Nachruf

Rudolf Dreßler – der Letzte seiner Art

| 14. Januar 2025
IMAGO / photothek

Am 8. Januar ist der Sozialdemokrat Rudolf Dreßler gestorben. Die Leitmedien stellen seine großen Verdienste um die deutsch-israelischen Beziehungen in den Vordergrund. Aber vor allem war er ein geradliniger und fachlich versierter Sozialpolitiker, der in der Agenda 2010 der SPD-Parteiführung einen verhängnisvollen Weg sah.

Mit Rudolf Dreßler ist ein Politiker von uns gegangen, der dem Zeitgeist in den Leitmedien irgendwie als Fossil galt, aber mit seiner alle Bereiche der Sozialpolitik abdeckenden Kompetenz schmerzlich fehlen wird. Er war ein in der Gewerkschaft verankerter Sozialdemokrat, der immer wieder mit seiner Partei haderte. Einer seiner oft zu hörenden Sprüche war: „Manchmal habe ich doch das Gefühl, in der richtigen Partei zu sein.“

Mit seinem rhetorischen Talent und dem bulligen Habitus des Arbeiterführers machte er sich auch in der SPD, in der es in den Bundes- und Fraktionsvorstand brachte, nicht nur Freunde. Aber niemand sprach ihm seine fachliche Kompetenz als Sozialpolitiker ab, die von seinen Gegnern sogar gefürchtet wurde. Mit den üblichen Phrasen über eine wachsende Unbezahlbarkeit der Sozialversicherung durfte man ihm nicht kommen. Er widerlegte sie faktengesättigt.

Rudolf Dreßler kündigte gesundheits- und sozialpolitische Reformen nicht bloß an, er wollte sie durchsetzen. Dabei war ihm stets bewusst, dass in unserem politischen System entsprechende Gesetze breite politische Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat benötigen. Er war ein Realpolitiker mit festen Überzeugungen und politischem Augenmaß. Gut gemeinte, aber unrealistische Reformideen pflegte er mit „Im Himmel ist Jahrmarkt!“ zu kommentieren.

Rudolf Dreßler war ein ebenso streitbarer wie professioneller Politiker. Er korrigierte eigene Ideen, wenn diese sich nicht umsetzen ließen, und berücksichtigte die Schmerzgrenzen der anderen Seite, wenn Kompromisse eingegangen werden mussten. So konnte er gesundheits- und sozialpolitische Reformen gestalten, von denen zwei Meilensteine herausragen: die 1993 in Gang gesetzte Organisationsreform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und die 1995 eingeführte Gesetzliche Pflegeversicherung. 

Gesundheitsstrukturgesetz: Freie Krankenkassenwahl und Risikostrukturausgleich

Das GKV-System war in den 1980er Jahren noch wie zu Bismarcks Zeiten in berufsständische Kassen gegliedert. Arbeiter waren in einer Pflichtkasse versichert, vor allem in der AOK, während Angestellte und einige ausgewählte Facharbeiterberufe statt der Pflichtkasse eine sogenannte Ersatzkasse (Barmer, DAK, Technikerkasse etc.) wählen konnten. Dieses anachronistische System führte in den 1980er Jahren zu enormen Beitragssatzunterschieden von 8 bis 17 Prozent, obwohl alle Kassen die gleichen Pflichtleistungen boten. Diejenigen mit einer sozial schwachen Mitgliederstruktur mussten wegen relativ geringer Einnahmen und überdurchschnittlicher Ausgaben deutlich höhere Beitragssätze erheben als Kassen mit einer besseren Risikostruktur.

Unter dieser Pervertierung des Solidaritätsprinzips litten vor allem die AOKs als der Basiskasse. Etliche von ihnen standen vor dem Kollaps, dessen Folgen die Länder hätten tragen müssen. Außerdem hatte das Landessozialgericht Westfalen eine Klage von AOK-Mitgliedern gegen diese Benachteiligung ans Bundesverfassungsgericht weitergeleitet, der große Erfolgschancen eingeräumt wurden. Es bestand hoher politischer Handlungsdruck. Aber der damalige Sozialminister Norbert Blüm schob dieses Problem vor sich her, weil er sich mit seinem Gesundheits-Reformgesetz schon genug Ärger mit den Ärzteverbänden und der Pharmaindustrie eingehandelt hatte.

Rudolf Dreßler griff dieses Thema auf und präsentierte ein Konzept zur Organisationsreform der GKV, das im September 1988 ins sozialpolitische Programm der SPD aufgenommen wurde. Es sah eine freie Wahl der Krankenkasse für alle GKV-Mitglieder und einen bundesweiten Finanzausgleich innerhalb der vier großen Kassenarten vor (AOK, Betriebs- und Innungskrankenkassen, Ersatzkassen). Dieses Modell hätte über kurz oder lang zu bundesweit organisierten Krankenkassen geführt, was auch Rudolf Dreßlers Ziel war. Aber das lehnten die Länder geschlossen ab, weil sie damit deutlich an Einfluss auf das GKV-System verloren hätten.

Der deutsche Einigungsprozess beendete zunächst diese Debatte. Entgegen allem Sachverstand wurde das berufsständisch gegliederte GKV-System auch in den neuen Ländern eingeführt. Dadurch spitzten sich seine Strukturprobleme zu, die vor allem die Regionalkassen und damit die Länder belasteten. Diese forderten im Sommer 1992 mit einer im Bundesrat einstimmig verabschiedeten Resolution eine Organisationsreform der GKV, die eine Erweiterung der Kassenwahl und einen Risikostrukturausgleich (RSA) unter den Kassen auf Landesebene vorsah.

Ein RSA unterscheidet sich vom Finanzausgleich dadurch, dass nicht die Ausgaben unter den Kassen verrechnet werden, sondern die Einnahmen entsprechend der Risikostruktur der Versicherten gestaltet werden. Die Niederlande hatten einige Jahre zuvor in ihrem ebenfalls gegliederten Krankenkassensystem einen RSA eingeführt, der auch vom Gesundheits-Sachverständigenrat und der 1987 auf Initiative von Rudolf Dreßler eingesetzten Enquetekommission des Bundestags zur Strukturreform der GKV vorgeschlagen wurde.

Rudolf Dreßler konnte sich mit diesem Konzept zunächst nicht anfreunden, erkannte aber bald die Chance, gemeinsam mit den Ländern auf dieser Basis eine grundlegende Organisationsreform der GKV auf den Weg zu bringen. Mit dem im Frühjahr 1992 zum Bundesgesundheitsminister ernannten Horst Seehofer (CSU) [1] fand er einen politischen Partner, mit dem er in vertraulichen Gesprächen die Konturen einer Organisationsreform der GKV austarierte.

In einer heute noch legendären dreitätigen Klausur in einem Hotel in Lahnstein verständigten sich unter der Leitung von Rudolf Dreßler und Horst Seehofer die Gesundheitspolitiker der CDU/CSU und der SPD auf Eckpunkte einer Organisationsreform der GKV mit freier Kassenwahl und einem bundesweiten RSA. Außerdem wurden die Konturen von weiteren geplanten Strukturreformen in der gesundheitlichen Versorgung vorgezeichnet. In Arbeitstagungen der Fachbeamten des Bundesgesundheitsministeriums und der Landesregierungen wurde dieses Konzept innerhalb weniger Wochen in das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) umgesetzt, das Ende 1992 vom Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde und am 1. Januar 1993 in Kraft trat.

Das GSG brachte nicht nur eine epochale GKV-Reform, seine schnelle und entschlossene Entstehung war auch dank Rudolf Dreßler ein Muster für das Neutralisieren von Lobbyisten und die Durchsetzung von Reformen, an dem sich Karl Lauterbach ein Beispiel hätte nehmen sollen. Noch so gut gemeinte Reformprojekte scheitern, wenn man sich mit zu vielen Baustellen und dem Einschalten von Expertenkommissionen politische Abwehrkoalitionen einhandelt, die nur ein gemeinsames Ziel haben - die Verhinderung von Reformen.

Pflegeversicherung   

Die Einführung der Gesetzlichen Pflegeversicherung als fünfter Säule der Sozialversicherung ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sozialpolitische Reformen in unserem Politiksystem meist nur über eine Zusammenarbeit der SPD und der Unionsparteien zustande kommen. Dafür sorgt vor allem der Föderalismus, der den Ländern auf diesem Politikfeld ein entscheidendes Mitspracherecht gibt.

Die wachsende Zahl pflegebedürftiger Menschen wurde in den 1980er Jahren zu einem Problem vor allem für die Kommunen, die für deren Versorgung zuständig und davon nicht nur finanziell überfordert waren. Der damals für die GKV zuständige Sozialminister Blüm ging dieses Problem mit dem Ende 1988 verabschiedeten Gesundheitsreformgesetz (GRG) an, mit dem er die Versorgung schwerstpflegebedürftiger Menschen zur Krankenkassenleistung machte.

Das dafür erforderliche Geld wollte er vor allem über Einsparungen in der Arzneimittelversorgung eintreiben, etwa durch die Einführung von Festbeträgen für patentfreie Präparate und Wirkstoffe. Die Finanzierung eines Ausbaus der Pflegeversicherung auf weitere Kreise hilfsbedürftiger Menschen war unklar. Es begann eine parteiübergreifende Debatte über einen gesonderten Träger des Risikos der Pflegebedürftigkeit.

Während die CDU/CSU für eine Sozialversicherungslösung eintrat, sprachen sich die Grünen für ein aus Steuern finanziertes System aus. In der SPD gab es beide Positionen, wobei sich nach internen Debatten das Sozialversicherunskonzept durchsetzte. 1993 begannen unter der Leitung von Rudolf Dreßler und seines CDU-Kontrahenten Norbert Blüm Gespräche über eine gesetzliche Pflegeversicherung, die mit dem Pflegeversicherungsgesetz vom 22. April 1994 ab 1995 eingeführt wurde.

Leute wie Rudolf Dreßler fehlen

Im November 1997 wurde Rudolf Dreßler bei einem Autounfall schwer verletzt. Er litt stark unter den gesundheitlichen Folgen, ließ es sich aber öffentlich nicht anmerken.  Gerhard Schröder versprach ihm vor der Wahl 1998 in einer möglichen rot-grünen Koalition den Posten des Gesundheitsministers, hielt diese Zusage aber nicht ein. Dafür machte er koalitionsinterne Personalien verantwortlich, die Andrea Fischer von den Grünen in dieses Amt hievten.

Aber Insidern war klar, dass Gerhard Schröder einen so selbstbewussten und durchsetzungsfähigen Sozialpolitiker wie Rudolf Dreßler in seinem Kabinett nicht haben wollte. Rudolf Dreßler lies dies viele Jahre später in einer TV-Talkshow mit Bezug auf ein Vier-Augen-Gespräch zwischen ihm und Gerhard Schröder durchblicken. Er war darüber verbittert und ließ seinen Ärger an Andrea Fischer aus, die von ihrem Amt erkennbar überfordert war. Rudolf Dreßler lies sie das bei den koalitionsinternen Gesprächen zur GKV-Reform 2000 deutlich spüren. Der damalige Chef des Kanzleramts Frank-Walter Steinmeier musste eingreifen, um einen Eklat zu verhindern.

Rudolf Dreßler ging im September 2000 als Botschafter in das ihm am Herzen liegende Israel und zog sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland im August 2005 aus der Politik zurück. Die Agenda 2010 der rot-grünen Koalition lehnte er entschieden ab, hatte aber nicht mehr die Kraft zu deren aktiven Bekämpfung. Von einem Wechsel zur Partei Die Linke konnten ihn Parteifreunde abhalten. Aber seine Enttäuschung über den sozialpolitischen Kurs seiner Partei war ihm in seinen wenigen öffentlichen Auftritten deutlich anzumerken.

Mit Rudolf Dreßler verliert Deutschland den wohl letzten Politiker seiner Art. Mit Sachverstand, kämpferischem Engagement und realistischem Bewusstsein für das politisch Machbare verteidigte er offensiv den Sozialstaat als eine zivilisatorische Errungenschaft. Heute fehlen solche kompetenten Politiker mit all ihren Ecken und Kanten mehr denn je.

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[1] Horst Seehofer löste Gerda Hasselfeld ab, die zurücktreten musste, weil ihr enger Vertrauter und Stabschef des Gesundheitsministeriums als früherer Agent des polnischen Geheimdienstes enttarnt worden war.