Debatte

Geht von der Inflation Gefahr aus?

| 03. Februar 2022
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Martin Höpner antwortet auf Paul Steinhardts Artikel zum umgehenden Inflationsgespenst. Er findet die Forderung nach Reaktionen der Notenbank nicht abwegig und hält die aktuellen Preisschübe zudem für eine Gefahr für den Euroraum, die sich im schlimmsten Fall zu einer neuen Eurokrise auswachsen könnte.

Paul Steinhardts gestriger Artikel zur Inflationsdebatte motiviert mich zu einer spontanen Antwort. Mit vielem dort Gesagtem stimme ich überein. Keine Frage, die von Steinhardt aufgespießte Behauptung, die aktuellen Preisschübe seien so gefährlich wie der Ukraine-Konflikt, ist so hysterisch wie absurd. Auch seine Zweifel an der Existenz eines „natürlichen“ inversen Zusammenhangs zwischen Inflation und Wirtschaftswachstum teile ich voll und ganz, jedenfalls so lange wir uns unterhalb der so genannten galoppierenden Inflation (also unterhalb von jährlichen, sagen wir, 25%) oder gar der Hyperinflation bewegen. Und natürlich ist auch völlig richtig, dass die eigentliche Gefahr der vergangenen zwanzig Jahre im Euroraum nicht von zu vielen inflationären, sondern zu vielen deflationären Impulsen ausging.

Anders als Steinhardt entdecke ich in den neuen Daten aber durchaus beunruhigendes und in den aktuellen Debatten, neben den von Steinhardt zu Recht kritisierten Absurditäten, durchaus vernünftiges – namentlich auch im Hinblick auf die Frage, ob die EZB ihre geldpolitische Strategie überdenken sollte. Vor allem aber vermute ich Gefahren für die Währungsunion. 

Unstrittig ist, dass in den aktuellen Inflationsdaten Sondereffekte stecken. In Deutschland gehört die Rücknahme der zeitweiligen Senkung der Mehrwertsteuer dazu. Weltweit haben gestörte Lieferketten die Vorprodukte verteuert. Ganz besonders aber stechen, wie Steinhardt richtig aufzeigt, die notorisch schwankenden Energiepreise hervor. Waren sie 2020 noch gefallen, zogen sie 2021 erheblich an. Das gilt ganz besonders für Heizöl und Kraftstoffe, aber auch für Erdgas. Der Anteil der Energiepreise am jüngsten Anstieg der Verbraucherpreise wird auf mindestens die Hälfte geschätzt.

Soll die Notenbank reagieren und die Zinsen anheben? So sehen es offenbar die „Falken“ im EZB-Rat. Deren Gegner wenden ein, dass die Ursachen der jüngsten Preisschübe ausschließlich auf der Angebotsseite angesiedelt sind. Störungen der Lieferketten kann die Notenbankpolitik naturgemäß nicht adressieren, ebenso wenig wie Containerengpässe oder einmalige Schübe bei den Energiepreisen. Diesen von Steinhardt unterstützten Punkt der „Tauben“ halte ich für vollumfänglich valide.

Weniger sicher bin ich aber, ob etwaige Implikationen für die Notenbankpolitik damit bereits vom Tisch sind. Gewiss, die Ursachen der jüngsten Preisschübe lassen sich durch Veränderungen der Zins- oder Ankaufpolitik der EZB nicht beseitigen. Auf einem anderen Blatt steht, ob die Preisentwicklungen zumindest jenen Grad an Mittelfristigkeit aufweisen, der es der EZB erlauben könnte, ihre exzeptionell expansive Politik nunmehr behutsam zurückzufahren, etwa durch Abschaffung des negativen Einlagezinses oder weniger – nicht: keine – Ankäufen von Anleihen. Ob auch eine moderate Anhebung des Notenbankzinses auf, sagen wir, einen halben Prozentpunkt in den Optionsraum gehört, vermag ich nicht einzuschätzen.  

Meines Erachtens gilt es in Rechnung zu stellen, dass der aktuelle Preisschub ja auch den Realzins weit ins Minus drückt. Zu weit? Das scheint mir durchaus diskutabel, denn ich frage mich, wie weit wir die Immobilien- und sonstigen Vermögenspreise eigentlich noch aufpumpen wollen. Frisches Geld zu einem negativen realen Zinssatz und ab damit in die boomenden Immobilienmärkte, wer wäre da nicht gern dabei. Was geschieht eigentlich, wenn diese Blase einmal platzt und all die in den Bilanzen der Banken und Schattenbanken stehenden Phantasiewerte nach unten korrigiert werden müssen, abrupt und überall gleichzeitig? Haben wir den Punkt, an dem die irgendwann anstehende Korrektur noch in Form einer „weichen Landung“ geschehen kann, vielleicht schon überschritten?

Die Überlegung zur behutsamen geldpolitischen Normalisierung steht und fällt freilich mit der Mittelfristigkeit der Preisauftriebe und ist hinfällig, wenn sie ein Einmaleffekt bleiben. Zumindest in den Januar haben sich die vermeintlich auf 2021 beschränkten Einmaleffekte, anders als von vielen erwartet, schon einmal hineinerstreckt. Bliebe es dabei, wären wir zweifellos immer noch im Rahmen des Einmaleffekts. Mittelfristigkeit, die den Namen verdient, könnte sich indes über zwei Effekte einstellen: über eine durch den ökologischen Umbau der Volkswirtschaften hervorgerufene Greenflation und über Zweitrundeneffekte, also Rückwirkungen auf die Lohnpolitik, die ihrerseits inflationstreibend wirken. 

Die Debatte über Greenflation ist neu und wurde jüngst insbesondere durch eine vielbeachtete Rede der EZB-Direktorin Isabel Schnabel vom 8. Januar 2022 in die Öffentlichkeit getragen. Mich hat sie nachdenklich gemacht. Der Einmalcharakter der Preisschübe, so Schnabel, sei mit einem Fragezeichen zu versehen. Die Preise für die gängigen Energieträger sollen ja langfristig steigen, um Anreize für Innovationen bei den erneuerbaren Energien und bei energiesparenden Produktionsmethoden zu setzen und so die notwendigen CO2-Reduktionen zu ermöglichen. Weil Innovationen und Anpassungsprozesse Zeit brauchen, muss, so weiter Schnabel, wenn nicht langfristig, so doch zumindest mittelfristig mit steigenden Aufwendungen für Energie kalkuliert werden. Diese aber markieren nicht lediglich eine Veränderung relativer Preise, die es immer gibt und auch geben soll. Sie übersetzen sich vielmehr in zusätzliche Inflationsimpulse durch die Bank, weil Energie in jedem Produkt und jeder Dienstleistung steckt.

Auch hiergegen kann die Notenbankpolitik natürlich nichts ausrichten und selbst wenn sie es könnte, wäre das nicht wünschenswert. Die vermutete Mittelfristigkeit der Greenflation verstärkt die Gefahr von Zweitrundeneffekten aber ganz erheblich. Gewerkschaften mögen einmalige Preisschübe hinnehmen, ohne höhere Löhne zu fordern. Ein mittelfristig steigendes Preisniveau können Gewerkschaften aber nicht ignorieren. Über kurz oder lang werden sie ihre Forderungen an die steigenden Preise anpassen müssen. Kurz, es hängt maßgeblich von der Lohnpolitik ab, ob sich die jüngsten oder zukünftige Preissteigerungen in Lohn-Preis-Spiralen übersetzen und sich damit im Ergebnis verstetigen.

Hier sind wir an dem aus meiner Sicht entscheidenden Punkt. Die neue Konstellation könnte, so fürchte ich, im schlimmsten Fall in eine neue Eurokrise münden. In der Eurozone gibt es in Wahrheit nämlich nicht „die“ Lohnpolitik, sondern 19 unterschiedliche Lohnpolitiken der Euro-Teilnehmerländer – mit unterschiedlichen Institutionen der Lohnfindung, Kräfteverhältnissen, Problemperzeptionen und Reaktionsmustern auf ökonomische Schocks. Auf einheitliche Reaktionen der Lohnpolitik kann die EZB stimmig reagieren, aber nicht auf 19 unterschiedliche, und nominale Wechselkurskorrekturen gibt es innerhalb des Euroraums auch nicht mehr.

Im Jahr 2021 hat die deutsche Lohnpolitik bekanntlich mit äußerst vorsichtigen Abschlüssen reagiert, namentlich im öffentlichen Sektor. Offen ist, ob sich das in anderen Ländern, etwa in Frankreich, Italien und Spanien, so replizieren lässt, sowohl zeitnah als auch mittelfristig. Kommt es zu keinem Gleichklang der Reaktionen, könnten sich im Euroraum unterschiedliche Inflationsraten mittelfristig verstetigen, so wie wir es bereits in den ersten zehn Eurojahren beobachteten. Genau so entstand die Eurokrise.

Die aktuellen und möglicherweise auch mittelfristig zu erwartenden Preisschübe stellen die makroökonomische Politik im Euroraum im Ergebnis vor eine ernste Belastungsprobe. Die beschwichtigende, im progressiven Spektrum regelmäßig gehaltene Rede von der fehlgeleiteten Inflationshysterie ist daher, so meine ich, mit Vorsicht zu genießen.