des gebietsgesellschaftlichen Zusammenwirkens, begründet in der geschichtlichen Notwendigkeit eines gemeinsamen status vivendi für alle Interessengegensätze auf einem sie sie alle umgreifenden Erdgebiet (…).“

Hermann Heller redet damit zweifellos einem „starken“ Staat das Wort. Das scheint ihn mit Carl Schmitt zu verbinden, der gerne als Kronjurist Hitlers bezeichnet wird. Gerade mit Blick auf das Verhältnis von Politik und Wirtschaft lässt sich aber zeigen, dass sich Hellers und Schmitts Staatsverständnis fundamental unterscheiden.

Schmitt sah die Aufgabe des Staates darin, die „freie Wirtschaft“ vor „unsachlichen“ Übergriffen aus anderen gesellschaftlichen Sphären zu schützen. Nur so könne die schädliche „Verwirrung von Staat und Wirtschaft“ beendet und in Zukunft vermieden werden.

Schmitts „starker Staat“ brauche tatsächlich die „freie Wirtschaft“, erwidert Heller. Denn in liberalen Rechtsstaaten könne das „juristisch-politisch gleichgestellte Proletariat dem Bürgertum wirtschaftlich gefährlich“ werden. Diese „Gefahr“ ergebe sich aus dem allgemeinen Wahlrecht, das es den „wirtschaftlich Schwachen […] mittels der Gesetzgebung, erlaube, den wirtschaftlich Starken zu fesseln“.

Hermann Heller konzediert, dass die Wirtschaft auch durch Eigengesetzlichkeiten reguliert wird. Daraus aber eine strikte Trennung aus Politik und Wirtschaft ableiten zu wollen, sei unzulässig:

„Die Notwendigkeit einer außerökonomischen Wirtschaftsregulierung durch den Staat ergibt sich einmal aus der Notwendigkeit einer wesensmäßig auf ein bestimmtes Gebiet bezogenen, allgemeinen Staatsordnung. Das Wirtschaften selbst muss als ein Politikum erkannt werden.“

Den Wirtschaftsliberalen wirft er vor, sich ein System der Wirtschaft zu imaginieren, „das es selbstverständlich nie gegeben“ habe und das es auch „nie geben kann“. Es gebe „keinen freien Tauschmarkt, keine freie Konkurrenz, keine freie Selbstverantwortung und Selbstbestimmung“ im Kapitalismus. Es sei sogar so, dass viele Güter, deren Menschen in modernen Gesellschaften bedürfen, nicht direkt über den Markt, sondern mithilfe des Staates bereitgestellt werden müssten:

„Seine Finanzierung […] erfolgt eben nicht auf Grund wirtschaftlicher, sondern auf Grund politischer Macht. Jene muß dem Prinzip des do ut des, dem Tauschprinzip folgen, der Staat kann und muß mit seinen Steuern, Zöllen usw. einseitige Leistungen erzwingen. Daß die Staatswirtschaft nicht allein und meist nicht einmal ausschlaggebend optimale Rentabilität bezweckt, zeigt jedes Staatsbudget.“

Hartmut Reiners belegt am Beispiel des deutschen Sozialsystems, wie Recht Heller hat. Bei Heller finden sich keine detaillierten Ausführungen zu einer „demokratischen Sozialpolitik“ im engeren Sinne. Er verweist aber auf Eduard Heimann, dessen Grundgedanken zur Sozialpolitik von Reiners in seinem Buch wie folgt zitiert werden:

„Sozialpolitik sichert die kapitalistische Produktion vor den von der sozialen Bewegung drohenden Gefahren, indem sie der sozialen Forderung nachgibt; sie baut den Kapitalismus stückweise ab und rettet dadurch seinen jeweils verbleibenden Rest; […]“

Ein funktionsfähiges Sozialsystem in diesem Sinne ist für Sozialisten, wie Reiners schreibt, ein „trojanisches Pferd“. Stabilisiert sie doch eine Wirtschaftsordnung, die mit gewinnorientierten Unternehmen und mit Lohnarbeit die Volkssouveränität untergräbt. Wer sich aber dem Konzept der Sozialen Demokratie verpflichtet fühlt, wird auf Basis einer realistischen politischen Lagebeurteilung die Institutionen unseres Sozialstaatssystems mit Zähnen und Klauen verteidigen.

Keineswegs lässt sich Hellers Konzept der Sozialen Demokratie auf allgemeine Wahlen plus Sozialstaat reduzieren. Es steht vielmehr dafür, den „materiellen Rechtsstaatsgedanken“ auf „die Arbeits- und Güterordnung“ auszudehnen. Anders gesagt, die juristische-formale Gleichheit muss um eine wirtschaftlich-materielle Gleichheit ergänzt werden.

Den Unterschied zwischen dem Konzept einer liberalen und dem einer sozialen Demokratie bestimmt Heller daran anschließend wie folgt:

"Während für die liberale Demokratie das Wirtschaftssubjekt außer Betracht und Organisation bleibt, legt die Wirklichkeitswendung der sozialen Demokratie gerade auf die gerechte Organisation der sozial-ökonomischen Beziehungen den größten Nachdruck."

Wie eine solche gerechte ökonomische Ordnung genau auszusehen hat, sagt Heller nicht im Detail. Zweifelhaft ist, ob Heller eine allgemeine Akzeptanz beanspruchende Gerechtigkeitstheorie, wie sie prominent etwa von John Rawls vorgelegt wurde, überhaupt für ein sinnvolles Projekt erachtet hätte. Heller wäre wohl mit Wolfgang Streeck einig gegangen, dass eine gerechte ökonomische Ordnung ein „soziales Institutionensystem im Kapitalismus“ erfordert, „das plebejischen Interessen eine Chance eröffnet, sich durch Mobilisierung von politischen Mehrheiten Geltung zu verschaffen.“

Wie eine „gerechte Organisation der sozial-ökonomischen Beziehungen“ aussieht, lässt sich also nicht im Elfenbeinturm bestimmen, sondern ist vielmehr das Ergebnis demokratisch organisierter politischer Prozesse. Daraus folgt nicht, dass das Konzept der Sozialen Demokratie ohne eine Gerechtigkeitsidee auskommt. Ihr Kern lässt sich mit dem Begriff der „sozialen Gleichheit“ auf den Punkt bringen, den Christoph Lorke ganz in Hellers Sinne umreißt:

„Soziale Gleichheit“ […] beschreibt […] ein Verteilungsprinzip materieller wie immaterieller Güter. Dabei wird Gesellschaft als Kooperations- und Interdependenzgemeinschaft begriffen, wobei die Absicht der Herstellung sozialer Gleichheit auf eine Ordnung zielt, in der alle Menschen ungeachtet ihrer individuellen Eigenschaften und Unterschiede die gleiche Freiheit zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit haben.“

Soziale Gleichheit in diesem Sinne ist aber undenkbar, ohne dass es gesellschaftliche und politische Institutionen gibt, die das Primat der Politik über den Kapitalismus sichern. Heller nennt eine Reihe solcher Institutionen: (1) den Nationalstaat, (2) die parlamentarische Demokratie, (3) eine starke Arbeiterpartei, (4) freie und starke Gewerkschaften, (5) eine Daseinsfürsorge durch öffentlich-rechtliche Betriebe, (6) die paritätische Mitbestimmung und (7) genossenschaftlich organisierte Unternehmen.

Hellers Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft waren sehr stark von Johann Gottlieb Fichtes „Der geschloßene Handelsstaat“ beeinflusst. Fichte kommt das Verdienst zu, bereits im 18.Jahrhundert erkannt zu haben, dass das, was man heute „Globalisierung“ nennt, für die Volkssouveränität ein großes Problem darstellt.

Heller wusste aber, dass die die von Fichte vorgeschlagenen Lösung einer weitgehenden wirtschaftlichen Autarkie völlig an der gesellschaftlichen und ökonomischen Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts vorbei ging. Allerdings sprach er sich für ein Außenhandelsmonopol des Staates aus. Heller tut man daher sicher nicht Unrecht, wenn man ihn einen (8) progressiven Protektionismus fordern lässt.

Bei Fichte findet sich auch ein erstaunliches Plädoyer für die (9) Geld-und Währungshoheit als unabdingbare Institution zur Sicherung des Primats der Politik über die Wirtschaft. Versuche, Geld als Wertrepräsentanten zu interpretieren, wies er zurück:

„Geld ist an und für sich selbst gar nichts; nur durch den Willen des Staates repräsentirt es etwas.“

Zur Rückgewinnung ökonomischer Steuerungskompetenzen des Staat empfahl er die „Abschaffung des Welt- und die Einführung eines Landes-Geldes“, das allein die Bürger zur Begleichung von Geldschulden verwenden dürften. Dadurch erlange der Staat „eine beträchtliche und überwiegende Geldmacht“, die er dazu nutzen könne, „der Nation ihren Antheil an allem Guten und Schönen […] kräftig zuzueignen.“

Wer für eine „Soziale Demokratie“ eintritt, sollte die Realisierung von (1) – (9) verlangen. Ein entsprechendes politische Programm haben wir auf der Startseite von MAKROSKOP formuliert. Unser Themenheft zur Bundestagwahl mit dem Titel „Wahlprogramm sucht Partei“ ist Ausdruck der Tatsache, dass die „Soziale Demokratie“ gegenwärtig leider nicht auf der politischen Tagesordnung steht.

Warum dann aber überhaupt das Konzept der Sozialen Demokratie propagieren? Um Milton Friedman einmal zustimmend zu zitieren: um „Ideen am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidlich wird“.