Skizze eines Forschungsprojekts

MMT für Deutschland und Europa: Ohne Regeln läuft da nichts

| 01. Februar 2022
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Nur ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das konkrete Antworten für die deutsche Institutionenlandschaft bietet und die Ängste der Menschen ernst nimmt, wird MMT in Deutschland zum Erfolg verhelfen.

Die Modern Monetary Theory (MMT) ist aus der aktuellen Diskussion um den Umgang mit Staatsschulden nicht wegzudenken. Allerdings ist sie weit davon entfernt, die Diskussion zu beherrschen. Sie wird immer noch als esoterische oder gefährliche, aber vor allem unzulängliche Theorie abgetan. Die FAS vom 2. Januar 2022 nennt sie „erschreckend naiv“. Man kann darüber den Kopf schütteln und sich weiterhin den Mund fusselig reden, wie denn der Staat sein Geld bekommt. Das wird nicht nachhaltig fruchten, insbesondere nicht in Deutschland.

Das Fatale ist, dass die Ablehnung von MMT eine Mischung aus einem inkonsistenten Verständnis von Staatsfinanzierung und einer eigentlich politisch motivierten Abwehrreaktion ist: Es wird von den professionellen Kritikern immer irgendwann das Schreckgespenst aller Schreckgespenster aus dem Hut gezaubert, nämlich die Inflation, letztlich, weil man einen aktiv gestaltenden Staat nicht will. MMT bedeute, „den Politikern“ beliebige Geldmengen in die Hand zu drücken, die sie dann nach Herzenslust und für den Wählerfang aus dem Fenster werfen.

Dass Politiker unfähig sind und alles Geld, das sie bekommen, ohne Sinn und Verstand verprassen, ist wahrscheinlich ein nicht nur in Deutschland weit verbreitetes Bild – und spätestens bei dem Thema „Inflation“, ausgelöst von unbeaufsichtigten Politikern, ist Schluss mit lustig bei uns Deutschen.

MMT hat in Deutschland (zu Europa später) deswegen nur eine Chance, wenn die abstrakten Aussagen der MMT mit der bundesrepublikanischen, föderal strukturierten Finanzordnung konfrontiert werden und daraus eine neu konzeptionierte Finanzordnung generiert wird – und wenn eine befriedigende Antwort zur Inflationsangst gegeben werden kann. Nur ein interdisziplinäres Forschungsprojekt „MMT für Deutschland“, das konkrete Antworten für die deutsche Institutionenlandschaft bietet und die Ängste der Menschen ernst nimmt, wird MMT in Deutschland zum Erfolg verhelfen.

Die Basisannahmen von MMT sind schnell erzählt:

  • Ein souveräner Staat bekommt stets sein Geld – über welche Umwege auch immer – von seiner Notenbank. Er konkurriert deswegen auch nicht mit dem privaten Sektor um Geld.
  • Die Notenbank unterliegt keinen finanziellen Beschränkungen. Sie kann beliebig viel Geld in eigener Währung schaffen.
  • Staatsanleihen dienen der vorübergehenden Aus-dem-Verkehr-Ziehung von Geld und stellen eine sichere Geldanlage dar.
  • Ein bestimmter „Schuldenstand“ eines Staates kann kein Ziel verantwortlichen staatlichen Handelns sein, er ist ein Nebeneffekt seines Tuns.
  • Steuern
    • sichern die Akzeptanz der staatlichen Währung,
    • verteilen um entsprechend den politischen Zielsetzungen,
    • belohnen und bestrafen wirtschaftliches Handeln
    • und vernichten dauerhaft Geld.
  • Die Grenze staatlicher und privater Ausgaben sind die realen Ressourcen einer Gesellschaft, wird diese überschritten, bekommen wir Inflation.
  • MMT geht als postkeynesianische Strömung davon aus, dass Märkte nicht aus sich heraus zu einem (guten) Gleichgewicht finden und staatliche Ausgaben zur Stabilisierung der Ökonomie notwendig sind.
  • Wenn die Realität der Staatsfinanzierung vielen anders erscheint, dann liegt es an der institutionellen Ausgestaltung der staatlichen Finanzierung (Notenbanken dürfen zum Beispiel nur über Banken Staaten finanzieren) und gesetzlich festgeschriebenen Begrenzungen für staatliche Schuldenaufnahmen. Diese Ausgestaltung kann man aber ändern und dem Staat seine Währungssouveränität zurückgeben, die er an sich ohnehin hat.

Das ist die Essenz von MMT, auf weitere Details brauchen wir für unsere Zwecke nicht eingehen.

I. Bedarf

Schauen wir auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit! In Deutschland gibt es die drei Gebietskörperschaften Bund, Länder und Gemeinden. Währungssouveränität (zum Euro unten mehr) hat nur der Bund, dies sollte auch so bleiben. Die föderale Ordnung mit all ihren Vor- und Nachteilen ist historisch gewachsen und eine soziale Realität, die man akzeptieren muss. Länder und Gemeinden können sich nicht bei der EZB bedienen. Sie sind auf Zuteilungen vom Bund angewiesen oder auf Steuern und andere Abgaben. Steuern sind für Länder und Gemeinden - im Gegensatz zum Bund – Finanzierungsmittel, weil sie über keine Währungssouveränität verfügen.

Was kann MMT einem Bürgermeister oder einer Landesmutter sagen, wenn das Geld knapp ist: „Rufe in Berlin an! Dort gibt es immer reichlich Geld, auch wenn sie dir erst einmal etwas anderes erzählen!“?

Wohl kaum. Es gäbe der Anrufe viele und das Chaos und womöglich die Inflation wären groß. Es bedarf eines Verteilsystems. So etwas gibt es natürlich bereits in Deutschland.  Neu an dem von uns gesuchten Verteilsystem gegenüber der jetzigen Finanzordnung wäre, dass Gelder entsprechend dem Ressourcenbedarf und der vorhandenen Ressourcen verteilt werden. Ressourcen und nicht Geld sind das knappe Gut, das zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verteilt wird – auch wenn letztlich Geld und nicht Beton zwischen den Gebietskörperschaften fließen wird.

Das Verteilproblem stellt sich natürlich auch jedem stärker zentralistisch ausgeprägten Staat. Einen Streit zwischen den Ministerien über die Verwendung vorhandener Ressourcen wird es immer geben, aber in einem föderalistischen Staat ist er besonders virulent.

Halten wir fest: Ein Teilergebnis des hier skizzierten Forschungsprojektes könnten Instrumente, Verfahren und Institutionen sein neu zu bildende oder neu zu programmierende staatliche Institutionen , die dem Staat helfen, diese Bedarfsanalyse der verschiedenen Gebietskörperschaften durchzuführen.

II. Ressourcen

MMT wehrt sich mit Händen und Füßen gegen den Vorwurf, Inflation nicht zu bedenken. Und in der Tat: Das zentrale Argument von MMT ist einleuchtend. Die realen Ressourcen stellen die Grenze des Geldausgebens dar. Wenn ich keinen Beton mehr im Lande habe und ihn nicht oder nur in vernünftigem Maße aus dem Ausland importieren will, dann werden weitere Ausgaben – ob privat oder öffentlich – für Betonbauten den Betonpreis in die Höhe treiben. So richtig dieses Argument ist, so wenig hilft es in dieser Abstraktheit im politischen Alltag, wenn ein Staat einen Finanzhaushalt aufstellen muss.

In dieser Allgemeinheit lässt diese Aussage politisch Handelnde und die Administration im Regen stehen. Sie müssen wissen, wo und wie sie diese Grenzen finden. Zu einer Finanzplanung im Geiste von MMT gehört nicht nur eine Bedarfsanalyse, sondern auch eine Ressourcenanalyse. Zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, zwischen den einzelnen Ressorts der verschiedenen Gebietskörperschaften, aber auch zwischen dem öffentlichen Sektor als ganzem auf der einen Seite und dem privaten Sektor auf der anderen Seite finden Verteilungskämpfe um reale Ressourcen statt. Damit diese Verteilung in vernünftige Bahnen gelenkt werden kann, müssen wir erst einmal wissen, was es zu verteilen gibt. Wenn Deutschland sich dazu durchringt, seine marode Infrastruktur zu erneuern, wird es erst einmal wissen müssen,

  • wieviele Baufirmen mit welchen Kapazitäten es in Deutschland gibt;
  • wie sich der Baumaterialmarkt darstellt;
  • was es aus dem Ausland vernünftigerweise dazu kaufen wird;
  • welche Kapazitäten in welcher Zeit zusätzlich aufgebaut werden können;
  • mit welcher Nachfrage aus dem privaten Sektor und aus dem Ausland zu rechnen ist etc.

Dabei muss man sich bewusst sein, dass dies kein Einstieg in eine Planwirtschaft dergestalt ist, dass die ermittelten Ressourcen exakt eingesetzt und zwischen den verschiedenen Ressorts aufgeteilt werden. Wir bewegen uns in einer Marktwirtschaft, deren Entwicklung in unerwartete Richtungen im Laufe eines Jahres gehen kann und die mehr oder weniger Dynamik an den Tag legt, als bei den Planungen angenommen wurde – von den berühmten exogenen Schocks (zum Beispiel Corona oder der Ölpreisschock) ganz zu schweigen.

Mehr als einen Orientierungsrahmen kann diese Ressourcenanalyse also nicht geben. Sie ist wichtig, auch und gerade, wenn es darum geht, langfristig (neue) Wirtschaftsbereiche aufzubauen. Sie ist zwar kein Einstieg in eine zentralistische Planwirtschaft, sie kann den Staat aber bei seinen Plänen helfen und so nachhaltig sichere Jobs im öffentlichen und privaten Sektor schaffen lassen.

Halten wir als zweites fest: Der Instrumentenkasten, den eine MMT-basierte Forschung entwickeln und dem Staat an die Hand geben müsste, muss auch eine Ressourcenanalyse einer Gesellschaft umfassen.

III. Verteilungsregeln

Auf Basis von Bedarfs- und Ressourcenanalyse kann der Staat seine Entscheidungen treffen. Was überlässt er dem privaten Sektor? Wie verteilt er die Ressourcen zwischen den verschiedenen staatlichen Bereichen? So eine Verteilung zwischen den verschiedenen Bereichen findet natürlich schon heute statt – man streitet aber über Geld, nicht über Ressourcen.

Die (Re-)formulierung dieser Regeln stellt wahrscheinlich die größte Herausforderung dar.

Heute schreibt das Grundgesetz und die meisten Länderverfassungen eine Verschuldungsgrenze vor. Was tritt an die Stelle dieser Verschuldungsgrenze? Was ist der gleichsam oberste Grundsatz, der als Orientierung für staatliches Handeln dienen kann? Meines Erachtens sollte man prüfen, ob man das magische Viereck aus dem Stabilitätsgesetz von 1967, also das gleichzeitige Anstreben von hohem Beschäftigungsstand, stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Preisniveaustabilität, mit Verfassungsrang ausstattet.

Gegebenenfalls besteht auch hier Forschungsbedarf. Nehmen wir an, alle drei Gebietskörperschaften haben in toto Baupläne, die zusammen mit den für den privaten Bereich angenommenen Bauinvestitionen die angenommenen Kapazitäten deutlich übertreffen. Wer steckt zurück? Fungiert der Bund als eine Art Bauherr of last resort? Oder werden den Kommunen Beschneidungen nach vorher festgelegten Kriterien zugemutet?

Somit kommen wir zum dritten Forschungsschwerpunkt: Welche Regelordnung braucht eine Gesellschaft, wenn der Staat die realen Ressourcen einer Gesellschaft verteilt? Was schreiben wir als Alternative zur Schuldenbremse ins Grundgesetz? Was kann durch einfache Gesetze geregelt werden, was durch Verwaltungsvorschriften, Erlasse und ähnliches? Gibt es – wenn ja, welche – Sanktionsmechanismen für den Fall, dass grundgesetzlich festgeschriebene Ziele von der Politik nicht angestrebt werden. Und vor allem: Wer sanktioniert?

 IV. Die Notenbank

Die heute dominante Rolle der Notenbank wird in einem MMT-basierten Finanzierungskonzept für den Staat beschnitten. Sie hat auf jeden Fall die Aufgabe, den Staat mit Geld zu versorgen, den Zahlungsverkehr sicherzustellen, Banken mit Liquidität zu versorgen und auch zur Abschöpfung von Liquidität Anleihen zu begeben.

Soweit ich es sehe, sagen MMTler wenig zur zukünftigen Rolle der Notenbank. Wer entscheidet zum Beispiel, wann Anleihen begeben werden? Welche Rolle spielt die Zinspolitik in Zukunft?

Damit stellt sich als vierter Forschungsschwerpunkt die Frage, wie genau das Verhältnis von Staat und Notenbank zu definieren ist, die Frage also nach der zukünftigen Rolle der Notenbank.

V. Der Euro

Bisher wurde gewissermaßen unterstellt, dass es den Euro nicht gibt, dass Deutschland souverän über seine Währung verfügen kann. Meines Erachtens sollte das oben skizzierte Forschungsprojekt in einem ersten Schritt den EURO und seine Besonderheit ausblenden. Wie bekannt, entzieht das Eurosystem den Staaten einen Teil ihrer Währungssouveränität, es erlegt den Staaten dysfunktionale Regeln (Stichwort: Schuldengrenzen) auf und stattet die EZB im Vergleich zu anderen Notenbanken mit unverhältnismäßiger Machtfülle aus.

In einem zweiten Schritt muss man das Eurosystem aber berücksichtigen. Man mag den EURO für eine Fehlkonstruktion halten, die auf den Misthaufen der Geschichte gehört. Wir müssen aber davon ausgehen, dass er weder „krachend“ scheitert noch dass es eine bewusste politische Entscheidung zu seiner Abschaffung gibt. Es wird weiter gewurschtelt.

Damit steht der fünfte Forschungsschwerpunkt fest: Wie können neue Regeln für das Eurosystem aussehen, die nicht am Geld, sondern an den realen Ressourcen ansetzen. Im Mittelpunkt wird voraussichtlich die Frage stehen, wie mit Ländern umzugehen ist, die hohe Leistungsbilanzüberschüsse oder -defizite erzielen.

Meines Erachtens muss dieses Projekt interdisziplinär angelegt werden. An ihm sollten Ökonomen, Politologen, Soziologen, Verwaltungswissenschaftler, Juristen und andere beteiligt sein. Es wird seine Zeit brauchen. Für Anregungen und Tipps aller Art ist der Autor dieser Zeilen immer dankbar.