IRA, EU und der Schlüssel zum Frieden
Die "Irish Republican Army" ist vergessen. Das neue IRA ist Bidens "Inflation Reduction Act". Wieder verhüllt der Name mehr als er erläutert. Und die hochgepriesene "Achse Paris-Berlin" scheint nicht erst seit dem IRA Achsbruch erlitten zu haben.
IRA No.1
Akronyme sind, zumindest im politischen Bereich, meist nicht "markenrechtlich geschützt". Insofern verständlich, dass man den Jüngeren heute erklären muss, an was in den 1970er bis 1990er Jahren gedacht wurde, wenn von IRA die Rede war. Gemeint war meist die "Irish Republican Army" – und wie so oft verdeckte der Name sowohl einen Mangel und erhob gleichzeitig den Anspruch auf etwas Größeres. Denn eine richtige, strukturierte, gar "nationale" Armee war die IRA[1] dieser Zeit nie. Aber das Endziel, die Vertreibung der britischen "Besatzer" in Nordirland und die Wiedervereinung der Landesteile unter irisch-republikanischer Führung war sehr wohl ein Großprojekt, für dessen Erlangung eine echte Armee sicher hilfreich gewesen wäre. Die Führung der realen Republik Irland war aber vorsichtig genug, sich nie offiziell zu einer Unterstützung der IRA zu bekennen. Dabei gab es Sympathisanten sogar in den USA, und fiktive IRA-Charaktere wurden Teil der Handlung von literarischen (Raymond Chandler, "The Big Sleep" 1939) und TV-Klassikern (Serie Columbo, "The Conspirators" 1978).
In ihrem "Feldzug" gegen die britischen Besatzer Nordirlands und auch gegen die dortigen "unionistischen" Bewohner griff die IRA auf die typischen Mittel einer unterlegenen, aber nicht aufgabebereiten Gruppierung zurück: Überfälle, Terrorattacken[2], Mordanschläge. Zahlreiche Fememorde innerhalb der IRA trübten allerdings das Bild vom Freiheitskämpfer. Aber auch die Gegenseite in Form der "RUC" (Royal Ulster Constabulary) und der immer wieder von London in Nordirland eingesetzten britischen Armee wurde in der Wahl der Waffen immer brutaler. Es soll sogar regelrechte Todesschwadronen nach lateinamerikanischem Vorbild gegeben haben.
Kurz, "the troubles", wie die Situation in Großbritannien rückblickend etwas verharmlosend genannt wird, war zu einer blutigen und scheinbar unauflösbaren Tragödie eskaliert. Trotzdem gelang es 1998, nach jahrelangen Vorbereitungen und monatelangen Verhandlungen, die unter dem Namen "Good Friday Agreement" bekanntgewordenen Abmachungen zu schließen, die die Gewaltspirale durchbrachen und zu einer neuen Normalität in Nordirland führten.
Und auch wenn mir der konkrete Anteil des damaligen britischen Premierministers Tony Blair an diesem Befriedungserfolg unklar ist, muss man wohl ein ähnliches Fazit ziehen wie einst der Kabarettist Volker Pispers über Schröder: "Das einzige, was Gerd Schröder in seinem verpfuschten Leben richtig gemacht hat, war, dass er uns aus dem Irak-Krieg herausgehalten hat!"
Und so ähnlich muss man wohl Tony Blair, dem mehrfachen Friedensbrecher und Bellizisten, dennoch zugutehalten, dass er diese Vereinbarungen zumindest ermöglichte.
IRA No.2
Das "Good Friday Agreement" ist im Jahre 2023 in Kontinentaleuropa nahezu vergessen. Dafür ist ein anderes IRA jetzt zum Thema der Publizistik geworden, allerdings nicht so sehr, wie es der Bedeutung der Sache entsprechen würde. Dieses neue IRA ist der "Inflation Reduction Act" der US-Regierung unter Biden.
Wieder verhüllt der Name mehr als er erläutert. Denn zur Bekämpfung einer Inflation – allgemein als ein mehr oder minder zyklisches Phänomen des Kapitalismus anerkannt – hat die Mainstream-Ökonomik mindestens zwei "altbewährte" Mittel zur Hand: Den Monetaristen ist klar, dass es nur einer Erhöhung der Zentralbankzinsen bedürfe, um eine "überhitzte", inflationstreibende Konjunktur wieder einzufangen. Die Fiskalisten wiederum sind überzeugt, dass eine Erhöhung der Unternehmensbesteuerung denselben Effekt besser und direkter erreiche.
Nun hat das neue IRA wenig mit diesen bekannten Mitteln zu tun. Denn es ist ziemlich eindeutig ein Programm zur Förderung und Abschirmung der US-Wirtschaft, zeitgemäß mit einem grünen Anstrich namens „Green Deal“ versehen. Ziemlich purer Protektionismus, und insofern wäre die Bezeichnung "MAGA", also "make Americ great again", angebrachter. Nur hat dieses Akronym eine bei den US-"Demokraten" regelrecht verhasste Figur namens Donald Trump besetzt und ist insofern "verbrannt".
Einigermaßen erstaunlich, wenn sich die langjährig als Bannerträger des Freihandels und der "Globalisierung" gerierende US-Regierung nun plötzlich für ein klar protektionistisches Programm entscheidet. Angesichts einer geostrategischen Lage, wo die alternde Weltmacht USA noch einmal die "unipolare Ordnung" mit sich selbst an der Spitze retten will, aber verständlich. Nachdem man selbst die Globalisierung sowohl mit dem einseitig vom Westen gegenüber Russland verhängten neuen "eisernen Vorhang" als auch den Handelssanktionen gegen China de facto aufgekündigt hatte, wurde immer klarer, dass es wieder einer industriellen Basis innerhalb der USA selbst bedarf, um den selbsterklärten Feinden Paroli bieten zu können. Und das wird nun, insofern konsequent, von der US-Regierung unter Biden legislativ und mit Milliarden-Investitionen (im Scholz-Sprech wohl "Dreifach-Wumms"?) angegangen. Der IRA ist insofern für die arbeitende Bevölkerung der USA vielleicht wirklich vorteilhaft.
(Zu den Hintergründen dieses IRA ist auch die Lektüre des Artikels von Paul Steinhardt auf MAKROSKOP aufschlussreich.)
Der letzte Mohikaner?
Neben den von den USA klar als "Feinden" deklarierten Staaten Russland und China ist aber noch eine weitere "Macht" im Fadenkreuz des IRA, nämlich die Europäische Union. Das Wort "Macht" ist in Bezug auf die EU in deutliche Anführungszeichen zu setzen, denn eine solche war sie außenpolitisch – trotz hochtrabender Bezeichnungen wie "Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik" – nie. Und auch wirtschaftspolitisch hat man sich in seiner Machtausübung wesentlich auf Knebelabkommen mit den kleinen Staaten Afrikas verlegt.
So gesehen hätte die Ankündigung des IRA härtesten Widerstand seitens des EU-Apparates selbst, aber auch der EU-Regierungschefs auslösen müssen. Öffentlich machte seine Verärgerung über IRA aber nur der französische Präsident Emmanuel Macron, und nachdem kein Widerhall aus Berlin zu vernehmen war, ist es auch aus Paris still geworden. Von irgendwelchen "retaliatory measures" ist keine Rede. Die hochgepriesene "Achse Paris-Berlin" scheint Achsbruch erlitten zu haben, aber nicht erst seit IRA.
Aus Sicht der US-Regierung oder der US-Eliten macht aber das Vorgehen gegen den "Wertepartner" EU durchaus Sinn. Bevor man in den europäischen Vasallen unbotmäßige Ideen von "Weltgeltung" der EU aufkommen lässt, schießt man lieber die dortigen Industrien "sturmreif". Was dann noch von Wert übrigbleibt, kann man unter Umständen günstig aufkaufen. Die Versorgung der EU mit günstigem Pipeline-Erdgas erst legislativ, dann mit militärischen Mitteln zu sabotieren, war sicherlich einer der folgenschwersten Aktionen der USA gegen die EU und speziell gegen Deutschland.
Sicherheitshalber sei angemerkt, dass natürlich "niemand" davon ausgeht, unser "Wertepartner" habe unsere wichtigste Pipeline höchstselbst gesprengt. Dass aber die Sprengung der Pipelines "enorme Chancen für die US-Wirtschaft" eröffnet habe, stammt ja aus dem Mund von US-Außenminister Blinken. Mindestens also eine "glückliche Fügung" für die US-Regierung.
Gut, dass man vorher zahlreich "Transatlantiker" auf wichtige Posten in den EU-Staaten und der EU-Bürokratie gehoben hatte, und dass Scholz, Habeck, Baerbock und von der Leyen zwar allesamt "Deutsche", aber eigentlich im Bismarck'schen Sinne "vaterlandslose Gesellen" sind, hat das Spiel ungemein erleichtert.
Ob man nun ausgerechnet Macron zum "letzten Mohikaner" der "europäischen Idee" verklären soll, ist aber zweifelhaft. Zwischen Wortbombast (seine Selbstbeschreibung als "Jupiter" der Nation) und gnadenlosem Exerzieren der Interessen der Wirtschaft (unter anderem die "Rentenreform") klaffen allzu deutliche Lücken.
Änderung der Mittel
Was ist eigentlich aus den einst vielgepriesenen Freihandelsabkommen wie CETA, TTIP und NAFTA geworden? Insofern sie, wie CETA, recht geräuschlos zum Nutzen der (meist US-dominierten) multinationalen Konzerne funktionieren, dürfen sie natürlich weiter bestehen. Aber neue Abkommen dieser Art werden nicht gebraucht, stattdessen weitet man bestehende Militärbündnisse (wie die NATO) immer mehr aus oder schafft gar neue wie AUKUS – den "Australia-UK-USA military pact". Ginge es nach der Wichtigkeit der Partner, hätte das Akronym eigentlich "US-UK-AUS" oder "US-UK-A" lauten müssen, aber das hätte sich in schneller Rede wohl zu sehr nach "u sucker" angehört, im US-Straßenslang unter anderem für "du Kotzbrocken" stehend.
Interessanterweise hat dieser im September 2021 überraschend abgeschlossene Militärpakt auch eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung, wurde doch gleichzeitig damit ein Abkommen zwischen Australien und Frankreich von 2016 über den Bau von konventionell angetriebenen U-Booten aufgekündigt. Damit war Frankreich über Nacht eines über 30 Milliarden Euro schweren Auftrags verlustig gegangen. Während sich die US-Industrie und insbesondere die "General Dynamics Electric Boat Division" in Groton, Connecticut, nunmehr auf Aufträge in ähnlicher oder größerer Höhe freuen dürfen. Beabsichtigt ist unter anderem die Fertigung von acht nuklear angetriebenen U-Booten für die australische Marine.
Verständlicherweise war man in Frankreich über diesen Deal wenig erfreut, und auch aus dem Elysee-Palast waren scharfe Worte zu hören. Der damalige Außenminister nannte den Deal "einen Stoß in den Rücken" Frankreichs, und sogar die französischen Botschafter wurden aus den USA und Australien zu "Konsultationen" zurückberufen – das diplomatische Mittel zur Verdeutlichung höchster Verstimmung. Wäre Macron ein de Gaulle gewesen, er hätte es nicht bei Verbalnoten belassen.
Andererseits gab es damals aus Berlin wieder keinerlei Rückendeckung. Ähnlich wie Scholz und Co. bei der Verplanung der Mittel aus dem "100-Milliarden-Wummspaket" für die Aufrüstung der Bundeswehr keinen Gedanken daran verschwendeten, das Geld vorrangig in der EU zu halten. Das erste konkrete Ausgabenprojekt war dagegen die Anschaffung von Kampfjets aus US-Fertigung (Lockheed F-35) für mindestens 10 Milliarden. Dabei bestand das Angebot einer deutsch-französischen Kooperation auf diesem Gebiet ja schon lange. Wenn man schon aufrüstet, dann könnte man doch zumindest an die Förderung der eigenen und EU-Wirtschaft denken...
Der Metaphernkönig und der Schlüssel
Kürzlich ist der Journalist und langjährige Chefredakteur sowie Herausgeber der Wochenzeitung "Die ZEIT", Theo Sommer, verstorben. Sommer verwendete in seinen Artikeln gern und häufig Metaphern, vorzugsweise solche, die seine akademische Bildung unterstrichen. Beständig sah er Politiker vor der Gefahr, einen "Rubikon" zu überschreiten, oder forderte sie umgekehrt dazu auf. Zwischen "Scylla und Charibdis" sah er so manchen Zeitgenossen stehen, und auch den Zungenbrecher "Quisquilien" baute er gelegentlich in seine Texte ein.[3]
Eine ebenfalls häufig verwendete Metapher war der Schlüssel – in der Form, dass der "Schlüssel zur Lösung" eines politischen Problems oder gar "der Schlüssel zum Frieden" irgendwo liege, und in der Folge wurde dann meist eine der Hauptstädte der Welt genannt: Der "Schlüssel zum Frieden" lag nach Sommer also wahlweise in Hanoi oder Saigon, in Kairo oder Tel Aviv, in Pjöngjang oder Seoul, in Moskau oder Washington.
Theo Sommer wäre es aber vermutlich, bei aller Liebe zur Metapher, nie eingefallen, "der Schlüssel zum Frieden in Vietnam liegt in Bonn" zu formulieren, oder aber "der Schlüssel zum Frieden im Irak liegt in Berlin" – dafür war er dann doch Realist genug.
Das Verrückte oder auch Tragische der gegenwärtigen Situation in Europa ist die Tatsache, dass man heute sehr wohl feststellen könnte: "Der Schlüssel zum Frieden in der Ukraine liegt in Berlin". Zumindest liegt ein wesentlicher Teil des "Schlüssels" dort. Denn der zentrale Konfliktpunkt, von Russland mindestens seit 2010 immer wieder betont, ist die beabsichtigte Aufnahme der Kiewer Ukraine in die NATO.
Und es stünde vollkommen in der Macht der Berliner Regierung, diesem berechtigten Sicherheitsinteresse Russlands entgegenzukommen. Es bräuchte nur ein Abkommen, dass die Ablehnung einer NATO-Erweiterung um die Ukraine seitens Deutschlands für die nächsten mindestens 20 Jahre festschreibt. Fast die gesamt deutsche Mainstream-Journalistik weigert sich aber beharrlich, das Vorhandensein dieses Schlüssels überhaupt wahrzunehmen. Dabei könnte sich Deutschland damit, mindestens für einen kleinen Moment, endlich "Weltgeltung" verschaffen.
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