Debatte

Linke Haltelinien in der Ukraine-Krise

| 03. März 2022
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Wie weit soll die deutsche Unterstützung für die Ukraine gehen? Eine einfache Frage für Konservative und Liberale, eine komplizierte für Linke.

„Never let a good crisis go to waste”. An diesem Winston Churchill zugeschriebenen Slogan haben sich alle diejenigen in den letzten Tagen orientiert, die schon immer eine Aufrüstung der Bundeswehr und eine „normale“, von historisch bedingter Zurückhaltung befreite Machtpolitik der Bundesrepublik wünschten.

Sie haben bereits viel erreicht, unter anderem die Zusage der Bundesregierung, in den nächsten Jahren jeweils mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, die Einrichtung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und die Lieferung von deutschen Waffen an die Ukraine, zum direkten Einsatz gegen das russische Militär. Auch die außenwirtschaftliche Isolierung Russlands schreitet fort, mit gravierenden Auswirkungen auf die russische Wirtschaft und Zivilbevölkerung. Weitere Schritte werden gefordert, insbesondere eine konkrete Beitrittsperspektive der Ukraine zu EU und NATO.

Natürlich gibt es Opposition aus der Linken und der AfD, die solche Beschlüsse nicht mittragen, im Gegensatz zur ganz großen Koalition der Mitte, die auch CDU/CSU einbezieht. Von den früheren Militarisierungsgegnern auf dem linken Flügel von Grünen und SPD ist allerdings angesichts der emotional mitreißenden Welle der Solidarität mit der Ukraine nur wenig zu hören. Selbst in der Linkspartei kam es in dieser Frage zu keiner gemeinsamen Haltung, sondern einem heftigen Streit zwischen deren außenpolitischen Sprecher Gysi und einer Gruppe um Sahra Wagenknecht.

Nun mag man sich fragen, ob es in der aktuellen, von einer großen Solidarisierung der deutschen Bevölkerung mit der Ukraine geprägten Lage geschickt ist, zwar knapp den russischen Angriff unmissverständlich zu verurteilen, dann aber deutlich ausführlicher die „maßgebliche Mitverantwortung“ für die entstandene Situation den USA und ihren Verbündeten zuzuweisen und selbst Wirtschaftssanktionen gegen Russland abzulehnen.

Es ist sicher richtig, dass die USA und die NATO in den letzten Jahren und Jahrzehnten erheblich zur Eskalation der Spannungen mit Russland beigetragen haben, was selbst die linker Umtriebe vollkommen unverdächtige Stiftung Wissenschaft und Politik detailliert nachzeichnet. Trotzdem kann bezweifelt werden, ob die historische Verantwortung für den Konflikt aktuell der Fokus linker Stellungnahmen sein kann: Sie widersprechen der Empathie der überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung mit der unter dem Krieg leidenden Bevölkerung der Ukraine. Selbst die gröbsten Fehler des Westens können einen solchen brutalen Angriffskrieg nicht legitimieren.

Eine erste repräsentative Meinungsumfrage von YouGov nach dem russischen Einmarsch zeigt, dass 65% der Deutschen eine weitere Verschärfung der wirtschaftlichen Sanktionen befürworten, während nur 17% das ablehnen. Eine Civey-Umfrage beziffert, dass 69% der Deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten, während nur 25% das ablehnen. Eine aktuelle Civey-Umfrage demonstriert sogar eine Unterstützung von 78% der Deutschen für die Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik samt dem 100 Milliarden Sondervermögen, mit nur 16% dagegen.

Für die Rückgewinnung der intellektuellen Hegemonie zur Unterstützung einer relativ nicht-konfrontativen Außenpolitik, wie sie die Bundesrepublik – zum Verdruss der Liberalen und Konservativen – in den letzten Jahrzehnten weitgehend gekennzeichnet hat, dürfte in dieser Situation aus meiner Sicht eine Positionierung mit historischem Fokus, die zudem alle aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung pauschal ablehnt, wenig hilfreich sein. Für diejenigen Linken, die qua Parteimitgliedschaft in Grünen und SPD ohnehin zu einem gewissen Maß an Solidarität mit der Bundesregierung verpflichtet sind, scheint sie auch wenig realistisch.

Wo könnten also die linken Haltelinien liegen? Wie könnte eine besonnene linke Haltung aussehen, die weder in alten Amerika-Ressentiments verharrt, noch sich mit dem liberal-konservativen Aufruf für eine neue deutsche, auch gerade militärisch geprägte Machtpolitik gemein macht? Nachfolgend formuliere ich einige erste Überlegungen, im Interesse einer offenen Diskussion und nicht auf der Basis eines bereits abgeschlossenen Meinungsbildes.

Ziele der Einmischung in den Ukraine-Konflikt

Fangen wir mit dem aktuellen Konflikt sowie den Zielen und Instrumenten von Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine an. Zunächst sollten Linke unmissverständlich feststellen, dass der russische Angriff absolut unerträglich ist. Während die Denktradition der Liberalen Krieg zur Verbreitung des eigenen Gesellschaftsmodells unter Umständen für gerechtfertigt hält („humanitäre“ Intervention) und jene der Konservativen eine auch militärisch robuste Wahrnehmung nationaler Interessen durchaus für angemessen hält, sind Linke diejenigen, die Angriffskriege ohne Ausnahme ablehnen.

Zu einer solchen Ablehnung muss allerdings auch gehören, dass sich diese Kriege für den Aggressor langfristig nicht auszahlen dürfen. Ansonsten steht zu befürchten, dass wir noch mehr solcher Kriege erleben werden. Auch aus linker Perspektive sind Sanktionen gegen Aggressoren aus meiner Sicht daher geboten.

Für kommunitaristisch orientierte Linke gilt zudem, dass ein Krieg wie jener Russlands gegen die Ukraine gegen die Kern-Norm des eigenen Politikverständnisses verstößt, nämlich der Fähigkeit zur demokratischen Selbstbestimmung. Diese ist derzeit nur auf nationalstaatlicher Ebene realistisch. Wir regen uns regelmäßig zu Recht über Verstöße der Europäischen Union gegen diese Norm auf. Das Vorgehen Russlands aber geht weit darüber hinaus, die nationale Souveränität der Ukraine wird ignoriert.

Umgekehrt sollte aus der Sicht einer kommunitaristischen Linken aber auch darauf hingewiesen werden, dass es nicht das Ziel eines westlichen Eingriffs sein darf, in Russland einen Regimewechsel herbeizuführen. So verführerisch es auch sein mag, aus der Verantwortung Präsident Putins für diesen Krieg den Schluss zu ziehen, dass Putin gestützt werden muss, wäre ein solcher Schluss ein klarer Fehler. Es ist an Russland zu entscheiden, wer in Russland herrscht, nicht an uns.

Weiterhin muss es uns Linken aber auch darum gehen, bereits begonnene militärische Konflikte nach Möglichkeit rasch zu beenden, um den Verlust weiterer Menschenleben zu vermeiden. Im Krieg sterben regelmäßig Menschen aus jenen weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen, denen wir besonders verbunden sind, als Erste. Und während die Reichen sich problemlos privat in Sicherheit bringen können, sind die Ärmeren auf das staatliche Sicherheitsversprechen angewiesen.

Hier gibt es einen potentiellen Zielkonflikt mit der Notwendigkeit, Aggressoren mit Sanktionen zu belegen. Solche Sanktionen können leicht zu einer Eskalationsspirale führen, die zu einer Intensivierung des Krieges und weiterem Blutvergießen führt. Wir sollten also bei der Wahl der Instrumente unserer Einmischung zugunsten der Angegriffenen eine weitere gewalttätige Eskalation zu vermeiden suchen.

Instrumente der Einmischung in den Ukraine-Konflikt

Derzeit diskutiert – und teilweise bereits implementiert – wird ein breites Bündel von Maßnahmen, wie die Bundesrepublik die Ukraine unterstützen kann. Mir scheinen einige dieser Maßnahmen sinnvoller als andere.

Vermeiden sollten wir solche Maßnahmen, die noch weiter Öl ins Feuer gießen würden. Ausgehend von der Analyse, dass die Ostverschiebung der westlichen Bündnisse einen substantiellen Anteil an der russischen Aggression hat (hier liegen Sahra Wagenknecht und andere in meiner Wahrnehmung richtig), sollten wir eine EU- oder gar eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine unmissverständlich ausschließen und auf dieser Basis mit Russland und der Ukraine verhandeln.

Ganz abgesehen davon, dass die politisch wie ökonomisch fragile und in einen aggressiven Konflikt verwickelte Ukraine auf lange Sicht die essentiellen Aufnahmekriterien beider Organisationen auf unabsehbare Zeit nicht erfüllen wird, würde gerade Schritte in diese Richtung die russische Führung in ihrer Wahrnehmung einer direkten Bedrohung noch bestärken. Die Ankündigung einer EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Ukraine durch Kommissionspräsidentin von der Leyen ist hier nicht hilfreich.

Mindestens genauso klar vermeiden sollten wir alle jene Schritte, die uns direkt oder indirekt in eine militärische Konfrontation mit dem russischen Aggressor bringen würden, also insbesondere Waffenlieferungen, Freiwilligenverbände oder gar ein direkter Eingriff in den Kampf durch den Versuch der Etablierung einer „no fly zone“. Nach Jahrzehnten des Friedens in Europa ist uns wohl oftmals gar nicht mehr bewusst, wie schnell man mit solchen Maßnahmen gleitend in einen weitaus größeren Krieg geraten kann, der dann noch weitaus mehr Menschenleben kosten würde.

Wir müssten dann damit rechnen, dass sich der Konflikt über die Ukraine hinaus ausdehnt. Georgien und Moldau wären hier besonders gefährdet, dann das Baltikum. Und nachdem uns der russische Präsident mit dieser Invasion überrascht hat, können wir auch eine nukleare Konfrontation nicht sicher ausschließen.

Wir sollten auch erwägen, unsere Kommunikation gegenüber Russland sorgfältiger zu gestalten, als das in diesen Tagen mit der Vielfalt der Stimmen der EU-Regierungen und -Institutionen der Fall ist. Die Geschichte des Kalten Kriegs sollte uns lehren, wie schnell eine unglückliche Kommunikation – verbal oder mit symbolischen Maßnahmen – zu einer raschen Konflikteskalation beitragen kann. Insbesondere ein Studium des Verlaufs der Kubakrise ist hier angebracht. Wir waren damals einem Nuklearkrieg wohl sehr nah.

Wir können in diesem Kontext durchaus froh sein, dass wir mit Joe Biden gerade einen vergleichsweise erfahrenen und besonnenen US-Präsidenten haben, der auf die frühe Alarmbereitschaft der russischen Nuklearstreitkräfte nicht mit der Aktivierung der DEFCON 3- Alarmstufe reagiert hat.

Nun werden sich viele fragen, welche Sanktionen gegen die russische Aggression dann noch möglich sind, wenn wir weder unsere Bündnisse ausdehnen, noch militärisch eingreifen – und nicht einmal damit drohen – dürfen. Auch wenn sie nur langfristig wirken (und auch dann nicht so effektiv wie wir das möchten), eher die unschuldige russische Bevölkerung (und nicht deren Regierung) treffen und wenn sie auch uns massiv schaden, bleiben nur wirtschaftliche Maßnahmen. An dieser Stelle geht die Reaktion der Bundesregierung und ihrer Verbündeten aus meiner Sicht in die richtige Richtung.

Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, ist bei diesen Sanktionen aber noch viel Luft nach oben. Die Herauslösung einiger Banken aus dem SWIFT-Zahlungsinformationssystem ist bisher vor allem Symbolpolitik. Wirksame Maßnahmen würden den Ausschluss aller russischen Institute aus dem Korrespondenzbankensystem sowie Sekundärsanktionen gegen jene Banken vorsehen, die eine solche Isolierung des russischen Finanzsystems zu umgehen versuchen. Bisher nehmen die Sanktionen noch sehr viel Rücksicht auf unsere Exportwirtschaft, die Energieversorgung und den Finanzsektor.

Klar muss aus meiner Sicht zudem auch sein, dass die wirtschaftlichen Sanktionen mit einer eindeutigen Konditionalität versehen werden müssen: Sie enden automatisch, wenn die Kampfhandlungen eingestellt und die staatliche Souveränität der Ukraine wiederhergestellt sind. Eine Fortsetzung der Sanktionen mit dem Ziel einer dauerhaften Schwächung Russlands muss bereits jetzt unmissverständlich ausgeschlossen werden.

Erhöhung staatlicher Sicherheitsausgaben

Was machen wir Linken mit der Erhöhung des Bundeswehretats und dem 100 Milliarden-Sondervermögen? Es dürfte schwer werden, diese Festlegungen der Bundesregierung noch abzuwenden. Gleichzeitig sind sie für uns Linke kaum erträglich.

Zunächst sollte damit klar sein, dass die Schuldenbremse Vergangenheit ist. Es dürfte zwar kaum möglich sein, eine Mehrheit zu ihrer Löschung aus dem Grundgesetz zu mobilisieren, aber wenn sie ein weiteres Mal so offensichtlich durchlöchert wird wie im Falle des Sondervermögens, sollten wir darauf insistieren, dass das auch für andere Zwecke möglich sein muss. Dazu gehören insbesondere die gigantischen Herausforderungen, denen wir in den Bereichen der Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Pflege gegenüberstehen.

Weiterhin ist es essentiell, dass ein Sondervermögen zur Erhöhung der Sicherheit der Bundesrepublik – und natürlich auch die Erfüllung des 2-Prozent-Ziels – einem sehr breiten Sicherheitsbegriff folgen muss. Dazu gehören dann eben nicht nur Militärausgaben, sondern auch Ausgaben für Konfliktprävention und Entwicklungspolitik.

Dazu gehören insbesondere auch Ausgaben für in Deutschland und der EU produzierte regenerative Energien. Eine zentrale Erkenntnis aus den Diskussionen der letzten Wochen ist, dass kein anderer Faktor die Souveränität der Bundesrepublik so sehr bedroht wie die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen. Flüssiggasimporte aus dem arabischen Raum oder den USA helfen da nur bedingt. Umfangreiche Investitionen in regenerative Energien sollten daher im Sondervermögen eine zentrale Rolle spielen.

Zudem sollten Teile des Sondervermögens dazu verwendet werden, diejenigen sozialen Gruppen direkt zu unterstützen, die besonders unter unseren Wirtschaftssanktionen leiden, insbesondere durch absehbar höhere Energiepreise.

Aus meiner Sicht wäre es aber auch vertretbar, dass ein substantieller Teil dieses Sondervermögens in die Bundeswehr investiert wird, im Sinne eines einmaligen Umbaus von einer Interventionsarmee zu einer Verteidigungsarmee. Hier muss es also darum gehen, dass diese Investitionen nur dazu verwendet werden, dass die Bundeswehr wieder ihre Aufgabe in der Territorial- und Bündnisverteidigung wirksam wahrnehmen kann, wie das bis vor zwei Jahrzehnten üblich war. Im Gegenzug muss ihre Fähigkeit zu Interventionen außerhalb des NATO-Bündnisgebiets – also nach Afghanistan, Mali oder den Irak – vollständig abgebaut werden. 

Auch eine solche Forderung dürfte auf die Unterstützung einer breite Mehrheit in der deutschen Bevölkerung zählen dürfen. Fahrende Panzer, seegängige Schiffe und fliegende Flugzeuge sind ein legitimes Anliegen der Bundeswehr. Das Zeitalter der vorgeblich humanitären Interventionen muss aber endgültig vorbei sein.

Souveränitätsschonende Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik

In diesem Sinne würde ich auch dafür plädieren, eine grundlegend andere Ausrichtung unserer Außen- und Sicherheitspolitik zu kommunizieren. Letztere muss die Souveränität anderer Staaten uneingeschränkt respektieren. Ob China oder Russland demokratisch regiert werden, ist nicht unsere Angelegenheit. Wir sollten uns um unsere eigene Demokratie kümmern, die schon fragil genug ist.

Eine souveränitätsschonende Außen- und Sicherheitspolitik vermeidet militärische Konflikte mit Regimen, die nicht nach unserem Ebenbild organisiert sind. Sie erlaubt es uns gleichzeitig, mit diesen Staaten bei der Lösung der großen Menschheitsaufgaben problemorientiert zusammenzuarbeiten, insbesondere bei der Bekämpfung des Klimawandels.