Pro & Contra

Was soll schon wieder die nukleare Sau im deutschen Dorf?

| 24. Januar 2023
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In den 1950er und 1960er Jahren waren sich alle einig, dass die Atomenergie das Energieproblem der Menschheit löst. Thomas Fazi ist zu diesem Traum zurückgekehrt. Die letzten 40 Jahre Atomskepsis – einfach ein Irrtum der Geschichte?

Die Zukunft hat es auf MAKROSKOP nicht immer leicht. Sie ist oft düster, schwarz, halt katastrophal. Und in der Tat: Vielleicht haben dieses Mal die apokalyptischen Erzähler, die die Menschheit schon immer begleitet haben, Recht. Es sieht nicht gut aus. Die Menschheit scheint ignorant an ihrem Grab zu schaufeln. In einigen Beiträgen auf MAKROSKOP wurde deswegen zu radikalem Verzicht, insbesondere der Reichen, aber letztlich aller Menschen in den Wohlstandsgesellschaften in Ost und West aufgerufen (Anm. d. Red.: es handelt sich nicht um die Meinung der Redaktion).

Doch was bewirkt dieser Alarmismus? Wo ist das historische Subjekt, das sich dieses Anliegen auf seine Fahnen schreibt? Ist es die Bekannte, die sich entschlossen hat, konsequent vegan zu leben, als Ablassangebot dafür, dass sie weiterhin mit einem Benzin in großen Mengen vernichtenden Großgefährt durch alle Kontinente fahren darf? Ist es derjenige, der ein paar Corona-Jahre aufs Fliegen verzichtet hat und dann für die eigene Rückkehr zur Fliegerei als Rechtfertigung anführt, dass ja auch zur Klimakonferenz in Ägypten 40.000 (!) Menschen mit dem Flugzeug geflogen seien. Die taugen wohl nicht zum revolutionären Subjekt für den Verzichtsaufstand.

Die wirklich Entsagenden sind eine unbedeutende Minderheit – und das wird so bleiben. Wenn alles so schlimm ist und es keiner ändern will und kann, dann gibt es eigentlich nur eine vernünftige Reaktion: Man macht viel Party und lädt seine Lieben zum letzten Abendmahl ein wie in dem Film „Don’t look up“.

Letztlich möchte niemand auf seine Annehmlichkeiten verzichten. Der Mensch in seiner Rolle als räsonierendes Mitglied einer vernünftigen und umweltbewussten Öffentlichkeit und als begierig Fleischtheken betrachtender Konsument, das sind halt zwei Menschen in einem, und diese Schizophrenie funktioniert erstaunlich gut. Der Staat kann natürlich  – und muss es auch – an diesem Umweltbewusstsein anknüpfen und durch Zwangsmaßnahmen und Lenkungen das Schiff in die richtige Richtung bringen.

Aber selbst die größte Output-Autokratie der Welt, China, kann mit ihrem Volk nicht machen, was sie will. Es gibt wohl eine Verabredung zwischen den kommunistischen Herrschern und dem Volk: Wir sind mit deiner Herrschaft einverstanden, ertragen sie zumindest, wenn ihr uns ein besseres Leben ermöglicht. Dieser Vertrag war das erste Mal bei der Null-Covid-Politik des chinesischen Staates gefährdet. Die Covid-Politik wurde wahrscheinlich nicht nur deswegen von China aufgegeben, weil sie offensichtlich nicht funktioniert, sondern auch, weil die echte Gefahr eines sich ausbreitenden Protestes bestand. Die Freiheitsbeschränkungen waren zu massiv.

Es gibt also genügend Anlass für Pessimismus. Und Adenauers Rat „Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind. Es gibt keine anderen.“ müssen wir uns wohl zu Herzen nehmen. Was nun?

Atomkraft als Heilsbringer

Die gleichsam trotzige Gegenreaktion kommt von Thomas Fazi mit seinem Artikel „Warum der Westen auf Atomkraft setzen sollte“. Es ist sozusagen die großtechnische Offensive gegen alle Verzagtheit und damit verbundener Technikfeindlichkeit. Ich schätze Fazis Artikel, aber bei diesem scheint der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen zu sein. Atomkraftgegner – so Fazi – sind Populisten oder Opfer von Populisten und Lobbyisten. Alles, was Kritisches über die Atomkraft geschrieben wurde, ist falsch. Atomkraft ist gut. Da gibt es nichts zu mäkeln. So der angebliche Entlarvungsjournalismus.

Die Renaissance der Atomkraft wird mindestens einmal im Jahr von irgendjemanden verkündet. Warum nicht mal zugunsten der Atomkraft auf MAKROSKOP schreiben? Selbstverständlich, wenn es denn der Wahrheitsfindung dient! Aber was ist von Fazis These zu halten, dass wir mit „kohlenstofffreier Kernenergie im Überfluss den Schlüssel zum Überleben unserer Zivilisation“ haben? Wie konnten wir das nur übersehen?

Mal schnell das Klima mit ein paar Atomkraftwerken retten?

Unterstellen wir einfach mal, dass Atomkraft eine CO2-Bilanz aufweisen kann, die mit Wind und Sonne mithalten kann.

In Deutschland gibt es einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens, dass man „100 Prozent Erneuerbar“ haben will, trotzdem ziehen sich Genehmigungsverfahren für Wind- und Solarparks zu lange hin. Zum einen, weil wir schlicht in einer Demokratie leben und viele Belange berücksichtigt werden müssen und zum anderen, weil die Politik es nicht schafft, die Relevanz der verschiedenen Belange aufgrund neuer Erkenntnisse neu zu justieren und Verfahren dann zu verkürzen. Inzwischen hat man verstanden, dass das Leben eines jeden Vogels nicht wichtiger ist als der Klimaschutz. Selbst das ZDF, nicht gerade windkraftfreundlich, hat zudem berichtet, dass die Gefahr für den Rotmilan durch Windkraft vergleichsweise gering ist. Trotzdem ziehen sich die Änderungen der entsprechenden Vorschriften in die Länge.

Bis zum Baubeginn eines Wind- oder Solarparks vergehen fünf bis zehn Jahre. Der Bau selbst ist dann in der Regel in einem Jahr erledigt.

Und die Atomkraft? Zumindest in Deutschland hat – wie Fazi anmerkt – die Atomkraft „eine geringe öffentliche Aufmerksamkeit“. Dies wird sich mit Sicherheit ändern, wenn sich der Staat wieder für die Atomkraft entscheidet. Deutschland, das ist das Land, in dem sich Menschen Jodtabletten kaufen, wenn im fernen Japan ein Atomkraftwerk umfällt. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände, die es in den 1980er Jahren zum Beispiel in Brokdorf oder Wackersdorf gab, werden sich wiederholen. Die Genehmigungsverfahren werden mit guten und weniger guten Einwände verzögert, es wird zu Klagen kommen. Ein zehnjähriger Genehmigungsprozess wird die kurze Ausnahme sein. Und dann beginnt der Bau, der nicht in einem, sondern eher in 20 Jahren abgeschlossen sein wird. Siehe zum Beispiel das letzte Projekt in Finnland.

Der Ausbau der Erneuerbaren geschieht nicht im notwendigen Tempo in Deutschland und anderswo in der Welt, um den Klimawandel abzuwenden. Die Atomkraft kommt aber totsicher zu spät.

Es wäre in Deutschland richtig gewesen, zuerst aus der Kohle und dann aus der Atomenergie auszusteigen. Aber die Zeiten – die 1980er und 1990er Jahre – waren nicht danach. Klimawandel war damals noch kein Thema in der Öffentlichkeit.

Die Mär von der atomaren Versorgungssicherheit und der erneuerbaren Unzuverlässigkeit

Seit es die Erneuerbaren gibt, werden ihre Befürworter darüber belehrt, dass diese fluktuierenden Energiequellen unzuverlässig sind. Die gefürchtete Dunkelflaute lässt uns dann im Kalten und im Dunkeln sitzen. Fazi führt Studien an, die belegten, dass eine Energieversorgung zu 100 % aus Erneuerbaren nicht möglich sei. Ich kann Studien benennen, die das Gegenteil behaupten (für die Welt; detailliert für Deutschland).

Wer Recht hat, wird vielleicht die Geschichte erweisen. Der wissenschaftliche Streit ist notwendig, denn einen blauäugigen Weg in irgendeine Energiezukunft (sei sie atomar, sei sie solar) können wir uns nicht leisten. Einen Anspruch auf absolute Wahrheit zu erheben ist vermessen, da in alle Zukunfts- und Machbarkeitsstudien bewusste und unbewusste Annahmen einfließen, die sich als falsch erweisen können.

Doch wie sieht es aus mit der erneuerbaren Versorgungssicherheit? Die Faustformel kann sein: Je größer das Stromnetz, das mit Strom aus unterschiedlichen Wetter- oder Klimazonen versorgt wird, desto geringer ist der Speicherbedarf. Natürlich brauchen wir ab einem gewissen Punkt Speicher. Im kurzfristigen Bereich (Bruchteile von Sekunden bis Minuten) werden diese Aufgabe Batteriespeicher übernehmen, Langfristspeicher werden aus grünem Wasserstoff, erzeugt mit Erneuerbaren, und deren Produkten bestehen. Grüner Wasserstoff wird dabei nicht nur in Deutschland erzeugt, sondern auch importiert werden müssen. Die Wüsten dieser Welt werden die Energiequellen der Zukunft: entweder nur mit Solaranlagen oder an idealen Standorten mit Wind- und Solaranlagen bestückt.

Die Firma Enertrag aus der Uckermark entwickelt weltweit Projekte, die aus Solar- und Windstrom Wasserstoff herstellen, der dann als Ammoniak verschifft wird. Die Kapazitäten dieser Projekte können sich mit Atomkraftwerken messen (hier mehr dazu). Energieautark werden wir also auch mit den Erneuerbaren nicht. Wichtig ist es deswegen, Projekte und Zulieferer in der ganzen Welt zu haben. Der grüne Wasserstoff wird nicht nur eine Speicherfunktion haben, sondern zum Beispiel für die Stahlindustrie gebraucht. Deren Hochtemperaturöfen sind auf Gas angewiesen.

Und wie sieht es mit der nuklearen Versorgungssicherheit aus? Die französischen Atomkraftwerke müssen nicht nur wegen ihres maroden Zustandes mit gedrosselter Leistung gefahren werden, sondern auch wegen der Wetterextreme. Die Hitze zwingt dazu, die Anlagen zu drosseln. Das führte dann zu der Meldung, dass die deutsche Fotovoltaik im letzten Sommer zeitweise mehr produzierte als die französische Atomkraft.

Das mag nur eine Momentaufnahme sein: Sie zeigt aber zum einen die Leistungsfähigkeit der Erneuerbaren und aber vor allem die Anfälligkeit der Atomenergie. Wir können uns sicher sein: eine solche Meldung wird es öfters in den nächsten Sommern geben. Nicht auszudenken, wenn ganz Europa nur von Atom versorgt werden würde. Der letzte Sommer hätte zu Stromrationierungen genötigt. Zugefrorene Flüsse stellen übrigens ein ähnliches Risiko dar, weil auch sie kein Kühlwasser für AKW zur Verfügung stellen können.

Gefahren? Welche Gefahren? Et hätt noch immer jot jejange.

Zur Gefährdung von Mensch und Natur durch AKW ist viel geschrieben worden. Populisten und Fachleute gibt es bei AKW-Befürwortern und Gegnern. Fazi kann sich hinsichtlich seiner Risikoeinschätzung der Zustimmung durch von der Leyen und der EU-Kommission sicher sein. Wenn denn aber alles so sicher ist, dann wäre doch die Einführung einer umfassenden Haftpflichtversicherung ein leichtes. Doch die Finanzindustrie ist noch nicht so entspannt wie Fazi und von der Leyen. Sollte ein umfassender Versicherungsschutz vom Gesetzgeber verlangt werden, wäre dieser nicht bezahlbar.

Viele haben den Deutschen mit dem Beginn von „Putins“ Krieg vorgeworfen, dass sie in der Vergangenheit nicht schnell genug die Erneuerbaren ausgebaut haben, um vom russischen Gas weg zu kommen. Fazis Schlussfolgerung hingegen ist, dass man vom Gas zum Atom muss. Er müsste uns dann nur erklären, wie wir es beim Atom mit dem Russen halten. Es wird erstaunlicherweise wenig in der Öffentlichkeit wahrgenommen, aber Frankreich ist von russischem Uran abhängig.

Atomkraft: Koste es, was es wolle?

Fazi gehört zu den Vertretern der MMT. Die MMT lehrt uns, dass der Staat in seiner eigenen Währung beliebige Geldmengen zur Verfügung stellen kann. Nicht nur die MMT lehrt uns, dass die privaten Banken Geld aus dem Nichts schöpfen können. Der einzig beschränkende Faktor sind die realen Ressourcen einer Gesellschaft. Insofern brauchen uns – wie Fazi zu Recht anmerkt – die hohen Investitionssummen für AKW nicht schrecken. Der Umbau mit Wind und Solar ist bekanntermaßen auch nicht billig. Auch dafür sind gigantische Investitionen nötig und es gilt Investitionsruinen (AKW, Kohlekraftwerke) zu verdauen.

Der Punkt ist aber nicht, dass das eine oder andere finanzierbar ist, sondern bei welchem Projekt der effizientere Einsatz von Ressourcen stattfindet. Das verraten mir im Zweifelsfall die Kosten pro kWh. Da hat insbesondere die Solarenergie eine beeindruckende Reise nach unten gezeigt, während die Atomkraft um die Wirtschaftlichkeit kämpft. Keiner wird mehr über die Atomkraft ein Wörtchen verlieren, wenn Haftpflicht und Entsorgungskosten von den AKW-Betreibern konsequent zu tragen sind. Sie ist dann unbezahlbar, mindestens unkalkulierbar. Baukosten für AKWs können sich schon mal gegenüber den Plankosten verdreifachen. Wie das einen wirtschaftlichen Betrieb ermöglicht, ist mir schleierhaft.

Was ist der richtige Energieweg?

Was spricht also für die Atomkraft? Nichts! Die Franzosen machen es trotzdem, weil sie nichts anderes können, und die Chinesen machen es trotzdem, weil sie alles können und machen: von atomar bis solar. Es soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass Frankreich massiv in die Erneuerbaren investieren will. Da gilt die Devise: Nicht kleckern, sondern klotzen. Große Offshore-Windparks sollen es richten.

Ich bin überzeugt, dass das Ziel hin zu 100 % Erneuerbaren richtig ist. Ob die Franzosen und andere Atomfreunde einfach nur einen anderen oder einen schlechteren oder einen besseren Weg gehen, wird die Geschichte zeigen – eine Geschichte hoffentlich ohne atomare Unfälle. Und noch etwas ist wichtig: Man kann nicht alle paar Jahre die Energiestrategie ändern. Die Kapriolen von Merkel waren schon unverantwortlich genug. Unterschiedliche Energieträger brauchen ein unterschiedliches Gesamtsystem (man denke nur an den Netzausbau). Die Energieindustrie will nur wissen, wo es lang geht, und dann in Ruhe arbeiten. Jedes Jahr eine neue Sau im Dorf ist nicht hilfreich.

Was bleibt zu tun und was dürfen wir hoffen?

In den 1950er und 1960er Jahren waren sich alle einig, dass die Atomenergie das Energieproblem der Menschheit löst. Fazi ist zu diesem alten Traum zurückgekehrt: Die letzten 40 Jahre Atomskepsis waren einfach ein Irrtum der Geschichte.

Meines Erachtens ist der bessere Traum, eine Welt mit rein erneuerbaren Energiequellen aufzubauen. Wenn dieser Weg konsequent gegangen wird, werden wir uns vor Innovationen nicht retten können. Ein schönes Beispiel ist die Batterie aus Kalzium, die allen den Wind aus den Segeln nimmt, die der E-Mobilität ein Scheitern aufgrund von Rohstoffknappheit voraussagten. Lithium ist knapp, Kalzium nicht. Für diese Energiewelt sollten wir uns mit Konsequenz engagieren.

Ich bin zuversichtlich, dass es machbar ist. Diese Zuversicht und ein vernünftiges Maß an Technikoptimismus brauchen wir, denn eine Welt der materiellen Entsagung werden die Menschen nicht akzeptieren – trotz aller postmaterialistischen Träume und veganen Kasteiungen. Die Menschheit wird eher die Welt vor die Wand fahren, als dass sie verzichtet.