Editorial

Fluchtpunkte und Meta-Erzählungen

| 05. Januar 2021
istock.com/Vasilvich

Liebe Leserinnen und Leser,

wir leben im Zeitalter der großen Zweifel. Vielleicht wurden noch nie so viele Autoritäten, Normen und Glaubensätze so grundlegend in Frage gestellt, wie in der vergangenen Dekade, eines Jahrzehnts der Unsicherheit, Unstetigkeit und der Krise. Die Irrwege dieses Zweifelns im Spätkapitalismus ohne Anker sind der Schwerpunkt dieser Ausgabe.

Trost in der Verschwörung

Fixpunkt ist das fulminante und kontroverse Essay von Lee Jones über das Phänomen der Verschwörungstheorien. Diese blühen in Zeiten, in denen die Glaubenssysteme für die Sinnstiftung versagen. Im Westen bieten die großen Religionen heute für viele keinen Trost mehr; selbst Gläubige leben nicht mehr ganz nach ihren Kodizes und sind gezwungen, die Lehren zu verwässern und mit den modernen Tatsachen in Einklang zu bringen. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989 verschwanden auch alle großen Ideologien und hinterließen nur einen Liberalismus, der – abgesehen von einem Rückzug in Individualismus und Konsumrausch – wenig Sinngebung mehr bietet.

Verschwörungstheorien, so Jones, sind eine Möglichkeit, einer Welt, die keinen Sinn mehr zu ergeben scheint, eine kohärente Bedeutung zu verleihen. Wir wehren uns normalerweise gegen die Vorstellung, dass unser Leben lediglich eine zufällige Abfolge von bedeutungslosen Ereignissen ist. Wir haben komplexe Glaubenssysteme entwickelt, um zu versuchen, unserer Existenz Sinn und Struktur zu verleihen, von den großen Religionen bis hin zu modernen Ideologien und den Sozialwissenschaften.

Verschwörungstheorien sprechen unser Grundbedürfnis an, zu glauben, dass es eine Ordnung im Universum gibt. Die soziale Realität darf nicht bedeutungslos, fragmentiert oder chaotisch sein; irgendetwas muss alles zusammenhalten; irgendjemand muss »das Sagen haben«. Und sowohl »woke«-Theorien als auch Verschwörungstheorien sind tröstlicher als die beunruhigendere Alternative: dass niemand die Kontrolle hat; dass alle alten Gewissheiten und Formen der sozialen Organisation und Herrschaft tot sind.

Realitätsflucht

An der großen Sinnentleerung haben auch die Sozialwissenschaften ihren Anteil, die unter dem Einfluss des Poststrukturalismus jedwede Großtheorie als »Meta-Erzählungen« ablehnen, da sich hinter ihnen nichts weiter als krudes »Machtwissen« und Unterdrückungsversuche verbergen soll. In der vom wissenschaftlichen Betrieb eher abgegrenzten Sphäre des öffentlichen Lebens tritt dieser Blickwinkel in Gestalt einer Kultur- und Sprachkritik zu Tage, die von den entsprechenden Akteuren als besonders dringlich eingestuft und mit pingeliger Genauigkeit betrieben wird. Gleichzeitig fragt sich ein nicht geringer Teil der Restöffentlichkeit, ob es sich dabei tatsächlich um die wesentlichen Anliegen der Zeit handelt.

Ob es zum Beispiel ein entscheidender kultureller Fortschritt ist, wenn bei den Öffentlich-Rechtlichen nun gegendert wird? Was für ein gesellschaftlicher Missstand behoben ist, wenn Kinderspielzeug »geschlechtsneutral« wird? Oder was für einen Qualitätsunterschied es hinsichtlich des politischen Betriebes macht, wenn Parteien ihre Wahllisten zu gleichen Anteilen mit Männern und Frauen besetzen?

Dieser Fehlschluss der postmodernen Theorie kann deshalb zustande kommen, folgert Dorian Hannig im ersten Teil seiner Artikelreihe über die postmoderne Schule, weil im Sozialkonstruktivismus die Tendenz einer Verschiebung angelegt ist: weg vom Empirismus – der sich noch auf eine äußere Wirklichkeit bezieht – hin zu reiner Erkenntnistheorie. Je mehr das materielle Fundament jeglichen Wirklichkeitsbezugs ausgeblendet oder vergessen wird, desto mehr tendiert die sozialkonstruktivistische Haltung dann dazu, die Wirklichkeitskonstruktion ins Subjekt oder das kulturelle System zu verlagern.

Wachstumsmüdigkeit…

Auch das Wachstum als Wohlstandsmotor ist längst nicht mehr heilig. Heute sei eine ausgeprägte Wachstumsmüdigkeit festzustellen, so der Befund von Ulrich Thielemann. In einer Umfrage unter 2000 in Deutschland lebenden Bürgerinnen und Bürgern hat die Organisation »More in Common« die Frage gestellt: »Wie soll Deutschland werden?« Und die Antwort lautet: Deutschland soll vor allem »umweltfreundlicher« und »gerechter« werden, aber nicht »wohlhabender«. Ein steigender Wohlstand landete bei allen gesellschaftlichen Strömungen auf dem letzten Platz der politischen Prioritäten.

Thielemann aber wirft einen differenzierten Blick auf das »Wachstum«, das vielmehr eine emergente Eigenschaft des Wettbewerbs ist. Die Steigerung des Einkommens des einen oder des Bruttoinlandproduktes eines Landes ist noch kein gesamtwirtschaftliches Wachstum, sondern zunächst einmal bloß Umleitung von Zahlungsströmen. Darum ist das Problem auch nicht das Wachstum an und für sich, so Thielemann, sondern der Prozess, der zu ihm drängt bzw. es erzwingt.

…und exponentielles Wachstum

Bedrohlich aber wird Wachstum in den Augen der Wachstumskritiker spätestens dann, wenn es »exponentiell« wird. Mit kaum einem Phänomen kann man Menschen besser erschrecken als mit dem »exponentiellem Wachstum«, schreibt Heiner Flassbeck. Ganzen Generationen wurde mit der Zinseszinsrechnung die teuflische Logik des Kapitalismus vor Augen geführt. Wir können angesichts einer begrenzten Erde nicht unbegrenzt Wachstum anstreben, hört man allenthalben. Machten wir weiter so wie bisher und versuchten, allen Menschen den Lebensstandard des industrialisierten Nordens zu verschaffen, bräuchten wir in hundert Jahren schon drei Erden – oder so ähnlich.

Mit dieser Art des Diskurses aber wird Logik und Erfahrung beiseitegeschoben, erwidert Flassbeck. Denn ein Wachstum der Wirtschaft, das man exponentiell nennen könnte, hat es nur in einem verschwindend geringen Zeitraum der Menschheitsgeschichte gegeben. Und selbst da war es nicht gleichmäßig vorhanden, sondern immer wieder von Krisen und Rezessionen unterbrochen. Die Zuwachsraten der heutigen Wirtschaft einfach um hundert Jahre fortzuschreiben, ist daher eine unsinnige Übung, die mehr schadet als nutzt: Die fortwährende Drohung mit den Gefahren des exponentiellen Wachstums nämlich stumpft diejenigen ab, die es eigentlich aufrütteln soll.