Die versandete Zeitenwende
Die Militärausgaben der europäischen NATO-Staaten steigen rapide – und liegen weit über den russischen. Dennoch klingen die Rufe nach weiteren Erhöhungen nicht ab. Ein Grund: Ineffiziente Rüstungspolitik und nationale Egoismen.
Die Militärausgaben der europäischen Mitgliedsstaaten der NATO steigen rasant an. Seit 2021, dem letzten Jahr vor der russischen Invasion in der Ukraine, real um 35 Prozent, also mehr als ein Drittel. 2025 dürften sie nach vorläufigen Zahlen der NATO fast 480 Milliarden Euro betragen. Sie liegen damit deutlich über denen Russlands. Diese sind zwar seit 2021 deutlich mehr als die der europäischen NATO-Staaten angewachsen, aber von einer geringeren Basis aus. Umgerechnet mit dem geschätzten Euro-Rubel-Kurs für 2025 dürften sie etwa 140 Milliarden Euro betragen. Nun sind Umrechnungen von russischen Militärausgaben mit Wechselkursen problematisch – aber auch wenn man Kaufkraftparitäten zu Grunde legt, lieben sie noch unter denen der europäischen NATO-Staaten.
Trotzdem ist die Ansicht weit verbreitet, auf einen russischen Angriff auf die NATO schlecht vorbereitet zu sein. Der Spitzenkandidat der Grünen für die Bundestagswahl 2025, Robert Habeck, etwa befürwortet eine deutliche und dauerhafte Steigerung der deutschen Militärausgaben über den bisher geplanten Anteil von 2 Prozent am Bruttoinlandsprodukt hinaus. Er begründet das mit der Sorge, dass die europäischen NATO-Staaten ohne die USA nicht in der Lage wären, einen russischen Angriff erfolgreich abzuwehren. Damit reiht sich Habeck in einen großen Chor von Unkenrufern ein.
Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Ein Element ist sicher das insbesondere in militärischen Kreisen weit verbreitete Denken in Kategorien des „worst case“, des schlecht möglichst denkbaren Falles. Umso größer die militärische Überlegenheit, umso besser die Aussichten, einen Gegner von einem Angriff abzuhalten oder notfalls sicher zu besiegen. Dem stehen aber die Kosten der Aufrüstung gegenüber. „Worst case“-Denken, wie es aktuell gegenüber Russland verbreitet ist, steht der Suche nach einer Balance zwischen Nutzen und Kosten militärischer Fähigkeiten entgegen. Gefordert ist eine realistische Einschätzung der Bedrohung durch Russland und der notwendigen finanziellen Aufwendungen, um ihr erfolgreich und nachhaltig zu begegnen.
Zersplitterte Beschaffungen: Ein teures Chaos
Ein weiterer Erklärungsfaktor ist die notwendige Umorientierung vieler Streitkräfte der europäischen NATO-Mitglieder. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden sie auf Missionen außerhalb des NATO-Bündnisgebietes ausgerichtet. Statt Landes- und Bündnisverteidigung standen Friedenssicherung aber auch Kriegführung wie in Afghanistan auf dem Programm. Es wurde weniger und für Auslandseinsätze optimiertes Gerät beschafft. Die erst vor kurzem eingeleitete Transformation zurück zur Landes- und Bündnisverteidigung als primärer Aufgabe der Streitkräfte wird einige Jahre dauern.
Aber über diese Elemente hinaus ist die Diskrepanz auch auf ein massives hausgemachtes Problem zurückzuführen: die vergleichsweise geringe Effizienz der Militärausgaben der europäischen NATO-Mitgliedsstaaten. Das betrifft insbesondere die Ausgaben für die Beschaffung von Großgerät.
Jeder der inzwischen 29 europäischen NATO-Staaten entscheidet über militärische Angelegenheiten für sich. So nimmt es nicht Wunder, dass deren Streitkräfte über ein großes Sammelsurium an militärischem Gerät verfügen. In einer Statistik der NATO werden bei den Europäern 89 verschiedene Typen von Großwaffensystemen gezählt, bei den US-Streitkräften, trotz deutlich höherer Beschaffungsausgaben, hingegen nur 27.
Seit vielen Jahrzehnten tagen zahlreiche Gremien auf Ebene der NATO, und seit einigen Jahren verstärkt auch der EU, um gemeinsame Beschaffungen anzubahnen und umzusetzen. Das „Pooling“ von Beschaffungen erweist sich aber als ungeheuer schwierig. Jede Streitkraft besteht auf ihren Vorstellungen. Wenn es zum Pooling kommt, ist dies vor allem den Kosten von Alleingängen geschuldet. Denn offensichtlich spart die gemeinsame Bestellung von Waffensystemen. Hauptgrund dafür sind die „economies of scale“, die Skalenerträge in der Produktion. Diese sind für Großwaffensysteme besonders hoch. Insbesondere für Forschung und Entwicklung fallen hohe Fixkosten an. Die Lernkostengewinne sind insbesondere zu Beginn der Fertigung sehr hoch. In einer US-amerikanischen Studie zu den F-35 Kampfflugzeugen, die demnächst auch an die Bundeswehr geliefert werden, wird geschätzt, dass die Stückkosten mit jeder Verdoppelung der Anzahl der hergestellten Systeme um 15,5 Prozent sinken.
Mehr Effizienz durch europäisches Pooling
In einer Reihe von Studien mit unterschiedlichen Ansätzen, Annahmen und Länderkreisen ist das Einsparpotential von Pooling geschätzt worden. Die Ergebnisse reichen bis zu 30 Prozent der Beschaffungskosten bei vollständigem europäischen Pooling der Beschaffungen. Nicht berücksichtigt sind dabei weitere Einsparmöglichkeiten durch Pooling mit den USA – was von vielen Mitgliedsstaaten der EU politisch nicht erwünscht ist.
Ein Grund dafür, dass gemeinsame Beschaffungen die Ausnahme geblieben sind, ist die Subventionierung nationaler Rüstungsproduktion durch viele NATO-Mitgliedsstaaten. Besonders gilt dies für die größeren Mitgliedsstaaten der EU. Frankreich, Deutschland, Italien, Schweden und Spanien haben den Anspruch eine breit aufgestellte nationale Rüstungsindustrie zu unterhalten. Etwas anders war lange das Herangehen in Großbritannien, wo erst seit wenigen Jahren die Bevorzugung der nationalen Industrie wieder Programm ist. Kleinere Länder in Europa, wie Norwegen oder die Niederlande, beschränken die Bevorzugung auf einzelne Branchen, im Falle Norwegens etwa auf Munitionsherstellung und, wie auch in den Niederlanden, auf mit dem Schiffbau verbundene Firmen.
Die Erhaltung nationaler Herstellung bei typischerweise kleinen Produktionsmengen erfordert die nationalen Hersteller bei Beschaffungsentscheidungen zu bevorzugen und deren Exporte zu fördern. In Deutschland etwa hat die Bundesregierung vor über einem Jahrzehnt begonnen, sogenannte „Schlüsseltechnologien“ weitgehend vom internationalen Wettbewerb auszunehmen- und zwar nicht nur von der in vielen Bereichen übermächtigen US-amerikanischen Konkurrenz, sondern auch gegenüber Wettbewerbern aus anderen europäischen Staaten. Deutschland ist damit aber nicht allein, eher im Gegenteil. Verglichen mit anderen Staaten, wie etwa Frankreich, ist das Ausmaß der nationalen Bevorzugung begrenzt.
Speziell für einzelne europäische Streitkräfte national entwickelte und hergestellte Waffensysteme sind in der Regel deutlich teurer als solche, die importiert werden können. Die Mehrkosten aus heimischer Herstellung müssen die Streitkräfte bzw. genauer die Steuerzahler tragen. Der mit der russischen Invasion in der Ukraine gestiegene Druck die Transformation in Richtung auf Landes- und Bündnisverteidigung zu beschleunigen, hat zunächst dazu geführt, dass der Anteil ausländischer Importe an den Rüstungsausgaben deutlich gestiegen war. Das galt insbesondere für Käufe aus den USA, aber auch für Importe von in anderen europäischen Staaten hergestellte Waffensysteme.
Inzwischen hat jedoch die Tendenz zu nationaler Bevorzugung wieder an Fahrt aufgenommen, auch in Deutschland. Ein Ausdruck dafür ist die nationale Rüstungsindustriestrategie, die das Bundeskabinett im Dezember 2024 beschlossen hat. Anders als man auf Grund der geänderten militärpolitischen Lage hätte erwarten können, ist der Kreis der national geförderten Sektoren der Rüstungsproduktion gegenüber der letzten Festlegung von Schlüsseltechnologien nicht kleiner geworden, sondern sogar leicht erweitert worden.
Geringen Ausmaß von „Pooling“ und die Bevorzugung nationaler Produktion verstärken sich gegenseitig. Allerdings gibt es auch eine Variante der Rüstungsproduktion, in der Pooling und nationale Rüstungsherstellung verbunden sind. In Gemeinschaftsvorhaben wird parallel die gemeinsame Beschaffung von Waffensystemen und die Aufteilung der Herstellung unter zwei oder mehr Partnerstaaten vereinbart. Theoretisch sind solche Gemeinschaftsvorhaben gegenüber nationalen Alleingängen kostensparend, werden doch größere Stückzahlen möglich.
In der Praxis erweisen sich Gemeinschaftsvorhaben jedoch als besonders teuer. Beispiele dafür gibt es zu Hauf – vom Transportflugzeug A-400M über den Transportpanzer Puma bis zum NATO-Hubschrauber NH-90. Zu den hohen Kosten von Gemeinschaftsvorhaben tragen eine Reihe von Faktoren bei. Wohl der wichtigste ist die regelmäßige Vereinbarung von „juste retour“, dem Prinzip das die Beteiligung der jeweiligen nationalen Rüstungsindustrie den finanziellen Anteilen der einzelnen Partnerstaaten an den Beschaffungskosten entsprechen muss. Zusätzlich wählen die beteiligten Regierungen auch noch aus, welche nationalen Firmen zu beteiligen sind.
Das führt nicht nur zur Verkomplizierung der Produktion, häufig mit erheblichen Zeitverzögerungen, sondern auch zum Zwang für den oder die Hauptauftragnehmer Lieferanten nach anderen als wirtschaftlichen Kriterien an Vorhaben zu beteiligen. Weiterhin führt die Beteiligung von Firmen aus unterschiedlichen Ländern, zum Teil mit unterschiedlichen Firmenkulturen, häufig zu erhöhten Kosten. Eine seit vielen Jahren entwickelte Faustformel ist, dass die Stückkosten mit der Wurzel aus der Zahl der beteiligten Waffensysteme steigen.
Die Schätzung der Einsparmöglichkeiten bei Verzicht auf nationale Bevorzugung über die Einsparmöglichkeiten durch Pooling hinaus ist schwierig, nicht zuletzt, weil auch das Ausmaß von Pooling durch den Wunsch, die nationale Rüstungsindustrie zu fördern, beeinflusst wird. Eine Modellrechnung nur für Deutschland für die Zeit vor der „Zeitenwende“ geht davon aus, dass insgesamt bis zu 45 Prozent der Beschaffungskosten hätten eingespart werden können, wenn konsequent auf Pooling gesetzt und die nationale Rüstungsindustrie nicht bevorzugt worden wäre.
Der politische Preis nationaler Rüstungsproduktion
Derartig hohe Einsparungen erzielen zu wollen, ist momentan unrealistisch, aber die Zahl deutet das Potenzial an, was durch strategische Veränderungen in der Rüstungspolitik erreicht werden könnte. Dafür müssten vor allem politische aber auch aus Teilen der Industrie zu erwartende Widerstände überwunden werden. Denn Einsparungen für den Beschaffungshaushalt bedeuten gleichzeitig weniger Umsätze für die Rüstungsindustrie. Betroffen davon wären nicht nur Firmen sondern auch lokale Standorte von Rüstungsproduktion.
Gerade Lokalpolitiker erweisen sich häufig als besonders wirkungsmächtige Lobbyisten für nationale Rüstungsproduktion. Beispiele dafür sind seit Franz Josef Strauss Politiker aus Bayern, dem Bundesland mit der größten Konzentration deutscher Rüstungsfirmen, ebenso wie die „Küstenmafia“ norddeutscher Bundestagsabgeordneter aus Regionen mit Marinewerften. Auch auf staatlicher Ebene gibt es in fast allen europäischen NATO-Staaten starke politische Kräfte für die Bevorzugung nationaler Produktion. Als Hauptgrund wird häufig die Erhaltung nationaler Souveränität genannt, die gefährdet wäre, wäre man stärker von Rüstungsimporten aus dem Ausland abhängig.
In Zeiten Trumpscher Zweifel an den US-amerikanischer Verpflichtungen zur Verteidigung des westlichen Europa mag dies für Lieferanten aus den USA ein berechtigtes Anliegen sein. Aber innerhalb Europas ist es ein schwaches Argument. Wenn die westlichen Europäer nur gemeinsam gegenüber der aktuellen russischen Bedrohung bestehen können, macht es keinen Sinn, dass jeder Staat nationale Unabhängigkeit in der Rüstungsproduktion anstrebt. Wenn es um die Subventionierung nationaler Rüstungsproduktion geht, dürften in der Realität nationales Prestigedenken und partikulare wirtschaftliche Interessen wichtiger sein.
Die Einsicht, dass die europäischen Staaten gemeinsame Beschaffungen anstreben und ihren Bedarf vorrangig auf einem von offenem Wettbewerb geprägten europäische Rüstungsmarkt decken sollten, besteht seit langem. Dass sie sich nicht durchsetzt, ist zwar erklärbar aber trotzdem schwer nachvollziehbar. Denn Forderungen, wie die von Robert Habeck, haben absehbar massive Folgen – entweder für andere Staatsausgaben oder für die Staatsverschuldung. Da wäre es eigentlich zu erwarten, dass die Einsparmöglichkeiten, die eine andere Rüstungspolitik eröffnet, endlich konsequenter ausgenützt würden.