Editorial

Saulus oder Paulus?

| 17. Februar 2021
Presidenza della Repubblica/wikimedia.org

Liebe Leserinnen und Leser,

dem neuen Ministerpräsidenten von Italien, Mario Draghi, wünscht Heiner Flassbeck von ganzem Herzen viel Glück. Für das gebeutelte Land sei der ehemalige Präsident der EZB eine einmalige Chance, glaubt Flassbeck, schließlich hat er nicht nur von den im Parlament vertretenen Parteien von rechts bis links breite Unterstützung bekommen, sondern verfügt auch über eine einmalige Erfahrung in der nationalen wie internationalen Arena. Draghi wisse, dass er expansive Fiskalpolitik (ohne europäische Auflagen) braucht, um die italienische Wirtschaft aus dem tiefen Tal, in dem sie sich befindet, herauszuführen. Er wisse, dass es eine Änderung der Wettbewerbsverhältnisse in Europa geben muss, wenn Italien auf Dauer erfolgreich sein will. Er wisse auch, dass er bei jedem Schritt unter Beobachtung steht und jederzeit ein Sturm im Norden ausbrechen kann, der ihn politisch hinwegfegen könnte.

Ganz anders die Diagnose von Thomas Fazi, der in dem Mann aus dem Dunstkreis von Goldman Sachs alles andere als einen Heilsbringer sieht. Es sei kein Zufall, dass die Ära der technokratischen Regierungen in Italien in den frühen 1990er Jahren mit der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags beginnt, der von keinem Geringeren als Draghi, damals Generaldirektor des italienischen Finanzministeriums, ausgehandelt wurde. Draghi war in seiner Position als Generaldirektor auch einer der Hauptbefürworter des »vincolo esterno«, einer Politik des äußeren Zwanges, die es erlaubt, damit Privatisierung, fiskalische Austerität und Lohnkompression zu begründen. Italiens Krise sei eine Krise der Post-Maastricht-Ordnung des italienischen Kapitalismus – und Draghi die Inkarnation dieses politisch-ökonomischen Modells, das Italien ruiniert habe. Der Glaube also, dass er eine Lösung für Italiens Probleme darstellen könnte, sei töricht. 

Todeszone der Spreads

Eine Chronik dieses äußeren Zwanges und seiner Radikalisierung, die Italien und andere Mitgliedsstaaten der Eurozone an den Rand des Abgrunds führten, hat Werner Polster zu erzählen: Im ersten Jahrzehnt nach Maastricht funktionierte die Währungsunion auf dem Grundsatz des gleichen Zinses für den öffentlichen Kredit. Niemand konnte sich vorstellen, dass es eine Staatengruppe, die eine Währungsunion gründet, nach dem Gründungsakt zulassen würde, dass die einzelnen Staatskredite mit Risikoprämien taxiert würden.

Mit der Hinhaltetaktik von Europäischem Rat und EZB (unter Mario Draghi) gegenüber Griechenland aber öffnete sich 2010 plötzlich ein Fenster, das Prinzip des Staatenwettbewerbs unter dem Dach der Währungsunion auszuweiten. Marktradikale Ökonomen im Kanzleramt konnten beobachten, wie die Zinsen auf dem Kapitalmarkt für öffentliche Kredite in der Eurozone nach oben schnellten. Direkt vor der Haustür wurde so ein neuer Marktmechanismus entdeckt, der für eine effektive Beschränkung der Staatsschulden sorgen könnte.

Nur lief, wie Sie alle wissen, die Umstellung der Währungsunion von Gleichheit auf Wettbewerb aus dem Ruder. Ein um das andere Land der Eurozone geriet bei der Kreditaufnahme in die Todeszone der Wucherkredite: Zu Griechenland gesellten sich im Verlauf des Jahres 2010 Irland und Portugal und später Italien und Spanien im Sommer 2012, als für die beiden Länder an den Kapitalmärkten Zinsen wie für afrikanische Entwicklungsländer aufgerufen wurden. Nun musste doch die EZB zu Hilfe eilen: Wieder war es Mario Draghi – und so schließt sich der Kreis –, der mit seiner »Whatever it takes«-Rede die Staatszinsen zurück auf ein annähernd gleiches Niveau lenkte.

Dass das Problem damit aber nicht vom Tisch ist, zeigt uns Patrick Kaczmarczyk. Denn ein »annähernd« gleiches Niveau reicht nicht aus, um Wettbewerbsverzerrungen innerhalb des europäischen Binnenmarktes zu verhindern. Schon geringe »Spreads«, also Unterschiede bei den Renditen auf Staatsanleihen, haben massive Auswirkungen auf die Refinanzierungsbedingungen der Unternehmen. Sie variieren im Einklang mit den Spreads, hängen also nicht nur von der eigenen Bonität ab. Was das bedeutet, führen auf dramatische Weise die Probleme des italienischen Autokonzerns Fiat vor Augen.

Und was hat das alles mit Next Generation EU zu tun? Mit dem Versuch der gemeinsamen Verschuldung bzw. Kreditaufnahme – nachdem sich Angela Merkel gegen Eurobonds ausgesprochen hatte, »solange sie lebt«. Doch eine Kehrtwende, wie Werner Polster und Eric Bonse konstatieren, ist auch NextGenEU nicht. Davon könnte nur dann die Rede sein, wenn klar wäre, dass Europa nicht länger eine Wettbewerbsveranstaltung ist, weder auf dem Gebiet der Realwirtschaft noch auf dem des öffentlichen Kredits.