Risikoprämien

Zinsen und Menschenrechte

istock.com/Dina Damotseva

Wie lässt sich der Green New Deal finanzieren und Covid-19 bekämpfen? Eine Neuinterpretation von Risikoprämien.

Riskante Kunden zahlen mehr für dasselbe Darlehen als weniger riskante, da die risikogewichteten Zinsen vom Vorhandensein und der Qualität der Kreditsicherheiten abhängen. Dieses vorherrschende Zinssystem behandelt Kreditsicherheiten und Risikoprämien in den Zinsen demnach als austauschbar.[1] Warum wird dann am Ende der Kreditlaufzeit nur die Kreditsicherheit an den Kunden zurückgegeben, nicht aber die Risikoprämie?  

Diese Frage führt zu einer Neuinterpretation der Risikoprämien in Darlehenszinsen, die Geldmittel freisetzen könnte, die dringend für die Bekämpfung des Klimawandels und der Pandemiefolgen benötigt werden.

Wie die Vermieter von Immobilien vermieten Banken Geld für eine gewisse Zeit an ihre Kunden in Form von Darlehen. Doch während es sich beim Mietzins für Wohnungen und Kraftfahrzeuge ausschließlich um Marktpreise handelt, die für alle Kunden gelten, werden die unterschiedlichen Darlehenspreise mit dem höheren Ausfallrisiko begründet, das die Kunden mit einem schlechteren Vermögensstatus darstellen.

Der Zins ist der Preis für das Darlehen. Anstatt des veralteten “cost-plus loan-pricing model”[2] der Finanzindustrie, verwenden Banken aufgrund von Deregulierung und verschärftem Wettbewerb nun das “price-leadership model”, um den Preis von Krediten festzulegen.[3] Im price-leadership model bietet die Bank ihrem kreditwürdigsten Kunden für kurzfristige Darlehen eine sogenannte prime rate (auch base rate genannt), die als Messlatte für sämtliche Darlehen dient, die allen anderen weniger kreditwürdigeren Kunden angeboten werden.[4] Die Bonitätseinstufung per credit scoring (und credit rating im Fall von Staaten und Unternehmen) dient der Festlegung von Risikoprämien die den prime rate Zinsen aufgeschlagen werden und die von allen riskanteren Kunden bezahlt werden müssen.

Sind alle anderen Umstände wie Darlehenssumme und Cashflow bei den Kunden identisch, wird die Risikoprämie von zwei Faktoren bestimmt: von der Kreditsicherheit und Laufzeit. Das Risiko des Darlehensgebers verringert sich, wenn das Darlehen durch eine möglichst wertvolle Kreditsicherheit abgesichert ist. Und nachdem sich die Zahlungsfähigkeit des Kunden in naher Zukunft voraussichtlich nicht sofort ändert, ist das Risiko des Darlehensgebers umso geringer, je kürzer die Darlehenslaufzeit ist.

Art der Zinskalkulation: Für Staaten, Unternehmen und Bürger entscheidend

Diese Risikoprämien finden überall Anwendung und gehen auf die Arbeit des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zurück (Engl. „Basel Committee on Banking Supervision“), der an einer stabileren internationalen Finanzarchitektur arbeitet. Die Arbeit des Basler Ausschusses mündete vor dreißig Jahren in die Anwendung von Risikogewichtung in der internationalen Bankenaufsicht.[5]

In Übereinstimmung mit den Basler Abkommen verwenden die größten Volkswirtschaften risikogewichtete Zinsen, und ebenso der größte Teil der Nationen, die mit ihnen handeln.[6] Abgesehen von der Art und Weise, wie Risikoprämien und Zinsen bestimmt werden, ist die Art der Zinskalkulation für die finanzielle Belastung für Staaten, Unternehmen und Bürgern entscheidend. Standardmäßig verwendet die Finanzindustrie die Zinseszinsmethode in Kombination mit Risikoprämien aufgrund der geforderten Risikogewichtung. Das wirtschaftliche Ergebnis ist bei dieser Kombination erheblich anders als bei Verwendung der einfachen Verzinsung.

Deshalb ist es wichtig den rechtlichen Charakter der Risikoprämie zu bestimmen, indem man analysiert, welchen Vorteil die Risikoprämie beiden Seiten des Darlehensvertrages bringt. Offensichtlich handelt es sich bei der Risikoprämie um keine Versicherung und die Finanzindustrie nutzt Credit Default Swaps zur Absicherung gegen das Ausfallrisiko. Wie der Name zudem verdeutlicht, stellt die Risikoprämie auch keine Vergütung regulatorischer Kosten dar. Risikoprämien werden auch nicht für Mischkalkulationen verwendet:

„Die risikogewichtete Preisbildung ermöglicht es dem kreditwürdigeren Kunden ein Darlehen zu einem reduzierten Preis zu erhalten, was die Erwartung  der Bank hinsichtlich des erwarteten geringeren Ausfallrisikos widerspiegelt. Im Ergebnis subventionieren weniger riskante Darlehensnehmer nicht die Kreditkosten der riskanten Kunden.“[7]

Ein praktisch risikoloser Kunde mit exzellenter Kreditsicherheit stellt für den Darlehensgeber kein Risiko dar, selbst wenn die vollständige Zahlung der ursprünglichen Darlehenssumme an den Darlehensgeber erst zu einem späten Zeitpunkt erfolgt. Der Zahlungsausfall von Darlehensnehmern ohne oder mit lediglich unzureichenden Kreditsicherheiten sind besonders zu Beginn des Darlehens riskant, wenn nur ein paar wenige Raten beglichen wurden, weil der Darlehensgeber die Darlehenssumme kaum eintreiben kann. Würde in dieser Situation die einfache Verzinsung ohne Risikoprämie gewählt, erfolgte die Begleichung der vollen Darlehenssumme durch den riskanten Darlehensnehmer erst gegen Ende der Laufzeit.

In Verbindung mit der Zinseszinsmethode verhilft die Risikoprämie jedoch den beiden Vertragspartnern zu einer beschleunigten Begleichung der Darlehenssumme. Die riskante Anfangsphase des Darlehens, die mit schlechten oder gar keinen Kreditsicherheiten abgesichert ist, wird verkürzt, während das Risiko für den Darlehensgeber mit jeder Ratenzahlung weiter sinkt. Die gleichzeitigen Ratenzahlungen von Tilgung und Zinsen führen nach geraumer Zeit zur vollständigen Bezahlung des Darlehensbetrages durch den Darlehensnehmer an den Darlehensgeber. In diesem Augenblick reduziert sich das Ausfallrisiko des Darlehensgebers auf Null. Ab diesem Zeitpunkt ist die Investition[8] der Bank vollständig gesichert und die darauffolgenden Zahlungen erfolgen lediglich auf die Zinsen, also den Preis des Darlehens.

Die Risikoprämie kann folglich durch eine Kreditsicherheit ersetzt werden und sie beschleunigt die Zahlungen in der kritischen ersten Phase von Darlehen, die an riskantere Kunden vergeben werden, was der Absicherung der Darlehensgeber dient. Es ist daher korrekt die Risikoprämie als Kreditsicherheit sui generis zu bezeichnen. Es ist der kreditsicherheitsersetzende Charakter der Risikoprämie, der die Investition der Bank in Form der Darlehenssumme schützt, während die Risikoprämie Kredite für Darlehensnehmer mit unzureichenden oder keinen Kreditsicherheiten verfügbar macht.

Diskriminierung aufgrund des Vermögens

Ex ante, stellt jeder Kunde ein anderes Risiko für die Bank dar, was unterschiedliche Risikoprämien und damit Preise bedingt, um Verluste zu verhindern. Das wirkliche Risiko des Darlehensnehmers lässt sich jedoch erst im Nachhinein bestimmen, also ex post. Sollten sich risikoreiche Kunden als ebenso zuverlässig erweisen, wie wohlhabende Kunden, sind unterschiedliche Preise für dieselben Darlehen nicht gerechtfertigt, sondern stellen eine Diskriminierung aufgrund des Vermögens dar.

Die Diskriminierung aufgrund des Vermögens ist durch zahlreiche Rechtsinstrumente verboten.[9] Auch Gerichte unterstützen zunehmend das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Vermögens.[10] Unterschiedliche Preise für dasselbe Darlehen mit demselben Risiko können dadurch verhindert werden, dass die Risikoprämie am Ende zurückgegeben wird, oder indem Risikoprämien und Zinsen entsprechend des abnehmenden Risikos im Laufe der Zeit angepasst werden.[11]

Die Risikoprämie kann angepasst bzw. zurückgegeben werden, da sie Teil des Zinses ist, also Teil des Marktpreises für das Darlehen und nicht das Eigentum des Darlehensgebers. Daher muss die Risikoprämie wie jede andere Kreditsicherheit zurückgegeben werden, sobald die Investition der Bank, als die die ursprüngliche Darlehenssumme betrachtet werden kann, vollständig vom Kunden beglichen wurde.

Es ist neu und widerspricht sicherlich der gängigen Praxis von Banken, wenn die Risikoprämie als Kreditsicherheit behandelt, der Eigentumsschutz lediglich auf die Darlehenssumme beschränkt und die Preisdiskriminierung aufgrund von Vermögen verhindert wird. Aber der rechtliche Charakter der Risikoprämie und die damit verbundenen Probleme müssen diskutiert und gelöst werden.

Die vollständige Aufrechterhaltung der Risikoprämie über die gesamte Laufzeit des Darlehens, ohne sie dem schwindenden Ausfallrisiko entsprechend anzupassen, widerspricht dem öffentlichen Interesse, verstößt gegen das Diskriminierungsverbot und verletzt häufig die Menschenrechte des Darlehensnehmers.

Mehr Haushaltsspielraum für Staaten schaffen

Die Anpassung von Zinsen und Risikoprämien, nachdem die Darlehenssumme vollständig beglichen wurde, verhindert Diskriminierung, indem alle Darlehensnehmer gleichbehandelt werden, nachdem sie ihre hauptsächliche Zahlungspflicht erfüllt haben. Ein solches Vorgehen würde Ressourcen der ärmsten Darlehensnehmer freisetzen und deren Lebensbedingungen verbessern. Staaten würden in die Lage versetzt, Armutsbekämpfungsprogramme durchzuführen, Unternehmen zu fördern und bei der Schaffung von Wohlstand zu unterstützen. Stellt man auf den Moment ab, in dem der Darlehensnehmer die Darlehenssumme an den Darlehensgeber vollständig bezahlt hat, ermöglicht man den Interessenausgleich zwischen den Vertragsparteien. Diese Vorgehensweise belastet Banken nicht zusätzlich; sie korrigiert lediglich eine schlecht konzipierte Finanzpraxis, ohne die Vertragsfreiheit oder Marktkräfte zu beeinflussen, indem Zinsen rechtlich als Preise anstatt als Eigentum behandelt werden.

Auf diese Weise würden zudem Finanzmittel frei, die im Zusammenhang mit Covid-19 dringend benötigt werden. Mit deren Hilfe könnten Staaten ihren Haushaltsspielraum vergrößern, um Leben zu retten und die Verwirklichung der grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Rechte voranzutreiben. Bislang hat sich QE nicht als erfolgreiche Starthilfe für die Weltwirtschaft erwiesen, würden jedoch Zinsen angepasst und Risikoprämien zurückgezahlt, verbliebe sehr viel Geld in den Taschen derer, die es am dringendsten benötigen: Staaten, die Covid-19 bekämpfen müssen, Unternehmen, die für Investitionen Kapital benötigen und Bürger für ihren täglichen Bedarf.

Beitrag für ein stabileres Finanzsystem

Dieser Vorschlag könnte aller Voraussicht nach auf dreierlei Weise zu einem stabileren Finanzsystem beitragen:

Erstens würden Darlehensnehmer nicht mehr unangemessen belastet. Privat- und Staatsbankrotte würden weniger wahrscheinlich und mehr Kapital stünde für Investitionen und zum Schutz von Menschenrechten zur Verfügung.

Zweitens würden aller Voraussicht nach Darlehensnehmer durch die Aussicht auf niedrigere Zinsen entsprechend motiviert, die anfallenden Ratenzahlungen regelmäßig zu leisten, was zu geringeren Risiken im Finanzsystem führen sollte. Zudem wäre zu hoffen, dass sich Kunden aufgrund der anstehenden Zinsanpassungen näher mit den Details von Finanzierungen beschäftigen werden, was zu einer erhöhten Finanzkompetenz führen kann.

Drittens sollte durch den neuen Ansatz die aktuelle Anreizstruktur korrigiert und so das moralische Fehlverhalten reduzieren werden, das auch unter dem Begriff moral hazard bekannt ist. Momentan ist es höchst profitabel, wenn Darlehen an riskante Kunden vergeben werden. Aufgrund des zusätzlichen Gewinnes, für den letztendlich nur die Hochrisikokunden bezahlen müssen, sind gerade diese derzeit die attraktiveren Kunden. Selbst wenn sich abzeichnet, dass ein Hochrisikokunde in einer drohenden Rezession ausfallen wird, ist es einfach, den Anspruch bei entsprechend guten Ratings weiterzuverkaufen. Würden Verträge mit riskanteren Kunden entsprechend der echten Risikoentwicklung im Zeitablauf bewertet, wäre der Marktpreis erheblich realistischer. Eine Korrektur der Anreizstruktur wäre zu erwarten, die momentan auf zu hohen Ertragsprognosen beruht, ohne dass jedoch Darlehen für riskante Kunden unattraktiv würden.

Aufgrund der Basler Abkommen haben Banken ihre Daten für das Risikomanagement mindestens vierteljährlich zu aktualisieren.  Banken sind demnach bereits rechtlich verpflichtet die Daten regelmäßig zu erheben, die für die Anpassung der Zinsen und der Rückgabe der Risikoprämien an ihre Kunden notwendig sind. Während dies eventuell kurzfristig zu Gewinnbußen führen könnte, würden Banken auf lange Sicht von zuverlässigerem Risiko und einem stabileren Finanzmarkt profitieren, da Zahlungsausfälle und Konkurse weniger wahrscheinlich auftreten würden, wodurch derzeit gelegentlich auch Banken bedroht sind.

Alle Staaten, insbesondere G20 Staaten, sollten ihren Menschenrechtspflichten nachkommen und das Eigentum ihrer Bürger und Unternehmen durch Gesetze schützen, die Banken zur Rückübertragung von Risikoprämien und zur Zinsanpassung verpflichten, die dem abnehmenden Risiko entsprechen, anstatt ihnen diese Gelder als zusätzlichen Gewinn zu überlassen. Auf diese Weise wäre voraussichtlich auch die Anhebung von Steuern, weiteres Gelddrucken und eine weitere Schuldenaufnahme auf europäischer Ebene überflüssig, um Maßnahmen wie den Green New Deal und den Kampf gegen Covid-19 zu finanzieren.

Dieser Text basiert auf dem Artikel „Interest Rates & Human Rights: Reinterpreting Risk  Premiums to Adjust the Financial Economy” der am 19. April 2021 im Yale Journal of International Law veröffentlicht wurde.

[1] Derleder, Knops, Bamberger, Deutsches und europäisches Bank- und Kapitalmarktrecht (3. Auflage Springer 2017) § 13 Rn 3
[2] Matthew D. Diette, How Do Lenders Set Interest Rates on Loans? A Discussion of the Concepts Lenders Use to Determine Interest Rates, Fed. Reserve Bank of Minneapolis (1. November 2000).
[3] Diette, supra 2; zustimmend Deutsches und europäisches Bank- und Kapitalmarktrecht § 14 Rn 5 (Peter Derleder, Kai-Oliver Knops & Heinz Georg Bamberger Hrsg., 3. Auflage 2017).
[4] Diette supra 2. Selbstverständlich könnten auch die kreditwürdigsten Kunden von höheren Risikoprämien betroffen sein, falls sie nicht oder nur verspätet die vereinbarten Raten anderer        Kredite begleichen. Allerdings handelt es sich in solchen Fällen um Absicht oder Nachlässigkeit,   weshalb der Artikel nicht weiter auf diese Punkte eingeht.
[5] History of the Basel Committee, Bank for Int’l Settlements
[6] The Basel Framework, Bank for Int’l Settlements
[7] Diette, supra 2
[8] Da es sich um Giralgeld handelt, ist das Darlehen nur bedingt mit einer Investition vergleichbar, aber es ist ähnlich wie Eigentum geschützt. Ebenso ist die Begleichung der Darlehensschuld durch den Darlehensnehmer tatsächlich keine Rückzahlung, sondern eine Bezahlung. Vgl. die        Ausführung zu Eigentum an Darlehenssumme und Preis im Originalartikel.
[9] Vergleiche die Ausführungen zur “prohibition of discrimination based on economic status” U.N., Comm. on Econ., Soc. & Cultural Rights, Gen. Comment No. 20, Non-discrimination in Economic, Social and Cultural Rights, E/C.12/GC/20 (02. Juli 2009); siehe auch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Guide on Article 14 of the European Convention on Human Rights and on Article 1 of Protocol No. 12 to the Convention – Prohibition of Discrimination, 15 (31 Dezember 2019).
[10] So z.B. Shelter Corp. v. Ontario (Human Rights Comm.), 2001 CanLII 28414 (ON SDC);   Chassagnou and others v. France [GC, 29. April 1999], Nr. 25088/94, 28331/95 und 28443/95,            ECHR 1999-III; Magyar Alkotmánybíróság [Ungarisches Verfassungsgericht] 18 Dezember          2012, 42/2012 (XII. 20.) AB határozat (Ung.); http://www.codices.coe.int/NXT/gateway.dll/CODICES/‌precis/eng/eur/hun/hun-2012-3-008 (Englische Zusammenfassung).
[11] Ähnlich der Lösungsansätze deutscher und österreichischer Gerichte bei Übersicherungen, vgl.   BGHZ 137, 212, 218 and Österreichisches Bankvertragsrecht – Band VIII: Kreditsicherheiten, Teil I (Peter Apathy, Gert Michael Iro & Helmut Koziol eds., 2d ed. 2012) nr. 1/170, fn. 612 and 613.