Interview

„Die neoliberale Ära war nicht nur eine Ära der Liberalisierung“

| 15. Januar 2024
Darstellung von Julius Krein / @midjourney

Der American Affairs-Herausgeber Julius Krein über gescheiterte ökonomische Projekte in den USA und Europa, Industriepolitik und Donald Trump.

Herr Krein, Experten diagnostizierten nach Donald Trumps Wahlsieg 2016 ein sogenanntes “realignment”, womit die Neuordnung der sozio-politischen Zusammensetzungen der beiden großen Parteien gemeint war. Ehemals klassisch demokratische Wähler aus der Arbeiterschaft verhalfen Trump damals zum Sieg. Es war davon die Rede, dass sich die Republikaner nun zu einer “Trump-Arbeiterklassenpartei” transformieren würden. Aber ohne ihn am Ruder klingen die Republikaner im Kongress wie unter George W. Bush vor zwanzig Jahren die Steuern und Ausgaben, vor allem für den Sozialstaat, seien zu hoch. Und mit wenigen Ausnahmen steht die Partei den Gewerkschaften immer noch feindlich gegenüber. War also all die Rede vom “realignment” nichts weiter als Wunschdenken?

In mancherlei Hinsicht war die Aussicht auf das realignment übertrieben, allerdings würde ich nicht sagen, dass sich nichts verändert hat. Zum einen ist der Wettbewerb mit China nun zentrales, parteiübergreifendes Thema. Dem war 2016 noch nicht so. Es gibt unter den Republikanern außerdem sehr viel weniger Begeisterung für die Kürzung von Sozialhilfe und anderen Leistungsansprüchen. Zur Zeit kandidiert Nikki Haley [die ehem. Gouverneurin des US-Bundesstaats South Carolina und UN-Botschafterin unter Donald Trump, d.R.] für die Präsidentschaft. Ihr Programm erinnert stark an die neoliberalen Ziele von George W. Bush, wie zum Beispiel die Kürzung der Sozialversicherung. Aber deswegen greift Donald Trump sie nun scharf an. Auch das ist ganz anders als noch vor 2016. Und auch wenn es noch nicht mehrheitsfähig unter den Republikanern ist, nimmt sich doch eine bemerkbare Zahl an Senatoren Themen wie einer Industriestrategie an. Auch gab es Unterstützung für die streikenden Arbeiter in der Autoindustrie. Vor 2016 hätte es nicht den geringsten Mucks gegeben.

Zur Person

Julius Krein ist Journalist und Gründer des politischen Quartalsmagazins American Affairs, das er seit 2017 herausgibt. American Affairs veröffentlicht politische und ökonomische Analysen, oft aus einer neo-nationalistischen Perspektive. In seinen Seiten erschienen heterodoxe Denker wie Michael Lind, David P. Goldman, Slavoj Žižek und Heiner Flassbeck.

Nichtsdestoweniger scheint die Biden-Regierung Trump in puncto Reindustrialisierung und “Made in America”-Maßnahmen ausmanövriert zu haben. Während die Trump-Regierung stets davon träumte, ein großes Infrastrukturpaket zu verabschieden, wurde dergleichen seit Bidens Amtsübernahme Realität. Auch der “CHIPS and Science Act” und der “Inflation Reduction Act” (IRA) beinhalten protektionistische Maßnahmen und wurden maßgeblich von den Demokraten gestaltet. Aber Sie kritisierten diese Reformen kürzlich in einem ausführlichen Artikel als unzureichend, unter anderem weil sie zu sehr auf eine direkte Subventionsstrategie setzen. Warum?

Wir leben nicht mehr in den 1960ern, als ein paar große Betriebe das herstellende Gewerbe beherrschten und die Regierung einfach nur mal ein paar Anreize bieten musste, woraufhin diese Firmen ihre Produktion ankurbelten. Heutzutage leben wir in einer vom Markt und Investoren dominierten Wirtschaft. Und auch wenn man Sektoren wie Computerchips mit Subventionen ankurbeln will, lohnen sich Investitionen oft nicht. Man bekommt als Softwarebetrieb auf geistiges Eigentum allein eine so gewaltige Prämie, dass kapitalintensive Wirtschaftsmodelle sich einfach nicht auszahlen. Und selbst wenn dann die Profite durch Manufaktur steigen, ist es nichts im Vergleich dazu, was Patentgebühren auf geistiges Eigentum abwerfen. Unternehmensstrategien trennen heutzutage die Erträge dieser Patentgebühren von den kapital- und arbeitsintensiven Bereichen der Produktionsketten. Und die Gesetzespakete, die Sie ansprachen, tun einfach nicht genug dafür, um diese Dynamiken zu verändern.

Dann gibt es noch das ganz praktische Problem, dass es immer zwei, drei Jahre dauert, bis diese Reformen vom Kongress verabschiedet werden. Sie können nicht aktualisiert oder verbessert werden, ohne dass der Kongress noch mal abstimmt, was eben sehr schwierig ist. Auf diese Weise funktioniert Industriepolitik nicht.

Sondern?

Erfolgreiche Industriepolitik zielt darauf ab, wirklich erfolgreiche Unternehmen und Branchen aufzubauen, Marktanteile in wettbewerbsintensiven Märkten zu gewinnen oder sich als dominanter Anbieter einer Technologie zu etablieren. Dies erfordert Anreize zur Verbesserung der tatsächlichen Fähigkeiten der Unternehmen oder des anvisierten Ziels. Zum Beispiel würde eine echte Industriepolitik für Halbleiter Maßnahmen vorsehen, bei denen eine neue Fabrik, sobald sie in der Lage ist, beispielsweise eine Produktion von fünf Nanometern durchzuführen, mehr Mittel erhält, um die Entwicklung in Richtung drei Nanometer fortzusetzen. Mit anderen Worten, Bedingungen rund um Industrieleistung. Von all dem gibt es in den jüngsten Reformen praktisch nichts zu sehen – mit Ausnahme von Bedingungen, dass man Kindertagesstätten baut und so weiter. Das verheißt nichts Gutes für die Zukunft.

Viele Kritiker, meistens aus dem libertären Lager, argumentieren, dass staatliche Intervention letztendlich dazu führt, dass regulierende Behörden von privaten Interessen vereinnahmt oder paradoxerweise private Unternehmen von Politikern unter Druck gesetzt werden, die nicht wissen können, was der Markt oder die Verbraucher wirklich wollen. Stattdessen würden Politiker nur Entscheidungen treffen, die ihren eigenen Wahlinteressen nutzen. Was diese Kritiken vereint, ist der Glaube, dass Industriepolitik zu ineffizientem Wirtschaften und verlangsamter Innovation führt. Auch heißt es, der Staat würde eigenhändig die “Gewinner und Verlierer” in der Privatwirtschaft bestimmen. Was würden Sie dem entgegnen?

Einfach, dass wir so etwas jetzt schon haben, ganz ohne Industriepolitik. Die Realität ist die, dass man der Industriepolitik nie entkommt. Wenn man keine eigene hat, werden fremde Staaten durch ihre Industriepolitik entscheiden, wer die “Gewinner und Verlierer” sind. Klar stimmt es, dass man nicht schon dadurch eine effiziente Industriepolitik hat, indem man sie sich herbeiwünscht. Aber warum sollte denn diese Kritik nur auf Industriepolitik zutreffen? Die Steuerkürzungspolitik, die von libertärer Seite verfochten wurde, hat ja auch nicht viel gebracht. Aber niemand sagt, man könne nicht mehr die Steuern kürzen, weil das nicht immer funktioniert.

Die Realität ist die, dass man der Industriepolitik nie entkommt. Wenn man keine eigene hat, werden fremde Staaten durch ihre Industriepolitik entscheiden, wer die “Gewinner und Verlierer” sind.

Auch wenn es durchaus zutrifft, dass kein Marktteilnehmer alles weiß, braucht man nicht unbedingt den perfekten Überblick, um eine Industriepolitik zu entwickeln. Das zeigen die erfolgreichen Beispiele aus Taiwan, China, oder Israel. Wenn Industriepolitik nie funktionieren würde, gäbe es diese Debatte nicht. Aber wir führen sie, weil sie in Ländern wie China ja eben wenigstens zum Teil funktioniert hat. Selbstverständlich kann man konstruktive Kritik äußern und sich darüber streiten, ob diese oder jene Maßnahme greifen wird. Aber libertäre Kritik ist oft unaufrichtig und sehr theoretisch und behauptet einfach, dass Regierungen nie wissen, was zu tun ist. Wenn dem so sei, wünschte ich, dass sich die Freimarktler ihre eigene Kritik zu Herzen nehmen und nicht mehr in der Politik mitmischen. Das würde das Feld seriösen Menschen überlassen. 

Sie äußern in ihrem Artikel aber auch Kritik an linken Analysen des Neoliberalismus, die diesen fehlverstanden hätten. Sie schreiben: “Es ist nicht das Problem mit dem Neoliberalismus in den USA, dass die Steuern zu niedrig, die Milliardäre zu gierig, oder die Firmen zu ‘globalistisch’ sind. Stattdessen ist das Problem, dass neoliberale Methoden der Vermögensakkumulation vermehrt die Grundlagen der wirtschaftlichen und politischen Bedingungen untergraben, auf die sie angewiesen sind, auch die der nationalen Sicherheit”. Könnten Sie das erläutern?

Ich möchte vor allem auf das neue Buch von Gary Gerstle verweisen, The Rise and Fall of the Neoliberal Order. Wenn Sie eine ausführliche Analyse dieses Themas wollen, kann ich dieses Buch sehr empfehlen. Aber was ich genau meinte, ist folgendes: Als der Neoliberalismus in den 1970er Jahren erwuchs, haben die USA gerade eine wirtschaftliche Krise erlebt. Dafür gab es damals verschiedene Gründe. Die Hauptursache war, dass amerikanische Firmen ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber aufstrebenden Konkurrenten aus Europa und Japan eingebüßt hatten. Diese Regionen hatten sich zu diesem Zeitpunkt vollends von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs erholt. Die USA waren vor die Wahl gestellt, ob sie die heimische Wirtschaft durch Zölle abschotten wollten. Aber damals wütete der Kalte Krieg und aus diplomatischen Gründen entschied man sich für eine halbwegs bewusste Strategie, sich von einer Wirtschaft, die auf großen integrierten Herstellern wie Ford oder GM basiert, wegzubewegen und hin zu einer Wirtschaft, die auf geistigem Eigentum und finanziellen Erträgen aufgebaut ist.

Was wir seit den Siebzigern machten, war es, eine Wirtschaft aufzubauen, die auf geistigem Eigentum und finanziellen Renditen basiert.

Wenn man sich also den Beginn der neoliberalen Ära ansieht, handelte es sich nicht einfach um eine Liberalisierung, wie es das Selbstbild der Verfechter des Neoliberalismus darstellt. Es gab zum einen eine stetige Rücknahme von Handelsbarrieren und Strafzöllen; aber dafür gab es zum anderen auch eine Zunahme an Handelsbarrieren für geistiges Eigentum durch das TRIPS-Abkommen und eine Stärkung der Rechte ausländischer Investoren durch die Investor-Staat-Streitbeilegung. Was wir also seit den Siebzigern machten, war es, eine Wirtschaft aufzubauen, die auf geistigem Eigentum und finanziellen Renditen basiert.

Und einer Verlagerung der Produktion ins Ausland…

Ja. Das Kartellrecht änderte sich so, dass Firmen wie Apple ihre Produktion per Lizenz vergeben konnten, ohne selbst die Produkte herstellen zu müssen. Das hatte zur Folge, dass diese Tech-Firmen sehr viele ihrer Drittparteianbieter kontrollierten, ohne deren Arbeiter tatsächlich anstellen oder die Profite mit ihnen Teilen zu müssen. Was also passierte, war, dass wir unser Wirtschaftsmodell änderten – weg von einer Situation, in der die profitabelsten Firmen auch die größten Arbeitgeber und Kapitalinvestoren waren und hin zu einer Situation, in der die profitabelsten Firmen eine relativ kleine Belegschaft haben und kaum Kapital investieren. Mit anderen Worten: Unternehmensgewinne wurden von den kapital- und arbeitsintensiven Teilen der Wertschöpfungskette getrennt.

Wie betraf das schließlich die nationale Sicherheit?

Es hat allmählich die industrielle Stärke der USA untergraben, bis hin zu dem Punkt, an dem selbst die Verteidigungsindustrie der USA nun stark geschwächt ist und oft auf China und andere geopolitische Rivalen angewiesen ist. Das war in jüngster Vergangenheit zum Beispiel daran erkennbar, dass wir nicht in der Lage waren, schnell genug Artilleriemunition für den Krieg in der Ukraine herzustellen. Laut einer Schätzung wird es sieben Jahre dauern, um die Vorräte einiger dieser Geschütze wieder aufzustocken.

Das Think Tank Center for Strategic and International Studies schätzt, dass den USA im Falle eines Konflikts mit China um Taiwan nach zwei Wochen die Munition ausgehen würde.

Letztes Jahr baute China einundzwanzig U-Boote, die USA fast zwei. Amerika kann die Bauzeitpläne für U-Boote im Rahmen des AUKUS-Abkommens mit Australien nicht einhalten. Das überparteiliche Think Tank Center for Strategic and International Studies schätzt, dass den USA im Falle eines Konflikts mit China um Taiwan nach zwei Wochen die Munition ausgehen würde.

Das heißt also auch, dass der sich anbahnende Großmächtekonflikt zwischen den USA und China dazu beigetragen hat, die Republikaner, die in den vergangenen Jahrzehnten stark auf Austerität setzten, in Richtung Industriepolitik umzusteuern?

Ja, die brodelnde Rivalität mit China ist der Hauptgrund für das Umsteuern unter den Republikanern. Das ist so ziemlich das einzige, worin sich die Rechte einig ist. Aber auch die Demokraten. Der Konsens rund um diese Themen ist groß. Zwar drückt sich das noch nicht in konkreten Maßnahmen zur Stärkung der industriellen Basis der Verteidigungsindustrie und verwandter Branchen aus. Aber es gibt jetzt zumindest eine ziemlich starke und vereinigte rhetorische Unterstützung.

Wie wird sich diese zunehmende Hinwendung zur heimischen Industrie auf das amerikanische Verhältnis zu befreundeten Staaten auswirken? Der Deal nach dem Zweiten Weltkrieg war ja, dass die USA Staaten wie Deutschland beim wirtschaftlichen Wiederaufbau halfen, selbst auf Kosten der heimischen Industrie; zum Ausgleich behielten die USA ihre Militärbasen auf dem Territorium dieser befreundeter Staaten und weiteten ihren Verteidigungsschirm auf sie aus, um sie so geopolitisch an sich zu binden. Jetzt sind aber europäische Staatschefs sauer auf die USA wegen deren Neomerkantilismus rund um den IRA und der anderen angesprochenen Gesetzespakete. Die Europäer versuchen verzweifelt, die neuesten Handelsbarrieren für europäische Güter abzubauen, bisher ohne Erfolg. Ist die Nachkriegsordnung Geschichte?

In gewissem Maße ja. Was die Konsequenzen davon sein werden, bleibt offen. Aber wie ich schon sagte, diese Probleme traten schon in den 1970ern auf. Und wir schafften es, die Rechnung aufzuschieben, in dem wir unsere Wirtschaft eben auf die Grundlage von geistigem Eigentum, Finanzialisierung und der Auslagerung des herstellenden Gewerbes stellten. Aber das ist nicht mehr haltbar. Und dann muss man sich dem Problem stellen, dass die Stärkung der heimischen Industrie Verbündete belastet, vor allem Exportnationen wie Deutschland. Aber wenn wir unsere Industriebasis nicht stärken, die USA also so schwach werden, um von der Industrie anderer abhängig zu werden, dann kann Amerika nicht mehr glaubwürdig das westliche Allianzsystem verankern. Dann ist es nebensächlich, ob wir unser Verhältnis zu Alliierten belasten, weil im Kern nichts mehr da ist, was dieses Verhältnis zusammenhält.

In vielen Teilen der Welt ist China zum führenden Handelspartner geworden. Die alten ökonomischen Beziehungen werden dann durch die neue Industriemacht China ersetzt, was auch diplomatische Beziehungen schwächt. Das sah man unter anderem in Folge der russischen Invasion der Ukraine, als viele Staaten im globalen Süden sich praktisch für blockfrei erklärten – oder stillschweigend sogar die Seite Russlands und Chinas einnahmen.

Viele interne wirtschaftliche Probleme Europas sind nicht das Resultat amerikanischer Zölle, sondern eines Jahrzehnte langen, sehr misslungenen ökonomischen Projekts – des Euro

Was Europa angeht, glaube ich, dass amerikanische Politiker zwar generell Sympathie verspüren, aber ebenso Ungeduld, weil Europa ja auch viele seiner eigenen protektionistischen Schranken aufrechterhält. Und es wird nicht genug darauf hingewiesen, dass sehr viele interne wirtschaftliche Probleme Europas nicht das Resultat amerikanischer Zölle, sondern eines Jahrzehnte langen, sehr misslungenen ökonomischen Projekts sind – des Euro.

Auch die USA wollten den Euro.

Zugegebenermaßen haben die USA das Projekt zutiefst unterstützt. Aber wenn Europa mit dem Finger auf die Ursachen seiner wirtschaftlichen Probleme zeigen will, muss es auch seine eigenen gescheiterten Maßnahmen analysieren. Es ist unwahrscheinlich, dass besonders Politiker der Demokraten den IRA – vor allem die Teile des Gesetzes, die vielen internationalen Handelsabkommen zuwiderlaufen – auf große Weise reformieren werden. Und dann bleibt die Antwort, den Europäern eben anzuraten, vermehrt eine eigene Industriepolitik zu verfolgen.