Neuer Kalter Krieg oder neue Politik der Entspannung?
Ist Putin ein revisionistischer Imperialist oder handelt er nach geostrategischem Kalkül? Der beste Weg, um dies herauszufinden, wären Friedensverhandlungen.
Wie nach dem anfänglichen optimistischem Wind of Change der Entspannungspolitik in Europa die große Desillusionierung zwischen Russland und dem kollektiven Westen einsetzte, wurde in Teil 1 dieses Artikels dargestellt. Putin kritisierte den „unipolaren“ Ansatz des Westens, in dem Russland nicht als gleichwertiger Partner akzeptiert und durch die NATO-Osterweiterung bedroht würde. Die westliche Seite hingegen zeigte sich überrascht und enttäuscht über den plötzlichen russischen Konfrontationskurs und undemokratische Entwicklungen im „Reich Putins“.
Ein im März 2022 erschienener Artikel der New York Times verdeutlicht den Schock. Darin wird die Reaktion des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses Norbert Röttgen auf Putins Bundestagsrede von 2001 zitiert:
„Putin nahm uns gefangen. Seine Stimme klang ganz sanft, auf Deutsch, eine Stimme, die einen dazu verleitete, das zu glauben, was einem gesagt wurde. Wir hatten Grund zu der Annahme, dass es eine realisierbare Perspektive des Miteinanders gab."
Heute, mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, konstatierte die New York Times damals, sei jegliches Zusammengehörigkeitsgefühl endgültig zerstört. Mehr als 3,7 Millionen Ukrainer waren auf der Flucht; und
„die säuselnde Stimme von Herrn Putin hat sich in die wütenden Tiraden eines buckligen Mannes verwandelt, der jeden Russen, der sich der Gewalt seiner sich verschärfenden Diktatur widersetzt, als ‚Abschaum und Verräter‘ abtut.“
Auch wenn sich nicht jeder so ausdrückt, so werden Putin im Westen weithin nicht sicherheitsstrategische sondern imperialistische Motive unterstellt. Der Autokrat stellt laut strategischem Konzept der NATO „unsere Interessen, unsere Werte und unsere demokratische Lebensweise infrage“ und kann, so die vorherrschende Sichtweise, seine diktatorische Macht im Lande nur sichern, indem er seine vermeintlichen äußeren und inneren Feinde bekämpft. Dies sei der wesentliche Antrieb, der Putin das ehemalige Staatsgebiet und den Einflussbereich der Sowjetunion zurückzuerobern planen lasse. Seine Machtpolitik im Inneren, das Zurückdrängen oppositioneller und westlicher Einflüsse in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, die Militäroperationen im Tschetschenien-Krieg und gegen Georgien, die Annexion der Krim und die Unterstützung der Aufständischen im Donbass seien dafür bereits klare Belege gewesen. Wenn es noch Zweifel gegeben haben mag, dann habe sie der Überfall auf die Ukraine endgültig beseitigt.
Indes wird Russland nicht nur als militärische Bedrohung wahrgenommen, sondern auch als Gefahr für die innere Sicherheit der westlichen Demokratien. Russische Propaganda und die konservativen Positionen des Kremls zu Familie, orthodoxer Kirche und Vaterland sollen den Nährboden des Rechtspopulismus im Westen bilden.
Wer diese Sichtweise vertritt, hält einen Dialog mit Autokraten weder für möglich noch eine Entspannungspolitik länger für eine ernstzunehmende Option. So argumentiert auch Jana Puglierin vom European Council of Foreign Relations (ECFR) im Streitgespräch mit Klaus von Dohnanyi. Die Erwartungen eines „Wandels durch Annäherung“[1] hätten sich nicht erfüllt. Die westliche Appeasement-Politik[2] nach der Krim-Annexion habe Putin darin bestätigt, dass er mit militärischen Mitteln erfolgreich seine Interessen durchsetzen könne. Nicht zuletzt deshalb sei es die moralische Pflicht des Westens, der Ukraine beizustehen und Russland in die Schranken zu weisen.
In der Tat war Deutschland erst nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands bereit, mehr „militärische Verantwortung“ zu übernehmen und das zu tun, was man den USA zuvor verweigerte: die Erhöhung der Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts. Puglierin findet, dass diese „Zeitenwende“ längst überfällig gewesen sei. Ein von ihr mit herausgegebenes ECFR-Papier fordert von den Europäern aber weit mehr: Nur indem sich die EU zu einer starken Militärmacht entwickele, könne sie vom Vasallen der USA wieder zu einem ernstzunehmenden Partner im atlantischen Bündnis werden.
Angesichts der sich inzwischen immer stärker abzeichnenden Perspektive eines Trumpschen Wahlsieges und dessen irritierenden Äußerungen zur NATO mehren sich die Stimmen, die die Europäer zu noch größere Rüstungsanstrengungen aufrufen. Man könne sich bei der Abwehr der russischen Bedrohung künftig nicht mehr auf einen wohlwollenden Seniorpartner verlassen.
In der Sackgasse?
Putin „darf nicht gewinnen“. Aber kann die Ukraine ihrerseits Russland mit westlicher Hilfe besiegen? Mittlerweile ist klar: Die Sommer-Offensive 2023 ist gescheitert. In den westlichen Medien wird zunehmend darüber debattiert, wie schlimm die Lage wirklich ist, welche Möglichkeiten die Ukraine noch hat, und welche Konsequenzen zu ziehen sind. „Ukrainians question Volodymyr Zelenskyy’s ‘rose-tinted’ speeches“, titelt die Financial Times. Mit anderen Worten: Auch die Ukrainer haben den Glauben an einen durchschlagenden militärischen Erfolg verloren. Die ukrainische Führung ist zerstritten. Proteste der Bevölkerung gegen Truppenmobilisierungen werden häufiger. Und in den USA stemmen sich die Republikaner gegen eine weitere Finanzierung der Ukraine.
Der britische Journalist und konservative Politiker Daniel Hannan befürchtet einen „Suez-Moment“[3] für das westliche Bündnis: eine profunde strategische Niederlage mit weltweiten Folgen für die USA und die NATO-Staaten, deren gemeinsame Kraftanstrengung nicht reichte, um Russland aus der Ukraine zurückzudrängen.
„Es ist immer noch möglich, sich ein Friedensabkommen vorzustellen, das Aggression nicht offen belohnt. […] Aber wenn Russland am Ende Land mit Gewalt annektiert, wird nicht nur der Westen verlieren, sondern die gesamte internationale Ordnung nach 1945. Die Welt wird kälter. Die Nächte werden dunkler.“
In dieser Situation versuchen viele Analysten und politisch Verantwortliche, die wackelige Allianz um die Ukraine mit Hilfe einer modernen Variante der Domino-Theorie[4] zu festigen und gleichzeitig die Europäer auf eine dauerhafte militärische Bedrohungssituation vorzubereiten: So glaubt der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer, dass man sich künftig auf einen Verteidigungskrieg gegen Russland einstellen müsse. Die Bundeswehr sei jedoch derzeit für die "Landes- und Bündnisverteidigung" nicht gut gerüstet, weil sie auf die Lösung internationaler Krisen ausgerichtet sei und es Strukturen gebe, „die schnelle und zielgerichtete Entscheidungen fast unmöglich machen". Sicherheitsexperte Christian Mölling ist der Meinung, dass als Konsequenz einer Niederlage der Ukraine zu befürchten sei, dass es schon in fünf oder sechs Jahren nicht um einen Nuklearschlag oder eine nukleare Eskalation gegen Kiew ginge, sondern um eine nukleare Eskalation, die möglicherweise dann Berlin ins Zentrum rücke. Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer war der erste, der forderte „Die EU braucht eine eigene atomare Abschreckung.“ Und am 6. Dezember 2023 warb Präsident Biden mit den folgenden Worten für sein Hilfsprogramm:
"Wenn Putin die Ukraine einnimmt, wird er dort nicht halt machen. Es ist wichtig, hier die langfristige Perspektive zu sehen. Er wird weitermachen. Das hat er ziemlich deutlich gemacht. Wenn Putin einen NATO-Verbündeten angreift, dann werden wir etwas haben, was wir nicht wollen und was wir heute noch nicht haben: Amerikanische Truppen kämpfen gegen russische Truppen."
Es sei unabdingbar, durch permanente Waffenlieferungen die Ukraine auch weiterhin in die Lage zu versetzen, die gegenwärtigen Verteidigungslinien zu halten, so eine Studie des Instituts for the Study of War (ISW). Die kostspieligen Alternativen seien, so das ISW, entweder die dauerhafte Etablierung der russischen Überlegenheit oder die notwendige Stationierung von mehr amerikanischen Truppen und Waffensystemen auf dem europäischen Kontinent.
Weg aus der Krise?
Anders etwa die Redner der Berliner Friedensdemo, die Europa in einer Eskalationsspirale gefangen sehen, die gefährlicher sei als in den 1980er Jahren.[5] Die Kosten des Krieges seien auch deshalb nicht zu rechtfertigen, weil die zunehmende Militarisierung anderen drängenden Problemen immer mehr Geld und Ressourcen entziehe. Der moralischen Pflicht zur Unterstützung der Ukraine stellen die Friedensaktivisten die ihrer Meinung nach moralisch nicht mehr zu rechtfertigende Zahl der Kriegsopfer gegenüber. So bezifferte der ehemalige General und Ex-Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat die Toten und Schwerverletzten allein auf Seiten der ukrainischen Armee im November 2023 auf 500.000.
Kujat ist davon überzeugt, dass die Verteidigungsfähigkeit der EU inzwischen durch die Unterstützung der Ukraine untergraben worden sei. Auch für die USA seien die Kosten eines langen Krieges zu hoch. Die Einschätzung Kujats deckt sich mit einer Anfang des Jahres erschienenen Studie der Rand-Corporation. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Präsident Selenskyj zu Verhandlungen gedrängt werden müsse.
Doch wie plausibel ist die Annahme, dass Russland ganz Europa militärisch erobern will? Der republikanische Senator J.D. Vance hält diese Behauptung für absurd. Russland könne mit der ihm zur Verfügung stehenden Truppenstärke nicht einmal ein Gebiet von der Größe der Ukraine besetzen. Dass Putin noch weiter gehen und mehrere europäische Nationen militärisch kontrollieren könne, hält er für Panikmache.
Entgegen der landläufigen Meinung geht unter anderem der Politikwissenschaftler John Mearsheimer von der grundsätzlichen Verhandlungsbereitschaft Putins aus. Er verweist auf das Minsk Abkommen von 2015, über das der Ukraine-Konflikt hätte gelöst werden können. Die Umsetzung des Abkommens, so sieht es Mearsheimer, sei seitens der ukrainischen Regierung und des Westens verhindert worden. Ein weiterer Beleg sei der von Russland im Dezember 2021 vorgelegte Vertragsentwurf für eine europäische Friedensordnung; auch dieser sei seitens des Westens zurückgewiesen worden. Mearsheimer glaubt, dass die russische Seite aus sicherheitsstrategischen Motiven handelt: Putin sei es nie um Eroberungen gegangen, sondern um den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine und die nationale Sicherheit Russlands, die aus seiner Sicht durch die NATO-Osterweiterung bedroht würde.
Das Interview mit dem umstrittenen US-Journalisten Tucker Carlson nutzte Putin, um an die kurz nach dem Angriff auf die Ukraine in Istanbul erarbeiteten Entwürfe für ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Russland und der Ukraine zu erinnern, die auf westliche Initiative hin abgebrochen worden seien, und an die man heute wieder anknüpfen könne.
Das alles entscheidende Frage ist, ob man dieser Aussage Glauben schenken kann. Ist Putin ein revisionistischer Imperialist oder handelt er nach geostrategischem Kalkül? Der beste Weg, um dies herauszufinden, wäre die Aufnahme von Friedensverhandlungen. Lassen sich über diesen Weg Regelungen finden, die sowohl für die Ukraine als auch Russland akzeptabel sind, gäbe es keinen Grund für eine Fortsetzung eines Abnutzungskrieges, der alle Seiten teuer zu stehen kommt. Vorschläge dazu – unter anderem durch die Feder von Kujat − gibt es. Auch die Autoren der Rand Corporation halten Verhandlungen, in denen Zugeständnisse an Russland gemacht werden, für nötig. Dazu gehören die Teil-Wiederaufnahme der Beziehungen zu Russland und die Rückkehr zu Rüstungskontrollverträgen. Sie schreiben:
„Nach der mutwilligen Verletzung der ukrainischen Souveränität und territorialen Integrität durch Russland [… ist eine] allumfassende [europäische Friedens-] Ordnung […] nicht mehr plausibel. Aber es ist denkbar, dass verschiedene Normen, Dialogformate und andere Vereinbarungen stückweise vereinbart werden. Gemeinsam könnten solche Vereinbarungen den Grundstein für eine langfristige regionale Stabilität legen.“
Sollten derartige Dialoge an nicht hinnehmbaren russischen Ansprüchen scheitern, gäbe es an den revisionistischen Motiven Putins keinen Zweifel mehr. Nur – bisher scheinen auch von den USA und der EU keinerlei ernstzunehmende Initiativen auszugehen.
-------------------------