Editorial

Wir, das (a)soziale Wesen

| 23. Februar 2021
istock.com/art2002

Liebe Leserinnen und Leser,

haben Sie auf die Rallye des Bitcoin Anfang des Jahres gesetzt? Nein? Schade, sonst hätten Sie inzwischen ihr Vermögen um 80% gesteigert. Wenn Sie dagegen vor einem halben Jahr eingestiegen sind, dann sind Sie gar um 350% reicher geworden. Die Kryptowährung hat aufgrund seines Höhenflugs inzwischen eine Marktkapitalisierung von 1 Billion Dollar überschritten. Eine wahrlich phantastische Geschichte.

Vielleicht fragen Sie sich aber auch gerade, was Bitcoins sind? Es handelt es sich um eine Art von Privatgeld, dessen Sinn und Zweck es ist, ein Mittel für die Begleichung von Geldschulden zu sein. Eine Erklärung, die sich für die »wachsende Macht« von Bitcoins und anderen Kryptowährungen anbietet, ist also ihre flächenbrandartige Verbreitung als Zahlungsmittel.

Für Paul Steinhardt allerdings ist jenseits des Bitcoin-Hypes etwas ganz anderes entscheidend: Warum überhaupt wird zugelassen, dass Kryptowährungen als Zahlungsmittel im eigenen Währungsraum dienen können? Warum lässt man den Handel mit einem »Wert« zu, der auf dem nicht haltbaren Versprechen beruht, sie würden die vom Staat akzeptierten Zahlungsmittel verdrängen?

Angesichts dieser offenen Fragen besteht für Steinhardt Grund zu großer Sorge. Staatliche Autoritäten scheinen über die Funktionsbedingungen moderner Geldsysteme so wenig im Bilde zu sein, dass sie diesem Wahnsinn im Namen der Währungshoheit kein Ende bereiten.

Gibt es doch einen Corona-Effekt?

Wenn Sie im Bitcoin-Hype vor allem eine fragwürdige Renditejagd auf den Finanzmärkten erkennen, dann sind Sie möglicherweise Teil einer wachsenden Mehrheit, die diese Praktiken als Ausdruck unseres Wirtschaftssystems zunehmend kritisch sieht. Das glaubt zumindest Dirk Bezemer, der sogar bei Ökonomen einen Corona-Effekt sieht ‒ einen Linksruck. So käme ein Begriff zu neuen Ehren, der bereits bei klassischen Ökonomen wie Smith, Ricardo, Marx Verwendung fand: »Renten«. Dieses Wort werde man bald wieder häufiger hören, glaubt Bezemer, weil er zu dem neuen Narrativ passt, das jetzt überall zu hören ist.

Denn was progressive Ökonomen seit Jahrzehnten predigen, werde nun zusehends zu einem Gemeinplatz. Gestern waren niedrige Löhne und flexible Verträge gut für die Wettbewerbsfähigkeit, heute sind sie ein Problem. Gestern waren hohe Dividenden eine angemessene Belohnung für Aktionäre, heute sind sie eine Belastung für die Wirtschaft. Gestern waren Patente auf Medikamente notwendig, um Forschung und Entwicklung zu finanzieren, heute sind sie Vehikel, um durch Marktmanipulation unlautere Superprofite zu machen.

Überall, wo er hinsehe, so Bezemer weiter, sehe er nun Anzeichen dafür, dass Arbeitgeber, die Regierung und Meinungsmacher die Nase voll haben von dem Wirtschaftssystem, wie es noch im Februar 2020 war. Es scheint ein neuer Konsens zu sein, dass die Dinge nachhaltiger und sozialer werden müssen.

Der Homo oeconomicus als soziale Weltformel

Einer dieser progressiven Ökonomen, die das ganz ähnlich sehen, ist der in Cambridge lehrende Jonathan Aldred. Er hat der Rendite-Jagd im weitesten Sinne, dem stets seinen individuellen Vorteil optimierenden Homo oeconomicus, den »ökonomische Imperialisten« als soziale Weltformel propagieren würden, ein ganzes Buch gewidmet. Für Hartmut Reiners ist »Der korrumpierte Mensch« eine brillant geschriebene Abrechnung mit dem Menschenbild der Mainstream-Ökonomik.

Aldred geht den Ursprüngen des Homo oeconomicus auf die Spur, einer Sozialphilosophie, die für ihn ein Freibrief für asoziales Verhalten ist und deren Brutstätte das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Ökonomen wie Leon Walras, William S. Jevons und Carl Menger begründete Paradigma der Allokation knapper Ressourcen war. Seit den späten 1970er Jahren entwickelte sie sich aus einer von mehreren Denkschulen zur hegemonialen Lehre. Diese dient Wettbewerb und finanzielle Anreize in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen als effektive Steuerungsinstrumente an, ohne dafür auch nur ansatzweise eine empirisch fundierte Begründung zu liefern, so Aldred.

In letzter Konsequenz werden staatliche Dienstleistungen und Infrastruktureinrichtungen für überflüssig und Steuern für legalisierten Raub gehalten. Die einzig legitime Aufgabe des Staates sei, die Gewährleistung von Recht, Ordnung und allgemeiner Sicherheit durch die Justiz, die Polizei und das Militär. Nur in diesem Sinn sei auch öffentliche Fürsorge vertretbar, weil dies im Interesse jener liege, »die Schutz gegen Verzweiflungstaten der Bedürftigen verlangen«, so Hayek in seinem sozialphilosophischen Grundsatzwerk »Die Verfassung der Freiheit«.

Dieser Dystopie sind wir heute möglicherweise an einigen Stellen bedrohlich nahegekommen, andererseits legt die Corona-Krise die Dysfunktionalität dieses Gesellschaftsentwurfs schonungslos offen. Kein Wunder also, dass immer mehr Menschen – und so schließt sich der Kreis – genug davon haben.