Europa vor der Wahl

EU-Klimapolitik: Viel zu widersprüchlich

| 12. März 2024
IMAGO / ZUMA Wire

Nach langem Winterschlaf möchte die EU Vorreiter beim Klimaschutz sein. Doch Fortschritte sind eher auf den Einbruch der Wirtschaft als auf wirkungsvolle Klimapolitik zurückzuführen. Das stellt grüne Wachstumsstrategien in Frage.

Im Februar dieses Jahres präsentierte die EU- Kommission ein neues Zwischenziel ihrer Klimapolitik: Bis 2040 sollen in Europa 90 Prozent CO2 eingespart werden. Dieser Plan ist derzeit nur ein Vorschlag. Was daraus wird, entscheidet sich nach der EU-Wahl in der neuen Legislaturperiode.

Die EU-Staaten produzieren rund 8 Prozent der globalen CO2-Emissionen und liegen damit pro Kopf gerechnet 65 Prozent über dem internationalen Durchschnitt. Sie hätten also durchaus die Verpflichtung, beim Klimaschutz voranzugehen. Davon war allerdings bis vor Kurzem wenig zu sehen. Die meisten EU-Länder hinken den Erfordernissen weit hinterher.

Als Konsequenz aus dem Pariser Abkommen definierte die Europäische Union das Ziel, bis 2050 CO2-neutral zu werden. Bei einem einigermaßen gleichmäßigen Abbaupfad hätte sie bereits 2020 eine Reduzierung des Ausstoßes um rund 47 Prozent im Vergleich zum Ausgangsjahr 1990 realisieren müssen. Der tatsächliche Rückgang betrug aber – trotz Konjunktureinbruch – nur magere 32 Prozent und dürfte 2023 (nach derzeit noch etwas widersprüchlichen Daten) bei bestenfalls 34 Prozent liegen.  

Quelle: destatis.de und neuere Schätzungen.

Nun gibt es grob gesagt zwei Wege, CO2 zu reduzieren: Energieeinsparungen und die Abkehr von fossilen Brennstoffen.

Von einer ernstzunehmenden Energiewende war die EU bis 2019 allerdings weit entfernt. In den großen europäischen Staaten lagen die jeweiligen Anteile der „Erneuerbaren“ am gesamten Verbrauch deutlich unter 20 Prozent. Nur einige bevölkerungsmäßig kleinere Länder wie Portugal, Schweden oder Dänemark verzeichneten signifikant höhere Quoten. Erstaunlicherweise gehörten die Benelux-Länder zu den Schlusslichtern.

EU weicht Klimaschutzinstrumente auf

Nun ist es so, dass Umweltprogramme im nationalen Rahmen nur schlecht funktionieren, weil sich CO2 nicht an Ländergrenzen hält. Die EU hat deshalb durchaus eine zentrale Bedeutung bei der Formulierung und Koordinierung einer gemeinsamen europäischen Klimapolitik. Aber nicht nur die einzelnen Staaten, auch die EU selbst war lange Zeit beim Thema Umwelt und Klima eher schläfrig. Sie unternahm wenig, um eine gesamteuropäische Umweltpolitik voranzubringen. Erklärtermaßen will sie neuerdings eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz übernehmen.

In diesem Sinne propagiert Brüssel seit Ende 2019 einen „Green Deal“, der etwas unpräzise wahlweise als „Politikstrategie“ oder „Fahrplan für Nachhaltigkeit“ definiert wird. Mithilfe dieser Strategie soll Europa bis 2050 doch noch CO2-neutral werden.

Zur Konkretisierung des Green Deal hat die Kommission unter anderem das Programm „Fit for 55“ ausgearbeitet und darin genauere Unterziele formuliert, die für die EU-Mitgliedsländer bindend sein sollen. Das namensgebende Kernziel besteht darin, bis 2030 55 Prozent CO2 einzusparen.  Außerdem soll der Anteil der erneuerbaren Energien auf 42,5 Prozent am gesamten Energieverbrauch gesteigert werden.

Diese ambitionierten Ziele erfordern eine sofortige und drastische Erhöhung des bisherigen Einspartempos. Welche Instrumente stehen der EU hierfür zur Verfügung?

  • In ihrem Programm „NextGenerationEU“ stellt die Union Finanzierungen für ökologische Investitionen bereit. Hauptbestandteil ist eine „Recovery and Resilience Facility“ (RRF) im Umfang von 724 Milliarden Euro. Die Empfängerländer dieses „Wiederaufbaufonds“ sind verpflichtet, mindestens 37 Prozent der erhaltenen Mittel für umweltrelevante Projekte auszugeben, im Minimum also 268 Milliarden. Gefördert werden mit den Geldern aus Brüssel beispielsweise Elektromobilität, der Ausbau von erneuerbaren Energien, Gebäudesanierung und die Entwicklung von nachhaltigen Wasserstofftechnologien. Im Falle Italiens sind umfangreiche Investitionen in den Schienenverkehr geplant.
  • Im laufenden EU-Haushalt sollen ebenfalls Budgets gezielt für Klimainvestitionen verwendet werden. Die Kommission hat dafür 2020 einen „Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal“ verabschiedet.
  • Kommission und Parlament versuchen daneben auch Einzelmaßnahmen durchzusetzen, wie beispielsweise ein Ende des Verbrennungsmotors ab 2035 oder Vorgaben zur Reparierbarkeit von Produkten.
  • Zusätzlich wirft die EU die Gesetzgebungsmaschinerie an. Sie legt unter anderem ein neues „Klimagesetz“ und weitere Gesetzesnovellen vor. Damit sollen die Mitgliedsländer verpflichtet werden, die ihnen zugewiesenen Ziele tatsächlich zu verwirklichen.
  • Flankierend richtet Brüssel einen „Klimasozialfonds“ im Umfang von 65 Milliarden Euro (Eigenmittel) ein, der ab 2026 unter anderem einen „Ausgleich für schutzbedürftige Privathaushalte, Kleinstunternehmen und Verkehrsteilnehmer“ ermöglichen soll.
  • Das zentrale Instrument, neben den Versuchen eigene Mittel in bestimmte Investitionen zu lenken, sind aber die bekannten CO2-Zertifikate. Mit diesen Zertifikaten werden von den zuständigen Behörden Verschmutzungsrechte zugeteilt, teilweise auch verkauft. In bestimmten Branchen müssen Unternehmen, die CO2 emittieren, für ihre künftige Produktion entsprechende Zertifikate erwerben. Sparen sie CO2 ein, können sie übriggebliebene Tranchen gewinnbringend an speziellen Börsen weiterverkaufen. Realisieren sie keine CO2-Einsparungen, müssen sie eventuell Zertifikate zukaufen. Dieses System existiert seit 2005. Es wurde allerdings als weitgehend gescheitert kritisiert, weil es bisher wenig zur CO2-Minderung beigetragen hat. Die EU gab schlichtweg zu viele, meist auch kostenlose Verschmutzungsrechte aus, hat anschließend zu wenige vom Markt genommen und dadurch der Wirtschaft große Freiräume bei der CO2-Emission gegeben.

Brüssel kündigt nun an, diese Praxis zu ändern. Die EU will in Zukunft jährlich das Volumen der Zertifikate um 4 Prozent reduzieren. Damit soll, ausgehend vom Basisjahr 2005, die Gesamtmenge der Verschmutzungsrechte um 62 Prozent bis 2030 reduziert werden. Ursprünglich waren 43 Prozent geplant. Zusätzlich soll die Zertifizierung auf die Schifffahrt (ab 2024) und den Kraft- und Brennstoffhandel (ab 2027) ausgeweitet werden. Bei einer konsequenten Umsetzung könnten damit zumindest Teile der C02-Emissionen gedeckelt werden und die Preise für CO2-Emission steigen. Allerdings existieren etliche Ausnahmeregelungen und derzeit nach wie vor Zertifikat-Überschüsse.

Zusätzlich beeinflusst der Ukrainekrieg die Umweltpakete. In Reaktion auf ihn ist die EU weitere Schritte gegangen bzw. hat Änderungen an ihren Umweltschutzmaßnahmen vorgenommen. So wurde „NextGenerationEU“ Mitte 2022 um ein Programm namens REPowerEU ergänzt, das auch energiepolitische Maßnahmen unter Einschluss der Ukraine enthält (RepowerUkraine). So erhält die Klimapolitik eine geopolitische Wendung und fügt sich in den Russlandboykott ein.

Mit den REPower-Maßnahmen will die EU einerseits ihr 55-Prozent-Ziel vorantreiben. Mit REPower will die EU einerseits FiT for 55, und hier besonders den Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigen, hauptsächlich aber die fossilen Energielieferungen aus Russland bis 2027 auf Null bringen. Zu diesem Zweck ist vor allem beabsichtigt, so schnell wie möglich Flüssiggas aus verschiedensten Herkunftsländern zu beziehen und die notwendige Flüssiggasinfrastruktur aufzubauen.

Dafür sind Umplanungen und Umfinanzierungen in „Next Generation“ vorgesehen. Richtlinien zur Umweltverträglichkeit dürfen aufgeweicht und relativiert werden. In Anbetracht der mangelhaften Ökobilanz von Flüssiggas haben die REPower-Initiativen schädliche Umweltauswirkungen.

Was hat´s gebracht?

Fragt sich also, was all diese Projekte, Programme und Ankündigungen bewirkt haben. Tatsächlich gingen die Emissionen ab 2019 fühlbar zurück:

Quelle: eurostat

Nachdem von 2014 bis 2018 überhaupt kein CO2 reduziert wurde, schrumpfte der Ausstoß seitdem um annähernd 13 Prozentpunkte. In Summe hat die EU im Vergleich zu 1990 maximal 34 Prozent CO2 eingespart.

Allerdings ist das noch kein Grund zum Jubeln: Bei einem gleichmäßigen Abbaupfad bis zur Klimaneutralität 2050 müssten die Einsparungen inzwischen bei 52 Prozent liegen – bei Einhaltung der ohnehin nachhinkenden Fit-for-55-Vorgaben bei 45 Prozent. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass das Abbautempo der vergangenen Jahre aufrechterhalten werden kann.

Ähnlich unzulänglich sind die Ergebnisse beim Ausbau erneuerbarer Energien. Der Anteil der Regenerativen am Gesamtenergieverbrauch wuchs von rund 20 Prozent 2019 auf 23 Prozent im Jahr 2022. Das selbstgesetzte Ziel der EU für 2030 liegt allerdings bei 42,5 Prozent und wäre nur mit mehr als einer sofortigen Verdopplung des jährlichen Zuwachses zu erreichen – was utopisch erscheint. 

Daraus ergibt sich ein Einschätzungsproblem: Seit der Ankündigung des „Green Deal“ gibt es durchaus messbare Fortschritte. Inwieweit diese Erfolge allerdings durch Politik oder durch Desaster wie die Pandemie oder den Ukrainekrieg erzielt wurden, ist kaum auseinanderzuhalten. Ein Teil der Emissionsreduktion ist auf die tendenziell stagnierende Wirtschaft zurückzuführen. Das Auf und Ab der Emissionen zeigt, dass sie stark vom Wachstum abhängig sind: Den deutlichsten Rückgang gab es aufgrund des Einbruchs im Jahr 2020. Weitere Rückgänge lassen sich auf den Sparwinter 2022/23 zurückführen, in dem Erdgas als knappe Ressource ins Bewusstsein rückte.

Doch auch diese ökologischen Fortschritte bleiben hinter den Erfordernissen und den selbstgesteckten Zielen zurück. Um das 55-Prozent-Ziel für 2030 zu erreichen, müssten ab sofort jedes Jahr rund 3 Prozent CO2 eingespart werden. Ein eher unrealistisches Tempo, es sei denn, es gibt erneut tiefe Wachstumseinbrüche.

Die Wachstumsfrage

Generell ist die Klimapolitik der EU viel zu widersprüchlich, um ökologisch effektiv zu sein. Diese Widersprüche sind bereits in der Grundkonzeption der EU-Wirtschaftspolitik angelegt. Bei der Vorstellung des Green Deals 2019 erklärte Ursula von der Leyen: „Der europäische Grüne Deal ist unsere neue Wachstumsstrategie – für ein Wachstum, das uns mehr bringt als es uns kostet“.

Aber nun ist es eben so, dass Wachstum der Feind der CO2-Reduzierung ist. Wachstum und CO2-Emission lassen sich nicht ausreichend entkoppeln. Je höher das Wachstum, desto schwieriger die CO2- Reduktion. Trotzdem glaubt die EU fest an so etwas wie ein grünes Wachstum. Zu Unrecht.

Insgesamt kann eine ökologische Transformation bestehende Produktionsmuster nicht einfach weiter beibehalten und nur ein paar ökologische Investitionen oben draufsetzen. Sie muss die Produktionsstruktur ändern und umweltschädliche Produktgruppen zugunsten des Ausbaus von ökologisch günstigeren Gütern schrumpfen – nicht noch mehr Autos (egal ob Elektro oder Verbrenner) plus obendrein noch ein paar Züge, weniger Autos und stattdessen Züge und Trambahnen. Nicht immer mehr kurzlebige Elektronikgeräte, Smartphones und Alexas im Namen der Digitalisierung, sondern stattdessen Vorgaben für langlebige und recycelbare Produktdesigns und Investitionen in eine Kreislaufwirtschaft. Nicht noch mehr Neubau von Luxuswohnungen, Hotels und Bürogebäuden und die damit einhergehende energieaufwändige Zementproduktion, sondern stattdessen die Konzentration der ohnehin knappen Baukapazitäten in die Dämmung und Sanierung bestehender Wohngebäude und in den Ausbau von Solar- und Windenergie. 

Kurzum: Es wären entsprechende Mengensteuerungen und Investitionsvorgaben nötig, die Abkehr von Wachstumsorientierung und Standortwettbewerb sowie klare Schwerpunkte für Maßnahmen, die bis 2030 schnell wirken.  Statt aber den „Green Deal“ in diese Richtung weiterzuentwickeln, wurde vergangenen Sommer ein Rollback eingeleitet: Die Konservativen und Rechten im Europaparlament versuchen (vorerst erfolglos) ein Naturschutzgesetz zu kippen, Macron will eine Pause beim Klimaschutz einlegen, in Deutschland machen die Wirtschaftsliberalen und Konservativen seit „Habecks Heizungs-Hammer“ Stimmung gegen ökologische Reformen und in Italien empört sich Meloni über eine angebliche „Klimadiktatur“.

Zwar enthält die EU-Klimapolitik einige notwendige und wirkungsvolle Maßnahmen. Doch sollen die Widersprüche der EU-Umweltpolitik mit einem simplen „Wachstum first“ aufgelöst werden. Das aber sabotiert die dringend notwendigen Naturschutzkomponenten.