Ukraine-Krieg

Warum wir eine Reform der Vereinten Nationen brauchen 

| 28. Juni 2022
istock.com/Ian_Timberlake

Wir sind in eine neue Ära eingetreten, in der der Westen seine Macht zunehmend mit anderen globalen Mächten teilen muss. Genau diese Realitäten erfordern eine Rückkehr zu einem kollektiven Sicherheitssystem.

Der folgende Artikel Michael von der Schulenburgs erschien vor dem Hintergrund des bevorstehenden 75. Jahrestages der UNO bereits am 20. November 2019 in euronews unter dem Titel „An opportunity the United Nations and its Secretary-General must not miss”.

Darin macht Schulenburg drei Reformvorschläge, die sich zwar recht einfach anhören, die UNO aber grundsätzlich verändern würden:

  • Eine Rückbesinnung auf die UN-Charta als international-rechtlicher Rahmen, um Kriege zwischen Staaten zu verhindern;
  • Eine Erweiterung der UN-Charta, um einen international-rechtlichen Rahmen zu schaffen, um zur Eindämmung intra-staatlicher Kriege beizutragen und
  • Eine Demokratisierung der Entscheidungsorgane der UNO.

Wir wissen heute, dass die Gelegenheit, die der 75. Jahrestag bot, um grundsätzliche Reformen zu beschließen, verpasst wurde und sich die UNO heute eher in einer Starre politischer Untätigkeit zu befindet. Das macht Schulenburgs Vorschläge weiterhin aktuell.

Insbesondere hat der militärische Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar dieses Jahres der Notwenigkeit von UN-Reformen eine neue Dringlichkeit gegeben. Wie schon zuvor durch die USA, das Vereinte Königreich und Frankreich, hat auch Russland die UN-Charta flagrant verletzt. Damit haben sich nun vier der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates über die UN-Charta gestellt. Aber wir brauchen weiterhin die UN-Charta, um zwischenstaatliche Konflikte zu regeln. Dafür sollten wir uns einsetzen.

In seinem Artikel macht Schulenburg darauf aufmerksam, dass heute die meisten Kriege und bewaffneten Konflikte innerhalb von Staaten stattfinden, bei denen staatliche und nicht-staatliche Akteure um politischen Einfluss und den Zugang zu Ressourcen kämpfen. Mehr noch als der Ukrainekrieg, sind diese inner-staatlichen Konflikte für die meisten Kriegstoten, Kriegsflüchtlinge und Zerstörungen in der Welt verantwortlich. Daraus resultiert seine Forderung, die UN-Charta dergestalt auszubauen, dass sie auch einen international normativen Rahmen für derartige Kriege und Konflikte setzen kann. Das sollte insbesondere für Europa wichtig sein, das von den vielen Krisenregionen in Afrika und dem Mittleren Osten umgeben ist.

Es ist der UN-Sicherheitsrat, der gerade durch jene Großmächte blockiert wird, die wenig Respekt für UN-Charta zeigen. Um derartige Blockaden zukünftig zu verhindern oder zumindest schwieriger zu machen, braucht es eine größere Einbindung der UN-Mitgliedsländer in Entscheidungsprozesse.                                                                              

Die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Vereinten Nationen

Der Ukraine-Krieg und die zunehmenden Spannungen zwischen den Großmächten China, Russland und den USA könnten eine Gelegenheit bieten, die Vereinten Nationen neu zu positionieren. Die sich rasant verändernde geopolitische Landschaft schafft ein Umfeld, in dem eine Rückkehr zum kollektiven Sicherheitssystem der UNO für große und kleine Mächte gleichermaßen attraktiv sein sollte.  

Die Zeit drängt. Vor drei Jahren feierte die UNO ihr 75-jähriges Bestehen. Doch ein neuer politischer Konsens über die Rolle der UNO in einer künftigen Weltordnung hat sich noch nicht herausgebildet. Die UNO droht weiter an den Rand gedrängt zu werden und einen Glaubwürdigkeitsverlust zu erleiden, von dem sie sich möglicherweise nicht so bald erholen wird.

Damit lastet eine große Verantwortung auf den Schultern des Generalsekretärs. Er muss versuchen, diesen neuen Konsens zu vermitteln, auch auf die Gefahr hin, dass er scheitert. Seine Erfolgsaussichten dürften jedoch nicht allzu schlecht sein.

Was hat sich geändert? 

Erstens: Die Ära nach dem Kalten Krieg, die vom Westen unter Führung einer einzigen Supermacht, den Vereinigten Staaten, dominiert wurde, geht zu Ende. Mit ihr schwinden die Hoffnungen, dass sich mit dem Fall des Kommunismus die westliche liberale Demokratie ausbreiten und zu einem die Welt vereinigenden globalen politischen System werden würde. Ob wir es wollen oder nicht: wir sind in eine neue Ära eingetreten, in der der Westen seine Macht zunehmend mit anderen globalen und regionalen Mächten teilen muss, gerade auch mit Mächten mit unterschiedlichen politischen Regierungssystemen.

Eine einzelne Macht oder ein einzelnes politisches System wird nicht mehr in der Lage sein, globale Normen und Regeln festzulegen und deren Umsetzung zu gewährleisten. Genau diese Realitäten erfordern eine Rückkehr zu einem kollektiven Sicherheitssystem. Die UNO ist das einzige Weltforum, in dem die widerstreitenden Mächte zusammenkommen können, um sich auf globale Normen und Regeln zur Wahrung des Weltfriedens zu einigen. Mit ihrer UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bietet sie die Grundlage für einen neuen Konsens zwischen den verschiedenen politischen Systemen. Wurde die Mitgliedschaft von Ländern, die keine liberalen Demokratien sind, vom Westen einst als Nachteil angesehen, könnte sie nun zum entscheidenden Vorteil der UNO werden.

Zweitens: Kriege haben sich verlagert von Kriegen zwischen Staaten zu Kriegen innerhalb von Staaten. Dennoch gibt es keinen umfassenden normativen – oder auch nur operativen – globalen Rahmen, wie mit scheiternden Staaten, der zunehmenden Macht kriegerischer nichtstaatlicher Akteure und den daraus resultierenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikten umzugehen hat.

Der Anstieg der Weltbevölkerung, die Ressourcenknappheit, der Klimawandel, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten und ein weit verbreiteter Verlust an staatlicher Autorität werden innerstaatliche Konflikte auch in Zukunft weiter vorantreiben. Keine einzelne Macht ist in der Lage, die vielen innerstaatlichen bewaffneten Konflikte zu lösen, den Zusammenbruch von Nationalstaaten verhindern, den wachsenden Einfluss von Warlords einzudämmen und die Welt darauf vorbereiten, für eine Bevölkerung von bald 11 Milliarden Menschen zu sorgen.

Damit die vielen Brandherde nicht zu einem globalen Flächenbrand werden, ist jetzt erst recht internationale Zusammenarbeit erforderlich – auch zwischen den rivalisierenden Großmächten. Nur die UNO bietet das richtige globale Dach für eine solche Zusammenarbeit.

Warum gerade jetzt?

Vielleicht war es die Politik von Präsident Trump, die einen geopolitischen Wandel beschleunigt hat, der diese Rückkehr zur kollektiven Sicherheit erforderlich machen könnte. Mit seinem Rückzug aus diversen militärischen Interventionen der USA und eine stärkere Betonung auf eine innere Stärkung der USA, war er der erste amerikanische Präsident nach dem Ende des Kalten Krieges, der ein Politik einer amerikanischen Weltherrschaft aufgab. Indem er globale Freihandelsabkommen, die transatlantischen Beziehungen und sogar die NATO infrage stellte, reagierte er zunehmend auf eine sich verändernde Realität, in der die USA nicht mehr die einzige wirtschaftliche und militärische Weltmacht sind.  

Die heutigen Rivalitäten der Großmächte unterscheiden sich von denen nach dem Zweiten Weltkrieg, die zum Kalten Krieg führten. Trotz ihres aggressiven und militärischen Auftretens und ihres Gezänks im Sicherheitsrat haben die USA, China, Russland und die EU keine unvereinbaren Wirtschaftssysteme mehr. Bis zum Ukraine-Krieg waren ihre Volkswirtschaften zunehmend integriert. Der Krieg führt gleichzeitig vor Augen, dass diese Länder – die EU und China mehr als die USA – durch die zerrütteten internationalen Beziehungen mehr verlieren als gewinnen.

Der innere Zerfall schwacher Staaten, sollte starke Staaten zur Zusammenarbeit zwingen

Der Rückzug der US-Truppen aus Irak, Syrien, Afghanistan und Libyen sowie die Versuche, sich aus dem Krieg im Jemen zurückzuziehen, sind Anzeichen dafür, dass die militärischen Interventionen der USA in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten auf der ganzen Welt zu einem Ende kommen könnten. Solange westliche Interessen nicht direkt bedroht sind, ist es immer unwahrscheinlicher, dass sich die USA, die NATO oder ein anderes westliches Land an neuen ausländischen Militäroperationen direkt beteiligen würden.

Doch dieser Rückzug der USA aus innerstaatlichen Konflikten wird ein Machtvakuum schaffen. Um zu verhindern, dass aufstrebende globale oder regionale Mächte in dieses Vakuum stoßen, wie die Türkei in Nordsyrien, sollten die USA an internationalen Normen mitarbeiten, die den Einsatz ausländischer Militärinterventionen in innerstaatlichen bewaffneten Konflikten regeln. Dazu zählt etwa die Legitimität von Regierungen, der Status bewaffneter nichtstaatlicher Akteure, die Definition der nationalen Selbstbestimmung, die Anwendung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte - und letztlich Fragen von nationaler versus staatlicher Souveränität.

Der Westen sollte trotz zunehmender Differenzen in globalen Angelegenheiten ein Interesse daran haben, die universelle Geltung der UN-Charta zu erneuern und das Mandat der Charta auf innerstaatliche Konflikte auszuweiten (3). Europa, das geografisch so nahe an den meisten der heutigen Krisenherde im Nahen Osten und in Afrika liegt, sollte sich für solche Lösungen stark machen. Sowohl Russland als auch China könnten eine Rückkehr zur UN-Charta begrüßen. Russland könnte dies als Chance sehen, nach einem Friedensschluss einen Weg aus seiner relativen Isolation zu finden. Um Spannungen abzubauen, könnte China bereit sein, die Souveränitätsfrage unter der Bedingung zu erörtern, dass internationale Interventionen eine rein kollektive Sicherheitsfrage bleiben (4).

Auch aufstrebende Mächte wie Indien, Indonesien, Nigeria oder Brasilien dürften ein Interesse daran haben, innerstaatliche bewaffnete Konflikte, den Zerfall von Nationalstaaten und den Aufstieg nichtstaatlicher Kriegsakteure einzudämmen - zum großen Teil, weil sie selbst betroffen sind. Kleinere Länder werden dies höchstwahrscheinlich als Erleichterung und als Schutz vor willkürlichen Invasionen begrüßen (5). Und alle Mitglieder des Sicherheitsrats müssen ein Interesse daran haben, zu verhindern, dass lokale Konflikte zu globalen Konfrontationen zwischen ihnen werden. Wer will schon ein weiteres Syrien?

Was ist anzustreben

Eine Initiative zur Suche nach einem Konsens zwischen den Mitgliedstaaten über die Zukunft der Vereinten Nationen in innerstaatlichen Konflikten darf nicht den Weg großer öffentlicher Veranstaltungen gehen, wie das der Fall für das Pariser Abkommen zum Klimawandel oder die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Fall war. Dies erfordert, zumindest anfangs, eine eher ruhige Diplomatie.

Der Generalsekretär sollte seine Einberufungsbefugnis nutzen, um Konsultationen mit den Mitgliedstaaten abzuhalten. Dies könnte ein ausreichend diskretes Umfeld für einen offenen Meinungsaustausch bieten, der sich sogar zu einer umfassenderen Debatte über eine neue Weltordnung, die Rolle der UNO als Garant kollektiver Sicherheit und die Zukunft des UN-Sicherheitsrates entwickeln könnte. Schon das Abhalten solcher Diskussionen wäre ein Erfolg.

Solche Konsultationen sollten informell und ergebnisoffen sein. Dies würde es dem Generalsekretär ermöglichen, bestimmte Gruppen zu konsultieren, wie z.B. die USA, China und Russland, die drei Länder, die mehr als andere über das Ergebnis entscheiden können. Er könnte sich um eine größere Unterstützung Europas, seiner potenziellen Verbündeten, für eine solche Initiative bemühen. Sie könnte es ihm auch ermöglichen, aufstrebende Mächte des Südens und regionale Organisationen in die Debatte einzubeziehen und damit auf eine allgemeine globale Machtverschiebung von der westlichen zur nicht-westlichen Welt zu reagieren.

Um die Debatten steuern zu können, sollte der Generalsekretär jedoch seine eigenen Vorstellungen davon entwickeln, was er mit diesen Konsultationen erreichen will. Ich würde vorschlagen, dass er drei Ziele anstreben solltet, die in ein Konsensdokument der Mitgliedsstaaten münden könnten.

1. Erneuerung der universellen Anwendung der UN-Charta

Die Kernfrage lautet: Akzeptieren die Mitgliedstaaten die UN-Charta noch als Kern des Völkerrechts? Wie stehen sie insbesondere zu ihrer Zusage in der Charta, in ihren internationalen Beziehungen auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines Staates zu verzichten (6) und dies durch internationale Zusammenarbeit, die Achtung der Menschenrechte und die Förderung des sozialen Fortschritts und eines besseren Lebensstandards in größerer Freiheit (7). Ohne eine Klärung des Standpunkts der Mitgliedstaaten zur Charta wird es über lang keine UNO geben.

2. Erweiterung der UN-Charta auf innerstaatliche bewaffnete Konflikte

Obwohl es 1945 innerstaatliche bewaffnete Konflikte gab, wurden sie damals als lokale Angelegenheiten betrachtet, die für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der globalen Sicherheit nicht wichtig sind. Das hat sich geändert; heute sind innerstaatliche bewaffnete Konflikte zu den dominierenden globalen Sicherheitsproblemen geworden. Wir müssen internationale Normen entwickeln und die kollektiven Interventionsmechanismen schärfen, um mit dieser Art von neuen globalen Sicherheitsbedrohungen umgehen zu können.

Dies würde eine Anpassung der UN-Charta und eine umfassendere Überprüfung der operativen Aspekte von UN-Einsätzen erfordern (8). Ein solcher Versuch mag schwierig sein, aber er ist nicht unmöglich! Änderungen an der UN-Charta wurden schon früher vorgenommen, doch wäre dies die umfassendste Überarbeitung seit der Gründung der UNO im Jahr 1945. Warum sollte man es nicht versuchen? Die Welt hat sich in den letzten 75 Jahren verändert, und das muss auch für die UN-Charta gelten.

3. Demokratisierung der Entscheidungsfindung unter den UN-Mitgliedstaaten

Die Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat spiegelt nicht mehr die geopolitischen Realitäten wider. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Zusammensetzung des Sicherheitsrates in absehbarer Zeit geändert werden kann. Es könnte jedoch einen Weg geben, dieses Problem zu umgehen, indem das Mandat der UN-Kommission für Friedenskonsolidierung (PBC) ausgeweitet wird. Die Mitgliedschaft in der PBC spiegelt die geopolitischen Realitäten viel besser wider. Die PBC sollte den Überwachungsausschuss nicht ersetzen.

Der UN-Sicherheitsrat würde, wie in der Charta beschrieben, weiterhin das wichtigste UN-Gremium bleiben, um ein rasches und wirksames Handeln der Vereinten Nationen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gewährleisten (9), während die PBC dafür zuständig sein könnte, internationale Reaktionen auf alle innerstaatlichen bewaffneten Konflikte zu prüfen, zu fördern und zu koordinieren, sobald der UN-Sicherheitsrat dies beschlossen hat. Die PBC könnte so auch als Frühwarn- und Konfliktpräventionsforum dienen.

Da heutzutage fast alle Konflikte innerstaatlicher Natur sind, würde jede Lösung kollektive Maßnahmen zur Stärkung funktionierender Nationalstaaten erfordern (10). Die Reaktion auf innerstaatliche bewaffnete Konflikte wird immer viele operative Aspekte umfassen, von der Vermittlung bis zur Friedenssicherung, von der Förderung der Menschenrechte bis zur humanitären Hilfe, von der Entwicklungshilfe bis zum Staatsaufbau.

Damit stünde die PBC im Zentrum der Koordinierung von Entscheidungen und Aktivitäten verschiedener UN-Organisationen, -Programme und -Fonds im Rahmen von UN-Interventionen in innerstaatlichen Konflikten.