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Soziale Demokratie und Sozialstaat

| 09. Juni 2023
istock.com/alphaspirit

Liebe Leserinnen und Leser,

was verbinden Sie mit Demokratie? Freiheit, Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, individuelle Rechte und Minderheitenschutz? Sicher! Denn Liberalismus und Demokratie werden heute fälschlicherweise gleichgesetzt. Seit der Jahrtausendwende ist wie selbstverständlich nur noch von unserer „liberalen Demokratie“ die Rede, oder unserer „liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung“.

Ein anderes Demokratiekonzept hingegen, das der Sozialen Demokratie, welches die soziale Gleichheit in ihren Mittelpunkt stellt, ist in der gleichen Zeit zunehmend in den Hintergrund getreten. Für die Soziale Demokratie essenzielle Fragen des Gemeinwohls, die mehr sind als die Summe der Einzelinteressen und auch höher als diese gewichtet werden, scheinen mit einer „marktkonformen Demokratie“ (Angela Merkel) unvereinbar zu sein.

Und so ist auch der mit der Sozialen Demokratie eng verbundene Sozialstaat seit den 1980er Jahren, spätestens aber mit der Agenda 2010 vom rauen Wind der „Eigenverantwortung“ erfasst und erschüttert worden. Auf das Ende des Bretton-Woods-Systems und mit der Liberalisierung der Kapitalmärkte folgten zudem die massiven Standort-Deutschland-Kampagnen: Wolle man nicht gravierende Wohlstandsverluste riskieren, müsse man sich dem globalen Wettbewerb stellen, so die fast einhellige Überzeugung von rechts bis links.

Für Fragen der Sozialstaatlichkeit, sofern sie sich nicht mit ihrem bloßen Rückbau beschäftigten, blieb in den letzten Dekaden wenig Platz. Das einstige Credo, das Güter, deren Menschen in modernen Gesellschaften bedürfen, nicht direkt über den Markt, sondern mithilfe des Staates bereitgestellt werden müssten, wurde in sein Gegenteil verkehrt – Stichwort kapitalgedeckte Rente oder Privatisierung der Daseinsvorsorge. Sozialpolitik wird auf Sozialabgaben als betriebswirtschaftlicher Kostenfaktor reduziert. Die Besonderheiten der sozialen Sicherungssysteme werden als fatale Abweichungen von marktwirtschaftlichen Regeln interpretiert.

Der Gesundheitsökonom Hartmut Reiners hingegen zeigt, wie die mit der Agenda 2010 in den Sozialstaat implantierten marktanalogen Mechanismen zu schweren Verwerfungen geführt haben. Da Wirtschaftsliberale eine Trennung von „Politik“ und „Wirtschaft“ imaginieren, die es nie gegeben hat, wird dieser Sachverhalt im sozialpolitischen Diskurs aber nicht als ökonomisches Problem diskutiert, sondern als Frage der sozialen Gerechtigkeit. Reiners dagegen weiß um die ökonomischen Parameter sozialer und gesundheitlicher Dienste, die sich zu einer großen Sozialökonomie entwickelt haben, eines Wirtschaftszweiges mit mehr als acht Millionen Beschäftigten. 

Diese Blindheit für „Die ökonomische Vernunft der Solidarität“ – so der Titel und zugleich die Erkenntnis von Hartmut Reiners jüngsten, in der Edition MAKROSKOP erschienenen Buches ‒ hat Ursachen, die in der eingangs angerissenen Transformation des Demokratie-Begriffs begründet liegen, die den einstigen Staatsbürger mehr und mehr zum globalen Konsumenten degradiert.