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Versailles durch die Hintertür

| 05. Juli 2022

Liebe Leserinnen und Leser,

der Krieg in Europa und die Handelsembargos haben die Transportwege gekappt, knappe Rohstoffe und Spekulationen lassen die Inflation in ungeahnte Höhen galoppieren. Die Wirtschaft steht kurz vor einer tiefen Rezession und was im kalten Winter kommt, weiß ohnehin keiner. Die Alliierten im Westen pochen auf den Siegfrieden und die Zerstörung der Wirtschaft des Gegners.

Während das Gro der europäischen Politiker nach Vergeltung lechzt, fasst ein scharfsinniger Beobachter das Szenario mit nüchternen Worten zusammen:

„Die wichtigsten Merkmale der gegenwärtigen Situation lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: erstens der absolute Rückgang der internen Produktivität Europas, zweitens der Zusammenbruch der Transport- und Austauschsysteme, mit denen die Produkte dorthin transportiert werden konnten, wo sie am meisten benötigt werden, und drittens die Unfähigkeit Europas, seine üblichen Lieferungen aus Übersee zu beziehen.“

Der Beobachter begeift als einer der Wenigen den sozialen, ökonomischen und politischen Sprengstoff, der sich darin verbirgt, und wird wenig später die heraufziehende Katastrophe in einem prophetischen und epochalen Buch beschreiben:

„… einfach ausgedrückt. Europa besteht aus der dichtesten Ansammlung von Menschen in der Weltgeschichte. Diese Bevölkerung ist an einen verhältnismäßig hohen Lebensstandard gewöhnt, bei dem ein Teil dieser Bevölkerung selbst jetzt eher eine Verbesserung als eine Verschlechterung der Lebensumstände erwartet. Im Vergleich zu anderen Kontinenten ist Europa nicht autark; insbesondere kann es sich nicht selbst ernähren. Die Bevölkerung ist im Innern nicht gleichmäßig verteilt, sondern zu einem großen Teil in einer relativ kleinen Zahl von dichten Industriezentren zusammengepfercht. Diese Teile der Bevölkerung sicherten sich vor dem Krieg ihren Lebensunterhalt ohne großen Spielraum für Überschüsse durch eine delikate und äußerst komplizierte Organisation, deren Grundlage Kohle, Eisen, Verkehr und eine ununterbrochene Versorgung mit importierten Nahrungsmitteln und Rohstoffen aus anderen Kontinenten war.“

Der Beobachter fährt fort. Es sind Sätze und Zeilen, die die zeitlose Wahrheit einer existenziellen Krise verkünden:

„Durch die Zerstörung dieser Organisation und die Unterbrechung des Versorgungsstroms wird ein Teil dieser Bevölkerung ihrer Lebensgrundlage beraubt. (…) Die Gefahr, mit der wir konfrontiert sind, ist daher die rasche Senkung des Lebensstandards der europäischen Bevölkerung bis zu einem Punkt, der für einige den Hungertod bedeuten wird (…). Die Menschen werden jedoch nicht alle in der Stille sterben. Denn der Hunger, der bei einigen zu Lethargie und hilfloser Verzweiflung führt, treibt andere in die Hysterie und in die wahnsinnige Verzweiflung. Letztere können sogar die Reste der noch bestehenden sozialen Organisation und die letzten verzweifelten Versuche der Zivilisation zerstören, die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.“

Umso verbitterter ist der Autor dieser Zeilen ob des Wirkens der wichtigsten Führungspersönlichkeiten, die die wirtschaftlichen Folgen ihres Tuns ausblenden: Die Folgen, so konstatiert er, behandeln die Politiker als „ein Problem der Theologie, der Politik, des Wahlkampfes – also unter jedem Gesichtspunkt, außer dem der wirtschaftlichen Zukunft der Staaten, deren Schicksal sie in der Hand halten.“

Die Führungspersönlichkeiten, die gemeint sind, heißen noch nicht Robert Habeck, Joe Biden, Boris Johnson oder Annalena Baerbock. Die vernichtende Kritik trifft die Architekten des Versailler Vertrages, der nach Ansicht des Autors bereits die Saat des nächsten Krieges in sich trägt: Georges Clemenceau, Lloyd George und Woodrow Wilson.

Und der Mensch, der all dies schreibt, ist ein gewisser John Maynard Keynes.

Seine Lehren aus dem Krieg und seinen Folgen gelten bis heute: nicht nur, wie unendlich gefährlich übertriebene politische Maßnahmen sein können, die in ein wirtschaftliches und soziales Geflecht eingreifen. Keynes lieferte auch eine Analyse der Kriegswirtschaft: Staaten, die den Krieg vorbereiten und ihn schließlich führen, müssen in der Lage sein, volkswirtschaftlich verfügbare Ressourcen der zivilen und wohlstandsfördernden Verwendung für Bedarfszwecke des militärisch-industriellen Komplexes zu entziehen.

Doch diese Transformation einer zivilen Volkswirtschaft in eine partielle Kriegswirtschaft ist ein prekärer Prozess, der von geldwirtschaftlicher Krisenanfälligkeit begleitet wird. Eine Krisenanfälligkeit, die sich auch jetzt mit der westlichen Sanktionspolitik abzeichnet.

Wir wissen, Geschichte wiederholt sich nicht. Und doch zeigt der sich zuspitzende Ukraine-Krieg mit seinen noch nicht absehbaren ökonomischen Kollateralschäden und den verblüffenden Parallelen zwischen damals und heute, wie aktuell die vorangegangenen Zeilen aus Keynes‘ 1919 erschienenen Buch „The Economic Consequences of the Peace“ auch gut 100 Jahre später noch sind.