Ukraine-Krieg

Kann man mit Putin verhandeln?

| 15. März 2023

Jürgen Habermas plädiert für Verhandlungen, um den Ukraine-Krieg zu beenden. Doch würde sich Putin darauf einlassen? Ein Interview mit Naftali Bennett gibt einen tiefen Einblick in die Friedensverhandlungen nach den ersten Kriegswochen.

Gegen den völkerrechtswidrigen Überfall auf einen souveränen Staat hilft nur Gegengewalt. Aus diesem Grund ist die westliche Allianz nicht nur berechtigt, sondern sogar politisch dazu verpflichtet, der Ukraine mit allen ihr möglichen Mitteln beizustehen. Verhandlungen mit dem Aggressor sind nicht zu rechtfertigen. Russland darf nicht siegen.

Diese Auffassung bestimmt die aktuelle politische Diskussion in den westlichen Ländern. Gespräche über einen Waffenstillstand oder gar eine Friedensregelung seien zudem nicht möglich, da es auf keiner Seite die Bereitschaft dazu gäbe.

Derlei Erwägungen hielten den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett nicht davon ab, sich als Vermittler einzuschalten. Unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine führte er auf Bitte des ukrainischen Präsidenten Selenskij Gespräche mit beiden Kriegsparteien, wie er in einem Interview mit dem Journalisten Hanoch Daum berichtete.

Das fast fünfstündige Interview mit dem israelischen Politiker vom 4. Februar 2023 verdient mehr Aufmerksamkeit als es bisher in den Medien bekam. Es kann als historisches Dokument gelten, weil Bennett über 45 Minuten hinweg (2:19 – 3:04) erstmals sehr lebendige Einblicke in seine persönlichen Begegnungen mit dem russischen Präsidenten Putin, vor allem aber in die Verhandlungen gleich in den ersten Kriegswochen gewährt. Schon am zweiten Samstag nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine besuchte er als israelischer Ministerpräsident heimlich (2:49:32) Moskau, um in den Waffenstillstandsverhandlungen zu vermitteln, die in Belarus begonnen hatten, und später in Istanbul fortgesetzt wurden.

Das geschah nicht ohne Eigeninteresse, denn angesichts des Krieges war der Staat Israel in eine Zwickmühle geraten: Einerseits stand er unter erheblichem Druck, sich eindeutig auf die Seite des Westens zu stellen und sogar Waffen in die Ukraine zu liefern. Andererseits gibt es viele Gründe für Israel, ein gutes Verhältnis zu Russland aufrechtzuerhalten, und die Spannungen im Syrienkonflikt, wo die Staaten sich auf gegnerischen Seiten befinden, nicht noch zu verschärfen. „Wenn ich von zwei Seiten unter Druck gesetzt werde, dann verfolge ich eine dritte Strategie, die darin besteht, mit beiden Seiten Kontakt aufzunehmen und zu versuchen, zu vermitteln,“ erklärte Bennett.(2:31:22)[1]

Er habe also Putin angerufen, und ihm zunächst die israelische Haltung im Ukraine-Krieg mitgeteilt: keine Waffenlieferungen, dafür aber humanitäre Hilfe in Form eines Feld-Hospitals in Lwow. Putin sei damit einverstanden gewesen. Sodann habe er – Bennett – sich als Vermittler angeboten, und diese Rolle sei sowohl von Putin als auch von westlicher Seite akzeptiert worden.

„Ich wusste, dass das Vertrauen, das ich zu Putin aufgebaut hatte, ein seltenes Gut war. Amerika wusste damals nicht, wie man kommuniziert, und weiß es auch heute nicht.“

Bennett hatte Putin schon zwei Monate vor Kriegsantritt besucht. Nach den gemachten Erfahrungen konnte er nicht selbstverständlich von Putins Verhandlungsbereitschaft ausgehen. Putin sei sehr “zuvorkommend und gastfreundlich“ gewesen und habe ihn sogar in sein Privathaus in Sotschi gebeten, obwohl der russische Präsident nach eigener Aussage eigentlich „nie jemanden dorthin einlade“. Während ihres langen Gesprächs sei Putin der „freundlichste Mensch“ gewesen. Doch als Bennett ihm nach fünfeinhalb Stunden von Selenskijs Wunsch berichtet habe, ein Gespräch mit ihm zu vermitteln, wurde plötzlich sein „Blick kalt“. „Das sind Nazis, das sind Kriegstreiber, ich werde mich nicht mit ihm treffen“, habe er geantwortet. Diese heftige Reaktion habe ihn überrascht, berichtet der israelische Politiker, gesteht aber zu, dass die Ukraine im Zweiten Weltkrieg „definitiv ein Komplize gewesen sei.“(2:26:10)[2]

Trotz dieser Vorbehalte habe Putin schon im Vorfeld des vereinbarten Treffens in Moskau am Telefon geäußert: „Wir können einen Waffenstillstand erreichen.“ (2:38:30) Und im persönlichen Gespräch habe er bereits am zehnten Kriegstag „zwei große Zugeständnisse“ (2:40:42) gemacht. Erstens habe er ausdrücklich versichert „Ich werde Selenskij nicht töten“ und somit auf das Ziel Entnazifizierung verzichtet. Das war für den ukrainischen Präsidenten eine große Entlastung, der sich nach dem russischen Einmarsch in einem geheimen Bunker aufgehalten und um sein Leben gefürchtet habe. Er und alle Welt hätten das russische Kriegsziel „Entnazifizierung“ als Ablösung der ukrainischen Regierung verbunden mit der Tötung Selenskijs interpretiert. Putins zweites Zugeständnis zu diesem Zeitpunkt sei gewesen, nicht die vollständige Demilitarisierung der Ukraine zu verlangen.

Gleichzeitig verzichtete Selenskij auf den Beitritt der Ukraine zur NATO. Wie Bennett kommentiert, war dies ein „riesiges Entgegenkommen. Der Krieg brach wegen der Forderung des NATO-Beitritts aus und Selenskij sagte ‚ich verzichte‘“(2:42:48). Dass der geplante NATO-Beitritt der Ukraine der wichtigste Kriegsgrund gewesen sei, betont Bennett im Interview auch an anderer Stelle:

„Ich ging sehr optimistisch nach Hause, weil er [Selenskij] auf den Beitritt zur NATO verzichtete, der der Grund für die Invasion war. Putin sagte: ‚Sagt mir, dass ihr der NATO nicht beitretet. Ich werde nicht einmarschieren.‘ Er verzichtete auf seine Forderungen [Entnazifizierung und Demilitarisierung].“ (2:53:57)

Bennett gibt zu bedenken, dass man „sehr vorsichtig“ sein müsse, und „jemand immer etwas vortäuschen kann“. Zugleich betont er, dass er während der Gespräche den Eindruck gewonnen habe, dass Putin nicht „darauf versessen“ sei, „um jeden Preis zu kämpfen.“ Putin „hat Ziele, die er erreichen will.“ Bennetts Wahrnehmung nach seien beide Seiten sehr an einem Waffenstillstand interessiert gewesen. (2:53:06)

„Jeder Politiker hat Interessen. Du bist nicht einer Meinung mit ihnen, du verstehst sie.“

Auf die Rolle als Vermittler habe er sich intensiv durch Lektüre und Konsultationen vorbereitet, berichtet Bennett. „Die politisch Verantwortlichen müssen verstehen, dass du sie verstehst,“ betont er. Jeder Politiker habe Interessen. „Du bist nicht einer Meinung mit ihnen, du verstehst sie.“

Hinsichtlich des Ukraine-Krieges gäbe es zwei sehr unterschiedliche Narrative, die er nicht beurteilen wolle, sondern lediglich zur Kenntnis nähme: Der Westen und Selenskij sähen Putin „als Imperialisten, der immer mehr Gebiete erobern wolle“ und „ins Baltikum und nach Polen weiterziehen würde, wenn man ihn nicht rechtzeitig aufhalte.“ Für Putin jedoch sei die Absicht, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, der Bruch „der nach dem Berliner Mauerfall getroffenen Absprache mit der NATO, diese nicht auszudehnen und die Länder, die einen Gürtel um Russland bildeten, nicht anzutasten.“ (2:34:20). Das Problem läge aber „noch viel tiefer:“ Wie die Amerikaner gemäß ihrer „Jahrhunderte alten Monroe Doktrin die Hegemonie über die westliche Hemisphäre“ beanspruchten, so betrachte Putin die Ukraine als seinen „Hinterhof.“ (2:35:24)

Gefragt, ob Putin sich „messianisch“ verhalten habe, antwortete der ehemalige israelische Ministerpräsident:

„Er war sehr pragmatisch, genau wie Selenskij." „(...) er verstand Selenskijs politische Zwänge vollkommen.“ (2:46:53)

So waren die Voraussetzungen für die weiteren Verhandlungen geschaffen, die zunächst in Weißrussland und später in Istanbul stattfanden. Dabei habe man sich auf einem guten Weg befunden.

Es sei vor allem noch um zwei Themenbereiche gegangen: Der schwierigste Verhandlungskomplex betraf die Zukunft der Territorien Donbass und Krim sowie den Korridor, der sich nach dem Fall von Mariupol herauszubilden begann. (2:43:09).

Das zweite Thema seien die Sicherheitsgarantien für die Ukraine gewesen. Selenskij habe weitgehende Sicherheitsgarantien durch Amerika, Frankreich und weitere Länder erwartet. Bennett war der Auffassung, dass jede Art von Pakt mit dem Westen von Russland als Sicherheitsbedrohung wahrgenommen werde. Zudem sei nach dem Afghanistan-Desaster kein Verlass auf die Vereinigten Staaten. Und Russland wolle ja die Ukraine gar nicht haben. Dass sei der „kognitive Durchbruch“ gewesen, „den beide Seiten akzeptierten“, und man habe nun konkret über notwendige und akzeptable Waffensysteme in einer neutralen Ukraine verhandelt. (2:43:32)

Auch für die territorialen Fragen habe er Lösungen gesehen, wolle jedoch im Interview darauf nicht näher eingehen, berichtete der israelische Politiker. „Sie beziehen sich in erster Linie darauf, den Streit um 99 Jahre zu verschieben.“ (2:45:46)

„Alles, was ich tat, war bis ins Detail mit den USA, Deutschland und Frankreich abgestimmt.“

Bei den Verhandlungen legte Bennett großen Wert auf Transparenz, er habe während des gesamten Prozesses im ständigen Austausch mit den westlichen Bündnispartnern gestanden. Bundeskanzler Scholz sei sehr besorgt wegen der deutschen Energieversorgung gewesen. Insgesamt könne man das Spektrum der westlichen Führungspolitiker nach dem Grad ihrer Härte im „Kampf gegen Putin“ aufteilen, von „Wir dürfen die Bösewichte nicht belohnen“ bis „Vergesst den Krieg, alle verlieren“, wie es der Journalist Hanoch Daum ausdrückt. (2:56:51) „Boris Johnson vertrat die aggressive Linie. Macron und Scholz waren eher pragmatisch und Biden war beides.“

„Ich behaupte, dass es eine gute Chance gab, einen Waffenstillstand zu erreichen, hätten sie es nicht verhindert.“

Der vielversprechende Verhandlungsweg wurde jedoch seitens der Ukraine unvermittelt abgebrochen. Das habe ihn angesichts der zu erwartenden schweren Kriegsfolgen für die Ukraine und die Welt enttäuscht, so der ehemalige israelische Ministerpräsident. Der Grund für den Abbruch bezieht er auf den Westen, dem er sich politisch unterordnet:

„Wenn es um Israel geht, bleibe ich standhaft. (…) Hier habe ich kein Mitspracherecht. Ich bin nur der Vermittler, aber ich wende mich in dieser Hinsicht an Amerika, ich mache nicht, was ich will. Alles, was ich tue, ist bis ins Detail mit den USA, Deutschland und Frankreich abgestimmt.“ – „Sie haben die Verhandlungen blockiert?“ – „Im Grunde genommen ja. Sie blockierten sie und ich dachte, sie hätten damit unrecht.“ (3:00:32)

An späterer Stelle bekräftigt er dies:

"Ich behaupte, dass es eine gute Chance gab, um einen Waffenstillstand zu erreichen, wenn sie [der Westen] es nicht verhindert hätten. Aber ich bin nicht sicher." (3:02:04)

Zu der Bewertung der westlichen Haltung gibt Bennett zu bedenken, dass der Krieg zwar schreckliche Folgen für die Ukraine, Europa und die Welt hätte, dass aber Staatsführung eine sehr „komplexe Angelegenheit“ sei, und dass es für den Westen und sogar Israel gute Gründe für diese Entscheidung geben könnte.

„Vielleicht hätte es bedeutet, den Verbrecher zu schnell zu belohnen. Vielleicht hätte es die falsche Botschaft an andere Länder vermittelt. (…) Ich möchte nicht zynisch wirken () aber Präsident Biden hat nach vielen Jahren eine Allianz gegen einen Aggressor gebildet, das ist die allgemeine Wahrnehmung, und das wirkt sich auf andere Arenen, wie zum Beispiel China und Taiwan aus, und das hat Konsequenzen.“ (3:01:50)

Dass der Krieg für den Westen also eine Bedeutung hat, die weit über den lokalen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hinausgeht, war Bennett zufolge ein Grund für die Ablehnung eines Waffenstillstandes.

Es sind „moralische Gründe, die auf die Beendigung des Krieges drängen“ (Habermas)

Im Gegensatz dazu wurden nicht nur in Deutschland Stimmen laut, die sofortige Verhandlungen fordern – nicht nur wegen der Folgen für die Ukraine, sondern auch für den Westen selbst. Es greife jedoch zu kurz, die Diskussionen darüber auf den Gegensatz zwischen Moral und Selbstinteresse zu reduzieren. Vielmehr seien es gerade „moralische Gründe, die auf die Beendigung des Krieges drängen,“ schreibt zum Beispiel Jürgen Habermas.[3] Auch der Westen, der „der Ukraine die Fortsetzung des Kampfes gegen den kriminellen Aggressor ermögliche,“ dürfe „weder die Zahl der Opfer, noch das Ausmaß der tatsächlichen und potentiellen Zerstörungen vergessen, die für das legitime Ziel schweren Herzens in Kauf genommen werden.“ Deswegen sei „die gebotene Alternative die Suche nach erträglichen Kompromissen,“ wenn der Ausbruch von bewaffneten Konflikten schon nicht durch, auch für „die Verteidiger des internationalen Rechts selbst schmerzhafte Sanktionen“ habe verhindert werden können.

Gerade wegen der weltweiten geopolitischen und ökonomischen Implikationen des Krieges – die im März 2022 aus Sicht der USA und Großbritanniens laut Bennett allerdings für eine Fortsetzung des Krieges sprachen – sieht Habermas heute Chancen für Waffenstillstandsgespräche. Denjenigen, die sich zurzeit vorbehaltlos mit den Forderungen der ukrainischen Regierung nach „schwellenlos anwachsender militärischer Unterstützung, um Russland zu besiegen“, identifizierten, hält er entgegen, dass es nicht um den Sieg über Russland, sondern darum ginge, dass „die Ukraine nicht verlieren“ dürfe.

Die Charta der Vereinten Nationen erlaube die Anwendung von Waffengewalt nur im „gemeinsamen Interesse“ der Völkergemeinschaft, und die in Artikel VII der UN-Charta erwähnten Maßnahmen gegen Angriffshandlungen richteten sich letztendlich „gegen den Krieg als solchen.“ In der heutigen Situation gelte es nun, durch rechtzeitige Verhandlungen einen noch längeren Krieg und dessen weitere Eskalation zu verhindern.

Ist ein Waffenstillstand aussichtsreich? Das Interview mit Bennett zeigt, dass der drohende Beitritt der Ukraine zur NATO als Kriegsgrund ernst genommen werden muss. Wenn nicht imperialistische Ziele, sondern russische Sicherheitsinteressen entscheidend sind, scheint eine Einigung leichter erreichbar. Bennets Darstellung legt nahe, dass die russische Führung zu Kriegsbeginn Verhandlungen anstrebte und dafür zu Zugeständnissen bereit war.

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[1]Alle Zitate aus dem hebräisch geführten Interview wurden von den Verfassern aus den englischen Untertiteln übersetzt.
[2]Präsident Putins Reaktion ist ohne Frage mit der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs verbunden. Bennett erklärt: „Der große Vaterländische Krieg […] ist das Herzstück des russischen Ethos, besonders für Putin.“ Durch den deutschen Vernichtungskrieg kamen 27 Millionen Sowjetbürger um, unter ihnen Putins Bruder, Großmutter und zwei Onkel.
Bereits unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion entstand in der Ukraine ein Personenkult um Mitglieder der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN), insbesondere Stepan Bandera, aber auch Roman Schuchewytsch, der an „Säuberungen“ in der Westukraine beteiligt war. Beide hatten mit der deutschen Wehrmacht zusammengearbeitet und trugen die Mitschuld an der Ermordung von Juden und Polen. Es wurden Denkmäler errichtet und Straßen nach ihnen benannt. Eine Kiewer Hauptstraße, die vorher zu Ehren des Befreiers von Kiew der roten Armee, benannt war, trägt heute den Namen des OUN-Mitglieds Schuchewytsch. Bandera und Schuchewytsch wurden von Präsident Juschtschenko mit der höchsten Auszeichnung des Staates „Held der Ukraine“ geehrt.
[3]Jürgen Habermas: Ein Plädoyer für Verhandlungen, Süddeutsche Zeitung, 15.2.2023