Zinspolitik der EZB

Die überforderten Technokraten

| 14. März 2023

Die EZB soll die Inflation in den Griff bekommen, doch ihr fehlen die Werkzeuge. Eine Leseprobe aus „TEUER“ von Maurice Höfgen.

Als Bundesbankpräsident Joachim Nagel im Herbst 2022 seine Rede an der Eliteuniversität Havard hält, ist er überzeugt: die Technokraten aus dem EZB-Tower im Frankfurter Bankenviertel können die hohen Inflationsraten in den Griff bekommen. „Verglichen mit der Phase hoher Inflationsraten in den 1970er-Jahren sind die Zentralbanken heutzutage in zweierlei Hinsicht im Vorteil“, leitet der Bundesbankpräsident ein, der für die Bundesbank mit Stimmrecht im Entscheidungsgremium der EZB sitzt. „Zum einen wird die Unabhängigkeit der Zentralbanken heute stärker respektiert, als es in den Siebzigerjahren der Fall war. Darüber hinaus wird dem Ziel der Gewährleistung von Preisstabilität eine größere Bedeutung beigemessen.“

Wie wertvoll die Unabhängigkeit sei, zeige sich besonders in schwierigen Zeiten, so Nagel. Weiter erklärt er:

„Zum anderen haben die Notenbanken in ihrem Bekenntnis zur Gewährleistung von Preisstabilität an Glaubwürdigkeit gewonnen. Wir blicken auf eine lange Zeit niedriger oder moderater Inflationsraten zurück. Das hat den Zentralbanken Ansehen verschafft.“

Glaubwürdigkeit und Ansehen zahlten sich in Form von Vertrauen in die Zentralbank aus, stellt der Bundesbankpräsident fest. Und ergänzt:

„Und Vertrauen ist ganz besonders wichtig, denn es trägt dazu bei, die mittel- bis langfristigen Inflationserwartungen zu verankern.“

Was Nagel im typischen Zentralbanker-Sprech vorträgt, sind Scheinargumente. Sie sollen Eindruck machen, halten aber schon dem kleinsten Gegenwind nicht stand. Selbst im Kreise der Zentralbanker ist man verzweifelt, weil eigentlich jeder weiß, woher die hohen Preise kommen: vom Energiepreisschock.

Dort, wo der Bürotower der EZB steht, gibt es weder Gasfelder noch Ölquellen noch Windkraftanlagen. Gegen Gasmangel kann die EZB wenig ausrichten. Sie kann nur den Zins verändern und Anleihen handeln, viel mehr nicht. Im Waffenarsenal der EZB ist viel Staub, viel Platz, aber wenig Gerät. Und schon gar kein Präzisionswerkzeug. Höhere Zinsen auf die Wirtschaft abzufeuern oder sich vom Anleihemarkt zurückzuziehen, bringt unweigerlich große Kollateralschäden mit sich. Doch die EZB scheint bereit, diese in Kauf zu nehmen.

Die Verzweiflung ist wahrlich nicht neu. Seit 2010 versucht die EZB alles, aber wirklich alles, um die Wirtschaft in Gang zu bringen und die Inflationsrate auf das Ziel von 2 Prozent zu befördern. Den Leitzins senkte sie bis auf null, für Einlagen berechnete sie den Banken sogar Minuszinsen von 0,5 Prozent und kaufte Staatsanleihen in Billionenhöhe. Mehr Handhabe hatte sie nicht. Das war das „all in“ der EZB – und trotzdem zu wenig. Die Zielinflationsrate wurde zwischen 2010 und 2020 quasi permanent unterschritten, die Sorge vor der Deflation war groß.

Wenn Nagel also in der Rede sagt: „Wir blicken auf eine lange Zeit niedriger oder moderater Inflationsraten zurück. Das hat den Zentralbanken Ansehen verschafft“, dann mag vielleicht das für den langen Zeitraum seit der Ölpreiskrise gelten, nicht aber für die jüngere Vergangenheit der EZB. Vielmehr hat sie versagt – vor aller Weltöffentlichkeit. Ansehen kann sich die EZB selbst erst seit ihrer Gründung im Juni 1998 verdienen. Man darf also die Stirn in Falten legen, wenn man Nagels Zeilen liest. Erst recht, weil die Bundesbank sich in den Siebzigern mit ihrem naiven Monetarismus-Experiment blamiert hat.

Das EZB-Versagen nach der Eurokrise ist längst nicht aufgearbeitet

Das EZB-Versagen nach der Eurokrise ist in Frankfurt längst nicht aufgearbeitet. Jahr für Jahr prognostizierten die Zentralbanker, dass die Inflationsrate bald steigen würde. Jahr für Jahr hat die Wirklichkeit die Prognose ins Altpapier gefördert, wie die nachfolgende Grafik zeigt. Zu sehen ist die tatsächliche Inflationsrate in der durchgezogenen Linie und die von den EZB-Ökonomen prognostizierte Inflationsentwicklung in den gestrichelten Linien. Die EZB-Ökonomen prognostizierten Jahr für Jahr, dass die Inflationsrate in den kommenden Jahren in Richtung 2 Prozent ansteigen wird (gestrichelt), lagen aber immer wieder daneben. Die tatsächliche Inflationsrate (schwarz) verlief anders als die Prognosen. Als würden Wetterforscher jahrelang Regen ankündigen, aber stattdessen konstant staubtrockene Dürre herrscht.

Dabei trägt die EZB noch nicht einmal Schuld an ihrem Dilemma. Sie hätte der Öffentlichkeit erklären können, dass sie an ihre Grenzen stößt. Dass sie überfordert ist. Nur weil Geld billig ist, rennen die Firmen nicht die Bankfilialen ein, um Kredite für Investitionen zu bekommen. Solange wirtschaftlich Flaute herrscht, gehen auch die Unternehmer nicht ins Risiko – und Flaute herrschte seit der Eurokrise. Allein Deutschlands Exportboom verschaffte etwas Wachstum, doch in der deutschen Binnenwirtschaft war die Luft raus. Griechenland, Spanien, Frankreich und Italien litten gar unter einer Dauerkrise, mit Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung.

Ex-EZB-Präsident Mario Draghi, der bis 2022 noch Regierungschef in Italien war, versuchte es hier und da ganz vorsichtig. Das letzte Mal bei seiner Abschiedsveranstaltung, als er sagte: „Geldpolitik kann immer noch ihre Ziele erreichen, aber es ginge schneller und mit weniger Nebeneffekten, wenn sie dabei gleichgerichtet von Fiskalpolitik flankiert würde.“ Das heißt: Liebe Finanzminister, hört auf mit eurer Sparpolitik und schiebt endlich mal die Konjunktur an – sonst wird das nichts mit 2 Prozent Inflation. Sein Appell ging vor allem nach Deutschland, wo die Löhne schwach und die Finanzminister (erst Schäuble, dann Scholz) besonders geizig waren. In die gleiche Kerbe wie Draghi schlug auch sein japanischer Kollege Kikuo Iwata, ehemaliger Vizepräsident der japanischen Zentralbank. Die versuchte sich schon viel länger daran, mit Nullzinspolitik für ein Inflationsplus zu sorgen – war aber ebenso gescheitert. In Iwatas Worten:

„Die Bank of Japan (BOJ) wird die Inflationsrate von 2 Prozent mit ihrer gegenwärtigen Politik nicht erreichen. Die BOJ selbst muss aber gar nicht viel an ihrer Politik ändern. Was sich ändern muss, ist die Fiskalpolitik. […] Geld und Fiskalpolitik müssen gemeinsam arbeiten, damit mehr Geld für fiskalische Zwecke ausgegeben wird. Das ist die letzte verbleibende wirtschaftspolitische Option.“

Die Feststellung, dass die EZB versagt hat, ist also nicht einmal ein Vorwurf an sie selbst. Sondern viel mehr daran, dass Politik und Ökonomen nicht darüber reden, welche Schlussfolgerungen zu ziehen sind – und stattdessen jetzt schon wieder Unmögliches von der EZB verlangen.

Krieg, Sanktionen, Pandemie: Was soll die EZB dagegen unternehmen?

Je höher die Inflationsrate zuletzt stieg, desto größer wurde der Druck. Auch im deutschen Bundestag. Die rechte Seite des Parlaments – von AfD über die Union bis zur FDP – warf der EZB Woche für Woche vor, die Inflationsrisiken erst unterschätzt zu haben und jetzt zu spät zu handeln. Komischerweise kam von gleicher Seite nie auch nur eine Beschwerde, dass die EZB die inflationäre Wirkung ihrer Politik jahrelang offensichtlich überschätzt hatte.

Bemerkenswert war zum Beispiel eine Bundestagsrede am 12. Mai 2022 von Markus Herbrand, finanzpolitischer Sprecher der FDP. Die Ursachen der hohen Inflationsrate könne „nur die Geldpolitik, also die Zentralbank, bekämpfen“, so Herbrand unmissverständlich. Man reibt sich die Augen und fragt sich: Krieg? Sanktionen? Pandemie? Strommarktdesign? Was genau soll die EZB dagegen unternehmen?

Herbrand ging sogar noch weiter. In einer ähnlichen Rede rund einen Monat später verwies er wieder auf die EZB, die allein für stabile Preise verantwortlich sei. „Der Bundestag kann und darf sich nur auf Maßnahmen der Abfederung der Auswirkungen einer solchen Inflation beschränken“, warnt der FDP-Abgeordnete. Wer aber, wenn nicht der Bundestag, soll denn Maßnahmen beschließen, die zu mehr günstiger Energie, sicheren Lieferketten oder einem anderen Strommarktdesign führen?

Das war aber noch lange nicht die schrägste Aussage aus dem Parlament. Die Abgeordneten Frank Schäffler (FDP) und Kay Gottschalk (AfD) sind bekannt als brennende Monetaristen. Sie forderten sogar den Rücktritt der EZB-Präsidentin Christine Lagarde, schließlich sei sie an der Preismisere schuld. Moment! Waren es nicht immer die Wirtschaftsliberalen, die die politische Unabhängigkeit der EZB hochgehängt hatten? Wie passen solche Rücktrittsforderungen dazu?

Offenbar gilt die Unabhängigkeit bei Wirtschaftsliberalen nur, wenn es einem politisch gerade selbst in den Kram passt. Und selbst der Finanzminister schlug entgegen den eigenen Überzeugungen über die Stränge und verlangte im Sommer mehrmals, die EZB solle endlich die Zinsen erhöhen. Lindner ist im Gegensatz zu den stümperhaft wirkenden Schäffler und Gottschalk ein begnadeter Redner und Meister der Diplomatie. Bei Lindner klingt die Forderung dann so:

„Ich hab es mal für mich nach meiner Überzeugung auf den Punkt gebracht mit dem Satz: Die Notenbanken sind sehr, sehr, sehr, sehr unabhängig. Aber sie haben auch eine sehr, sehr, sehr große Verantwortung in dieser Zeit.“

So gefallen sind diese Worte bei Lindners Abschlusserklärung nach dem Ende des G7-Gipfels im Frühjahr 2022. Ein Novum. Und ein starkes Stück. Gleichwohl so verpackt, und mit einem selbstironischen Lächeln im Gesicht, dass keiner ihm einen Strick daraus drehte. Lindner eben!

Und tatsächlich lieferte die EZB dann auch, was Lindner forderte. Straffe Zinserhöhungen. Eine nach der anderen. Und sogar im Rekordtempo: Nie zuvor hob die EZB den Zins um mehr als 0,25 Prozentpunkte an. In dieser Krise waren es gleich mehrmals größere Zinsschritte.

Übrigens: Merken Sie sich den Satz von Christian Lindner, denn einige Monate später beklagte er laut, wie sehr doch die steigenden Zinsen seinen Bundeshaushalt belasteten. Na, wer hätte das ahnen können?

Bastapolitik statt Erklärungen

Wie genau die schnellen Zinserhöhungen Öl, Kohle, Gas, Strom und Lebensmittel wieder billiger werden lassen sollen, wissen weder die EZB noch die Politiker und Ökonomen so recht, die monatelang laut nach ihnen schrien. Schon gar nicht in Anbetracht der Tatsache, dass es nur einen einzigen Zins für alle Euroländer gibt, die wirtschaftliche Lage von Deutschland, Italien und Griechenland aber seit Jahren völlig unterschiedlich ist.

Auch scheint die Unterscheidung zwischen Preisschock und wirklicher Inflation nicht gemacht zu werden. Hohe Preise bekämpfe man pauschal mit hohen Zinsen, so das scheinbar allgemeingültige Dogma. In der zitierten Rede geht Bundesbankpräsident Nagel sogar kurz darauf ein, dass ihn vereinzelt auch skeptische Stimmen aus der Politik erreichen, was die Zinserhöhungen angeht. Von welcher Seite, verrät er nicht. Vielleicht von einigen progressiven Ökonomen. Oder von den Zentralbankern aus Südeuropa, denen die Zinsen im Staatshaushalt die Luft abschnüren.

Doch statt inhaltliche Argumente zu liefern oder nachvollziehbar abzuwägen, sagt Nagel in seiner Rede nur, dass er sich ein Beispiel an Wim Duisenberg nimmt, dem ersten Präsidenten der EZB. Nagel zitierte, was Duisenberg zu politischen Rufen nach Zinssenkungen sagte:

„Ich höre sie, aber ich höre nicht auf sie.“

Und wenn die Zentralbanker doch in die Position kommen, sich rechtfertigen zu müssen, verweisen sie stets auf drei mögliche Wirkungskanäle, über die Zinssenkungen die Inflationsrate beeinflussen sollen: weniger Nachfrage, geringere Inflationserwartungen oder ein höherer Wechselkurs. Alle drei Kanäle haben allerdings ihre Tücken – insbesondere, weil die Diagnose „Preisschock“ und nicht „Lohn-Preis-Spirale“ lautet.

Dies ist eine leicht angepasste Leseprobe aus dem neuen Buch von Maurice Höfgen „TEUER: Die Wahrheit über Inflation, ihre Profiteure und das Versagen der Politik“, das am 16. März im DTV-Verlag erscheint.