Brüsseler Spitzen

Vernichtungswettlauf: Wer, wen, wann?

| 05. Juli 2022

So schrecklich er für das ukrainische Volk ist, der Krieg in der Ukraine ist nicht mehr als ein Nebenschauplatz in einem viel größeren Drama: dem sich anbahnenden Kampf zwischen einem untergehenden und einem aufstrebenden globalen Möchtegern-Hegemon.

Im Jahr 2021, dem Jahr vor dem Einmarsch in die Ukraine, gab Russland umgerechnet 65,9 Milliarden Dollar (auf dem Stand von 2020) für seine Streitkräfte aus, was 4,1 Prozent seines Sozialprodukts entspricht. Deutschland, dessen Bevölkerung etwas mehr als halb so groß ist wie die Russlands, gab 56,0 Milliarden aus, oder 1,3 Prozent seines Sozialprodukts. Die entsprechenden Zahlen lauten 68,4 Milliarden (2,2 Prozent) für das Vereinigte Königreich, 56,6 Milliarden (1,9 Prozent) für Frankreich und 32,0 Milliarden (1,5 Prozent) für Italien. Zusammengenommen übertrafen die vier größten EU-Mitgliedstaaten die Ausgaben Russlands um mehr als das Dreifache. Die Militärausgaben der Vereinigten Staaten, die 38 Prozent des weltweiten Gesamtvolumens ausmachen, übertrafen die russischen Ausgaben um das Zwölffache, und zusammen mit den vier großen europäischen NATO-Ländern um das Fünfzehnfache (Daten gemäß einem SIPRI Fact Sheet vom April 2022).

Quelle: SIPRI Military Expenditure Database (letzter Zugriff: 4. Juli 2022)

Zahlen über Militärausgaben sind weniger zuverlässig als zum Beispiel über Durchschnittstemperaturen. Aber wenn die Daten des auf diesem Gebiet weltweit renommiertesten Forschungsinstituts nur halbwegs gültig sind, wirft die russische Invasion die Frage auf, warum eine offensichtlich unterlegene Macht eine Konfrontation mit einem viel stärkeren Block riskieren sollte. Dass Russland aus einer Position der Schwäche heraus angriff, zeigt sich auch daran, dass seine Invasionstruppe von schätzungsweise 190.000 Mann im Februar 2022 nach Ansicht von Militärexperten viel zu klein war; es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass sie mindestens doppelt so groß hätte sein müssen, wenn sie ihr mutmaßliches Ziel, die Eroberung der Ukraine – eines Landes mit 40 Millionen Einwohnern und einer Landmasse, die fast doppelt so groß ist wie Deutschland – hätte erreichen wollen.

Und obwohl sich der Verteidigungshaushalt der Ukraine 2021 auf weniger als 6 Milliarden Dollar belief (oder 3,2 Prozent des Sozialprodukts in einem der ärmsten Länder Europas), verzeichnete er gegenüber 2012 einen beeindruckenden Anstieg um 142 Prozent, die bei weitem höchste Wachstumsrate unter den 40 Ländern mit den weltweit höchsten Militärausgaben. Allein den europäischen Qualitätsmedien ist es entgangen, dass dieser Anstieg auf eine umfangreiche amerikanische Militärhilfe zurückzuführen ist, die spätestens seit 2014 auf "Interoperabilität" der ukrainischen mit den amerikanischen Streitkräften abzielt. (NATO-Quellen zufolge wurde die Interoperabilität im Jahr 2020 erreicht.) Dadurch wurde die Ukraine de facto, wenn auch nicht offiziell, zu einem Mitglied der NATO.

Das Zwei-Prozent-Ziel und die „Zeitenwende“

Ungeachtet der Tatsache, dass die russische Invasion aus einer Position dramatischer militärischer Unterlegenheit heraus erfolgte (auch wenn die Vereinigten Staaten und die NATO in der Öffentlichkeit fast wöchentlich versicherten, dass sie niemals Truppen zur Unterstützung der Ukrainer auf das Schlachtfeld schicken würden), stand Deutschland vom ersten Tag des Krieges an unter beharrlichem politischen und moralischen Druck der Vereinigten Staaten, seine Militärausgaben zu erhöhen, um endlich das seit langem bestehende Ziel der NATO zu erfüllen, dass ihre Mitgliedstaaten zwei Prozent ihres Sozialprodukts für "Verteidigung" ausgeben sollten. Bereits Ende der 1990er Jahre hatten die Vereinigten Staaten die europäischen NATO-Mitglieder aufgefordert, mehr für ihre Streitkräfte aufzuwenden, so wie es die USA selbst zu dieser Zeit zu tun begannen.

Auf dem NATO-Gipfel in Prag im Jahr 2002 wurde das Zwei-Prozent-Ziel erstmals vor dem Hintergrund des 11. Septembers, des sich anbahnenden "Kriegs gegen den Terror", der bevorstehenden Invasion im Irak, der Ausweitung des NATO-Mandats auf Operationen außerhalb des NATO-Gebiets und des Beschlusses diskutiert, die NATO-Mitgliedschaft auf Osteuropa auszudehnen, beginnend mit den "Visegrad-Staaten" Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik. Diese Entscheidung beendete frühere Diskussionen über ein "Gemeinsames Europäisches Haus" (Gorbatschow) oder eine "Partnerschaft für den Frieden" (Bill Clinton), die beide Russland einschlossen, und leitete eine Wiederherstellung der Grenze des Kalten Krieges zwischen West- und Osteuropa ein, wobei letzteres nun im Wesentlichen nur noch aus Russland bestehen sollte.

Das Zwei-Prozent-Ziel wurde 2006 auf dem NATO-Gipfel in Riga formell beschlossen. Im Jahr 2008 gelang es Merkel und Frankreichs Präsident Sarkozy in letzter Minute, eine förmliche Einladung an die Ukraine und Georgien zum NATO-Beitritt als dritten und letzten Schritt der NATO-Erweiterung nach Osteuropa zu blockieren. 2014, nach der Maidan-Revolution, die einen prorussischen ukrainischen Präsidenten stürzte, und der anschließenden Annexion der Krim durch Russland wurde die Verpflichtung auf das Zwei-Prozent-Ziel erneuert.

Obwohl es formal für alle NATO-Mitglieder gleichermaßen galt, richtete es sich in erster Linie an Deutschland, das einzige Land, in dem eine relative Erhöhung der Militärausgaben aufgrund seiner Größe zu einer erheblichen absoluten Steigerung der militärischen Stärke der NATO führen konnte. Die beiden anderen großen europäischen Mitgliedstaaten, Frankreich und das Vereinigte Königreich, gaben bereits seit einiger Zeit zwei bzw. fast zwei Prozent ihres Sozialprodukts für „Verteidigung“ aus: das Vereinigte Königreich 2,49 und Frankreich 2,10 im Jahr 2002, 2,48 und 1,90 im Jahr 2008 sowie 2,17 und 1,86 im Jahr 2014. Im Vergleich dazu wendete Deutschland 2002 nur 1,33 Prozent auf, 2008 1,21 und von 2014 bis 2018 1,15 Prozent; danach begann ein moderater Anstieg auf 1,34 Prozent im Jahr 2021.

Es scheint mehrere Gründe zu geben, warum die vier aufeinanderfolgenden Merkel-Regierungen von 2005 bis 2021 nicht in der Lage oder nicht willens waren, die Zwei-Prozent-Ausgabenregel einzuhalten. Häufig genannt werden eine übermäßig pedantische Beschaffungsbürokratie und ein angeblich tief verwurzelter Pazifismus der deutschen Wählerschaft, der auf die Niederlage in zwei Weltkriegen zurückgehen soll. Auch heißt es seit Beginn des Krieges, dass Merkel Putins Versprechen geglaubt hat, das zu respektieren, was der Westen als internationales Recht betrachtet – das zwar den USA und ihrer "Koalition der Willigen", zu der übrigens auch die Ukraine gehörte, den Einmarsch in den Irak erlaubte, Russland aber verbieten soll, in die Ukraine einzumarschieren. Ob Putin jemals solche Versprechen gemacht hat, muss zukünftiger historischer Forschung überlassen bleiben; angesichts seiner seit 2002 unermüdlich wiederholten öffentlichen Warnungen vor einer Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO scheint dies eher zweifelhaft.

Drei andere Faktoren mögen wichtiger sein: dass Deutschland keine Atomwaffen besitzt, die im Vereinigten Königreich und in Frankreich einen großen Teil der Militärausgaben beanspruchen, so dass die deutschen konventionellen Streitkräfte trotz eines geringeren Gesamtverteidigungsbudgets in etwa denen Großbritanniens und Frankreichs entsprechen; dass im Gegensatz zu anderen Ländern ausnahmslos alle deutschen Streitkräfte in die NATO integriert sind, was bedeutet, dass jede Aufstockung in erster Linie den Vereinigten Staaten zugutekäme; und dass Nachkriegsdeutschland bis heute keine Militärdoktrin hat, nicht einmal einen Generalstab, der herausfinden könnte, wofür es sein Militär braucht.

Als man in Deutschland nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine nach den Gründen für die vermeintliche Vernachlässigung der Bundeswehr in den letzten zwei Jahrzehnten suchte, zeigte ein investigativer journalistischer Bericht in der Süddeutschen Zeitung, dass die Beschaffungspolitik lange Zeit unentschlossen zwischen Landes- und Bündnisverteidigung und Einsätzen außerhalb des NATO-Gebietes, wie in Afghanistan und Mali, schwankte – Einsätze aus Gefälligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten und Frankreich, die ganz andere Ausrüstungen erfordern als die klassische Territorialverteidigung und sich zudem als teurer als erwartet erwiesen.

Dennoch schloss sich die deutsche und internationale Öffentlichkeit bereitwillig der Behauptung an, dass Russland nicht in die Ukraine einmarschiert wäre, wenn Deutschland seine zwei Prozent-NATO-Pflichten erfüllt hätte. Daraus folgte, dass Deutschland sich dringend bessern musste, auch um zu verhindern, dass Russland noch andere europäische Länder angreift, etwa Polen und die baltischen Staaten, aber auch Finnland und Schweden. (Die Tatsache, dass Russland nicht einmal Kiew erobern konnte, das nur wenige Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt, kam im Mainstream-„Diskurs" nicht vor, ebenso wenig wie die Überlegung, dass, wenn "Putin" tatsächlich verrückt genug wäre zu versuchen, Finnland zu erobern, er auch verrückt genug sein könnte, in einer Notlage Atomwaffen einzusetzen.)

Der Druck der Medien und der NATO wurde nicht nur von der Bundestagsopposition (Merkels CDU/CSU) aufgegriffen, sondern auch innerhalb der Koalition (wo als "Verteidigungsexpertin" der liberalen FDP eine Abgeordnete aus Düsseldorf figuriert, dem Sitz von Rheinmetall, dem zweitgrößten deutschen Rüstungsproduzenten nach Airbus, und wo die Grünen hart daran arbeiten, das friedensbewegte Image aus ihren Anfangsjahren loszuwerden, das sie Joschka Fischer zum Trotz immer noch plagt). Drei Tage nach dem russischen Einmarsch, am 27. Februar, berief Scholz eine Sondersitzung des Bundestages ein, in der er sich im Namen Deutschlands schuldig bekannte, seine NATO- und westlichen Pflichten vernachlässigt zu haben. Der Einmarsch, so Scholz, sei eine Zeitenwende gewesen, nach der nichts mehr so sei wie vorher. Dies erfordere, dass Deutschland sein Militär entsprechend den Erwartungen seiner Verbündeten aufrüstet, vor allem indem es endlich seine Zusage einhält, seine Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Sozialprodukts zu erhöhen, das heißt, um mindestens die Hälfte, und entsprechend mehr, wenn die deutsche Wirtschaft wieder zu wachsen beginnt.

Ein außergewöhnliches finanzpolitisches Manöver

Zu diesem Zweck kündigte Scholz ein außergewöhnliches finanzpolitisches Manöver an: die Schaffung eines Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden Euro, das ausschließlich für Militärausgaben bestimmt ist, vollständig schuldenfinanziert und – eine deutsche Besonderheit – im Grundgesetz verankert ist. In den Jahren der Pandemie hatte Deutschland eine für deutsche Verhältnisse nie dagewesene Staatsverschuldung angehäuft, die weit über das hinausgeht, was die 2011 in der Verfassung verankerte Schuldenbremse erlaubt. Um diese zu umgehen, wurde das Sondervermögen außerhalb des regulären Haushalts durch eine Verfassungsänderung eingerichtet, die eine absolute Mehrheit erforderte, wie sie nur mit Zustimmung der Opposition erreichbar ist.

Um die CDU/CSU mit ins Boot zu holen, musste Scholz den Grünen die Forderung aus ihrer Mitgliedschaft ausreden, den Verteidigungsbegriff so zu definieren, dass er auch Friedensmissionen und Entwicklungshilfe umfasst. Da sich die Grünen-Führung inzwischen zu glühenden Anhängern von militärischer Macht als Mittel zur allgemeinen Beglückung des Menschengeschlechts entwickelt hatte, dauerte dies nicht sehr lange. Schwieriger war es, die CDU/CSU zu überzeugen, die darauf bestand, dass das zusätzliche Geld ausschließlich für militärische Ausrüstung ausgegeben werden sollte und nicht für modische Dinge wie nationale Cybersicherheit.

Es ist nicht ganz klar, wie sich der Sonderfonds zum regulären Verteidigungshaushalt verhalten soll, insbesondere zum Zwei-Prozent-Ziel. Der Plan scheint zu sein, dass der Fonds über mehrere Jahre hinweg ausgegeben werden soll, wobei Jahr für Jahr die Gesamtausgaben zwei Prozent betragen sollen, bei schrittweiser Erhöhung der regulären Ausgaben, so dass diese, wenn der Sonderfonds erschöpft ist, die zwei Prozent erreicht haben werden und dort verbleiben können. In seiner Rede vom 27. Februar ging Scholz sogar so weit zu versprechen, dass Deutschland "Jahr für Jahr sogar mehr als zwei Prozent seines Sozialprodukts in die Verteidigung investieren" werde – eine übereifrige Übertreibung, die später aus den Regierungsunterlagen verschwand. Inzwischen steht fest, dass etwa 40 Milliarden Euro in die Luftwaffe, 19 Milliarden in die Marine und 17 Milliarden in das Heer fließen werden; 21 Milliarden werden für "Führungsfähigkeit und Digitalisierung" verwendet, von Satelliten bis zu digitalen Funkgeräten für die Truppe.

100 Milliarden Euro auszugeben, ist alles andere als einfach. Die Summe entspricht etwa der Hälfte dessen, was ganz Italien im Rahmen des EU-Programms "Corona Recovery" erhalten und über sieben Jahre hinweg ausgegeben werden soll. Ganz oben auf der Einkaufsliste stehen 35 Mehrzweck-Tarnkappenbomber des Typs Lockheed Martin F-35, ein Lieblingsobjekt der grünen Außenministerin, die die SPD während der Koalitionsverhandlungen dazu zwang, die F-35 zu einer der obersten Prioritäten der neuen Regierung zu machen. Die F-35 ist von der US-Luftwaffe im Rahmen der so genannten "nuklearen Teilhabe" Deutschlands für die Beförderung amerikanischer Atombomben zugelassen, was den deutschen Militärs sehr am Herzen liegt, auch wenn die Auswahl der Ziele natürlich streng den USA vorbehalten ist.

Das Flugzeug, das den aus den 1980er Jahren stammenden Jagdbomber Tornado ersetzen soll, ist das wichtigste Kampfflugzeug der Vereinigten Staaten, die im April 2022 weltweit 790 Exemplare im Einsatz hatten und planen, ihre Flotte bis 2040 auf 2.456 Flugzeuge zu erweitern. Ein Flugzeug soll 100 Millionen Euro kosten, aber bis zur Auslieferung in schätzungsweise drei oder vier Jahren werden es sicherlich mehr sein, vielleicht sogar 150 Millionen. Ebenfalls beschlossen scheint zu sein, dass die Luftwaffe etwa 60 Transporthubschrauber vom Typ Chinook CH47 erhält, die frühestens in vier bis fünf Jahren verfügbar sein werden und etwa 5 Milliarden Euro kosten. Ebenfalls auf der Einkaufsliste stehen 140 bewaffnete israelische Heron TP-Drohnen.

In den kommenden Jahren werden die Rüstungsindustrien Europas und der Vereinigten Staaten in einem unerbittlichen Ringkampf um einen Anteil an der deutschen Bonanza kämpfen. Frankreich wird den Sonderfonds als eine weitere Gelegenheit für eine französisch geführte Industriepolitik für die europäische "Verteidigungsindustrie" betrachten, die französische und deutsche Hersteller zu globalen Akteuren zusammenführt, die stark genug sind, um mit ihren amerikanischen Gegenspielern zu konkurrieren – natürlich wieder einmal vergeblich. Um die Franzosen bei Laune zu halten, wird Deutschland einen Teil des frischen Geldes für die neue ECR-Version (Electronic Combat Role) des Eurofighters ausgeben, und wahrscheinlich noch mehr für das FCAS, das Future Combat Air System, eine französische Science-Fiction-Fata Morgana, die Satelliten, Drohnen und Jagdbomber zu einem unwiderstehlichen Instrument globaler französisch-europäischer Machtprojektion kombinieren soll.

Wie und wann wird ein Drittland zum Kombattanten?

Nichts davon wird im Krieg in der Ukraine von Nutzen sein, der so oder so zu Ende sein wird, wenn die neue Ausrüstung einsatzbereit ist. Der deutschen Öffentlichkeit wird dies jedoch vorenthalten; sie geht wie selbstverständlich davon aus, dass die 100 Milliarden dazu beitragen werden, das Leiden des ukrainischen Volkes unter der Brutalität des russischen Militärs zu beenden. Tatsächlich kann man manchmal den Eindruck haben, dass der Fonds als Deckmantel dient, hinter dem die Bundesregierung eine auffällige Zurückhaltung bei der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine verbirgt, und zwar gegen den massiven Druck des ukrainischen Botschafters – (der in Deutschland zu einer moralischen Instanz geworden ist, indem er seinem Gastland fast täglich auf Twitter einen Mangel an "europäischen Werten" vorwirft), der deutschen und internationalen Standardmedien und natürlich der CDU/CSU-Opposition.

Die Lieferung von Waffen an die Ukraine ist weit mehr als eine technische Angelegenheit und hat erhebliche strategische Auswirkungen. Eine davon betrifft die Frage, wie und wann ein Drittland zum Kombattanten wird: ein Verbündeter der einen Seite, der nach dem Völkerrecht rechtmäßig von der anderen Seite als Feind angegriffen werden kann. Offenbar gibt es hier eine nicht leicht zu definierende Schwelle, ab der Unterstützung von außerhalb des Schlachtfeldes in Beteiligung auf dem Schlachtfeld übergeht.

Diejenigen, die für die Manufaktur öffentlicher Zustimmung in Deutschland zuständig sind, tun so, als gäbe es diese Grenze überhaupt nicht. Deutschland könne der Ukraine alles liefern, was sie verlangt, ohne völkerrechtlich zu einem legitimen russischen Ziel zu werden. (Natürlich lassen dieselben Quellen gleichzeitig verlauten, dass das, was man "Putin" nennt, sich nicht um das Völkerrecht schert.) Dass dies nicht ganz so ist, mag ein Grund dafür sein, dass die Scholz-Regierung, auch wenn sie sich nicht traut, dies öffentlich zu sagen, sich zögerlicher als andere Regierungen dazu verpflichtet hat, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Schließlich liegt Deutschland von den größeren NATO-Staaten am nächsten zum Kriegsschauplatz und zu Russland. Außerdem ist es keine Atommacht, und Transporte von Panzern und schwerer Artillerie in die Ukraine auf dem Landweg könnten im Prinzip leicht von "Putin" abgefangen werden, bevor sie ihr Ziel erreichen.

Während die deutsche Völkerrechtslehre zu diesem Thema ebenso schweigt wie der Mainstream-Journalismus, konnte die FAZ in einem Moment der Wahrheit nicht umhin, am 18. Mai einen Leserbrief von einem der führenden deutschen Völkerrechtsexperten, Jochen Abraham Frowein, immerhin einem pensionierten Max-Planck-Direktor, abzudrucken. Frowein, ein gefestigter Konservativer, stellte lakonisch fest, dass Deutschland durch Waffenlieferungen an die Ukraine "Partei eines bewaffneten Konflikts" werden könnte, unabhängig davon, ob Russland gegen Artikel 2 der UN-Charta, der Angriffskriege verbietet, verstoße oder nicht. Dies bedeute, dass deutsche Streitkräfte „von Russland angegriffen werden könnten“, und zwar einschließlich ihrer „Stellungen auf deutschem Boden". Unter Verweis auf was der Anti-Scholz-Fronde als moralisch verwerfliche mangelnde deutsche Entschlossenheit gilt, einem überfallenen Land zu Hilfe zu kommen, schlussfolgerte Frowein, dass "die Vorsicht der Bundesregierung hinsichtlich der Stellung als Partei völlig berechtigt" sei.

Die ukrainischen Forderungen nach militärischem Gerät sind alles andere als bescheiden. Ein Berater von Präsident Selenskyj ließ Mitte Juni verlauten, dass das Land, um den Krieg zu "gewinnen", mindestens 1000 155-Millimeter-Haubitzen, 300 Mehrfachraketenwerfer, 500 Panzer, 2000 bewaffnete Fahrzeuge und 1000 Drohnen benötige. Im Vergleich dazu sind die sieben von Deutschland (in Zusammenarbeit mit den Niederlanden) gelieferten Haubitzen und die vier Raketenwerfer so gut wie vernachlässigenswert. Die Vereinigten Staaten, die in 85 von zweihundert Ländern der Welt Militärstützpunkte unterhalten (im Vergleich zu acht russischen Stützpunkten in an Russland angrenzenden Ländern und einem in Syrien), wären natürlich auch allein in der Lage gewesen, die Ukraine mit den enormen Mengen an Material zu versorgen, um die sie bittet; den Anstieg der ukrainischen Militärausgaben seit 2014 haben sie schließlich auch im Alleingang finanziert. (Kürzlich hat die Regierung Biden den Kongress dazu gebracht, allein für das laufende Jahr weitere 40 Milliarden Dollar an Militärhilfe für die Ukraine bereitzustellen.)

Dass man sich dennoch bemüht, auch andere Länder innerhalb und außerhalb der NATO, insgesamt etwa vierzig und darunter auch sehr kleine, zum Mitmachen zu bewegen, scheint vor allem politischen Zwecken zu dienen, vor allem der Demonstration der Einheit eines wiederauferstandenen "Westens" unter amerikanischer Führung. Wie bei der Ermordung von Julius Cäsar, bei der jeder Verschwörer sein Messer in das Opfer versenken musste ("Auch du, mein Sohn Brutus?"), dient auch dies dazu, die Verantwortung zu verteilen, so dass niemand später eine Beteiligung abstreiten und, wenn es dazu kommt, vor russischen Gegenschlägen sicher sein kann. Umfangreiche Waffenlieferungen, die ein Land zu einem Quasi-Kombattanten machen, könnten es ihm auch unmöglich machen, später zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln; aus amerikanischer Sicht wäre dies insbesondere in Bezug auf Deutschland und Frankreich zu begrüßen.

Kriegsziele

Ein weiterer strategischer Aspekt der Bewaffnung der Ukraine betrifft die ukrainischen Kriegsziele und das Ausmaß, in dem die Verbündeten der Ukraine ein Mitspracherecht bei diesen haben. Je mehr Waffen die Ukraine erhält, desto ehrgeiziger können ihre politischen Ziele werden. Unter dem Einfluss der extremen Rechten der ukrainischen nationalistischen Bewegung, die wie der ukrainische Botschafter in Deutschland den Terroristen, Nazi-Kollaborateur und antisemitischen Kriegsverbrecher Stepan Bandera als Nationalheld verehrt, hat sich die derzeitige ukrainische Regierung von den Minsker Protokollen von 2014 und 2015 und der im Rahmen des sogenannten "Normandie-Formats" von den Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs unter Ausschluss der USA angestrebten Konfliktlösung abgewendet. Die Normandie-Vereinbarung sah ukrainische Neutralität, regionale Autonomie für die russischsprachigen Provinzen der Ukraine, insbesondere den Donbass, und künftige Verhandlungen über den Status der Halbinsel Krim vor.

Zu den erklärten Kriegszielen der Ukraine gehören derzeit die Zurückdrängung aller russischen Streitkräfte nach Russland, die bedingungslose Rückgabe der Krim, die Rückkehr der abtrünnigen Provinzen unter die zentrale Autorität Kiews und die Mitgliedschaft der Ukraine, wenn nicht in der NATO, dann in der EU. NATO und EU haben sich öffentlich dazu verpflichtet, der Ukraine die Entscheidung zu überlassen, was sie anstreben, wann sie verhandeln und worauf sie sich einigen wollen. Unter dem Beifall der ukrainischen Regierung haben auch die Vereinigten Staaten und andere westliche Länder, darunter das Vereinigte Königreich, zu verstehen gegeben, dass für sie das Ziel des Krieges ein "Sieg" über Russland ist, der dessen Militär und Wirtschaft "entscheidend schwächen" würde, und dass sich Putin vor einem internationalen Strafgerichtshof verantworten müsste. (Scholz' Meinung dazu ist, dass Russland den Krieg nicht gewinnen und die Ukraine ihn nicht verlieren darf – nicht, dass die Ukraine gewinnen und Russland verlieren muss.)

Vor diesem Hintergrund ist der ukrainische Zugang zu moderner militärischer Ausrüstung von Bedeutung. Von ihm hängt ab, ob die Ukraine, auf sich allein gestellt und ohne Streitkräfte der USA und der NATO an ihrer Seite, in der Lage sein könnte, einen möglicherweise mehrere Jahre dauernden Krieg zu überstehen und eine, wie immer geringe, Chance zu haben, ihn letztendlich zu gewinnen, was immer das bedeuten würde. Dafür müsste die ukrainische Regierung von ihren Bürgern verlangen, für maximalistische nationale Ziele massive Verluste an Leben und Wohlstand in Kauf zu nehmen, und zwar in einem Krieg, der gleichzeitig ein Stellvertreterkrieg im Namen des "Westens" wäre, mit dem Ziel, Russland als unabhängige wirtschaftliche und politische Macht zu beseitigen.

Indem sie entscheiden, welche und wie viele Waffen sie an die Ukraine liefern, können ihre Verbündeten hoffen, die Ziele, die Dauer und den Ausgang des Krieges zu beeinflussen, indem sie das Kräfteverhältnis auf dem Schlachtfeld entsprechend regulieren. Für die Vereinigten Staaten geht es bei der Versorgung der Ukraine mit Waffen darum zu verhindern, dass sich die Stimmung in der Ukraine mit der Fortdauer des Krieges zugunsten einer Rückkehr zu einer weniger ehrgeizigen, "defätistischen" Lösung ändert. Diese Strategie liegt nicht im Interesse Deutschlands und erst recht nicht Frankreichs, zumal das Risiko, dass Russland die Notbremse zieht und seine Atomwaffen einsetzt, mit der Zeit zunehmen dürfte. Für Europa wäre eine nukleare Wende des Ukraine-Krieges eine Katastrophe, während die Vereinigten Staaten wenig bis gar nicht betroffen wären.

Insbesondere Deutschland wäre sicherlich weniger als die Vereinigten Staaten an einem langen, mit frei verfügbarer westlicher Ausrüstung geführten Krieg interessiert. Die Scholz’sche Verlangsamung von Waffenlieferungen könnte ein, wenn auch schwacher, Versuch sein, die ukrainische Regierung dazu zu bringen, eine Einigung in Erwägung zu ziehen, ohne dass Putin von seinem Land ausgeliefert würde, um in Den Haag vor Gericht gestellt zu werden, vorausgesetzt, eine Lösung nach dem Normandie-Muster wäre immer noch möglich. (Versuche eines von nuklearem Fallout bedrohten Landes, bei der Bestimmung der ukrainischen Kriegsziele mitzureden, ließen sich mit einem Prinzip wie "No annihilation without representation“ rechtfertigen). In Frankreich und Italien könnte die Situation ähnlich sein, während das Vereinigte Königreich, das vom Kriegsschauplatz weiter entfernt ist, wie immer einen engen Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten sucht.

Was ist mit der Zeitenwende?

So groß er auch erscheinen mag, der 100-Milliarden-Sonderfonds spiegelt lediglich einen langjährigen Trend in der Weltpolitik nach dem Ende der "Friedensdividende" nach 1990 und der Neuen Weltordnung des älteren Bush wider. Die weltweiten Militärausgaben (in konstanten Dollars von 2020) begannen 1989 zu sinken und erreichten zehn Jahre später mit zwei Dritteln des Niveaus von 1988 einen säkularen Tiefstand. Von da an, der eigentlichen Zeitenwende, nahmen sie stetig zu, erreichten 2007 wieder das Niveau von 1988, stiegen bis 2010 weiter und kletterten nach 2015 auf ein Rekordniveau, das um ein Drittel über dem von 1988 lag, dem letzten Jahr des Kalten Krieges.

Treibende Kräfte waren die Vereinigten Staaten und China. Zwischen 1990 und 2001 waren die Militärausgaben der USA um ein Viertel zurückgegangen; ab 2002 begannen sie dann rasch zu steigen, in den neun Jahren bis 2010 um fast zwei Drittel. Bis 2016 fielen sie wieder auf das Niveau von 2004 zurück, um von 2017 bis 2021 erneut um 11,3 Prozent zu steigen. Parallel dazu bauten die Vereinigten Staaten die amerikanisch-russische Rüstungskontrollarchitektur Schritt für Schritt ab. Im Jahr 2002 traten sie formell aus dem Anti-Ballistic Missile (ABM)-Vertrag von 1972 aus, der Anti-Raketen-Systeme einschränkte; 2009 ließen sie den Strategic Arms Reduction Treaty (START I) auslaufen; 2000 verhinderten sie das Inkrafttreten des 1993 ausgehandelten START II-Vertrags durch ihren Rückzug aus dem ABM-Vertrag und verweigerten die Aushandlung eines START-III-Vertrag über die Begrenzung nuklearer Sprengköpfe; 2019 traten sie dann, wiederum einseitig, aus dem INF-Vertrag (Intermediate-Range Nuclear Forces) aus, um mit dem Aufbau von Raketenabwehrsystemen in osteuropäischen Ländern wie Rumänien, Polen und der Tschechischen Republik beginnen zu können, angeblich zum Schutz Europas vor iranischen Atomraketen. 2018 kündigten die Vereinigten Staaten dann auch das 2015 mit dem Iran geschlossene, gemeinsam mit den europäischen Großmächten ausgehandelte Abkommen über ein Moratorium bei der Ausrüstung des Iran mit Kernwaffen.

Während der amerikanische Ausstieg aus ABM, START und INF vor allem Russland betraf – in einem doppelten Sinn, wie man annehmen darf –, war China nach dem Ende des Endes der Geschichte zunehmend der zweite große Akteur bei der weltweiten Aufrüstung mit Vernichtungsmitteln und wird dies auch bleiben. Bis in die späten 1990er Jahre betrugen die chinesischen Militärausgaben kaum mehr als 8 Prozent der amerikanischen. Dann stiegen sie Jahr für Jahr an, und noch schneller als die rapide wachsenden amerikanischen Ausgaben. 2005 lagen sie bei 10 Prozent, fünf Jahre später bei 15 Prozent, 2015 bei 29 Prozent und 2021 bei 35 Prozent der Rüstungsausgaben der USA.

Im Vergleich dazu erscheinen die russischen Militärausgaben geradezu vernachlässigbar. 1998, ein Jahr bevor Jelzin das Weite suchte und Russland, nach der von den USA verordneten „Schocktherapie“ in völligem Chaos an Putin übergab, lag der russische Militärhaushalt bei nur noch 3,1 Prozent des US-Haushalts. Trotz enormer Anstrengungen nach 2004, als absehbar wurde, dass Putins europäisches Projekt, die Freihandelszone "von Lissabon nach Wladiwostok", keine Chance haben würde, stiegen die russischen Militärausgaben bis 2010 auf 5,2 Prozent der amerikanischen, bis sie sich 2016 auf 10,7 Prozent verdoppelten, um dann wieder 2021 auf 8,2 Prozent zurückzugehen.

Bezugnehmend auf den griechischen Heerführer und Historiker Thukydides und seine Analyse der Ursachen des Peloponnesischen Krieges (431-404 BC) sprechen westliche Militärstrategen von einem „Thukydides-Moment“, wenn eine bislang dominante Macht sich veranlasst sieht, gegen eine aufsteigende Macht in den Krieg zu ziehen, bevor deren Stärke eine Schwelle überschreitet, jenseits derer sie nicht mehr mit Sicherheit besiegt werden kann. Ein solcher Moment könnte für die USA im Verhältnis zu China bevorstehen, ebenso wie er vielleicht für Russland 2021 angesichts der fortschreitenden Aufrüstung der Ukraine durch die USA absehbar war – insbesondere in Anbetracht der Möglichkeit einer Aufnahme der Ukraine in die NATO sowie, nach dem Muster von Polen, Tschechien und Rumänien, einer anschließenden Aufstellung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf ukrainischem Territorium. (Übrigens kann man, wie Athen nach seinem Überfall auf Sparta zu seinem Leidwesen erfahren musste, den magischen Moment verpassen: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“)

So schrecklich er für das ukrainische Volk ist, der Krieg in der Ukraine ist nicht mehr als ein Nebenschauplatz in einem viel größeren Drama: dem sich anbahnenden Kampf zwischen einem untergehenden und einem aufstrebenden globalen Möchtegern-Hegemon. Eine wichtige Funktion des Ukraine-Krieges in diesem Zusammenhang ist die Festigung des Einflusses der Vereinigten Staaten auf ihre europäischen Verbündeten, die als Rückendeckung für den amerikanischen "Schwenk nach Asien" (Obama) gebraucht werden - in das Gebiet, das früher das Südchinesische Meer hieß und heute von der westlichen Medikratie als Indopazifik bezeichnet wird. Die Aufgabe Europas besteht dabei darin zu verhindern, dass Russland die bewaffnete Hinwendung der USA zu anderen Teilen der Welt ausnutzt, und sich notfalls den Vereinigten Staaten bei ihrer Asienexpedition anzuschließen (worauf sich das Vereinigte Königreich bereits aktiv vorbereitet).

Es gibt keine Garantie, dass es auf dem Weg dorthin nicht die eine oder andere nukleare Explosion geben wird, durchaus auch in Westeuropa. Für die Länder dort wird die Frage immer dringlicher, ob sie es wagen können, in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten mehr sein zu wollen als eine amerikanische Hilfstruppe, die Russland kontrollieren und die USA in ihrem bevorstehenden Kampf mit China unterstützen soll – eine Frage, die Scholz, Macron und Co. beantworten müssen, bevor es zu spät ist.