Die abgestandenen Rezepte zur Sanierung der Krankenkassen
Abgestandene Vorschläge sollen die großen finanziellen Probleme der Krankenkassen beheben. An den Mängeln des Gesundheitssystems ändern sie wenig. Helfen würde ein mehrstufiges Reformkonzept, das eine vertrauensvolle Kooperation des Bundes und der Länder erfordert.
Die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) laufen aus dem Ruder. Obwohl die Krankenkassen ihre Zusatzbeiträge erst zum Jahresanfang um durchschnittlich 0,8 Prozentpunkte angehoben haben, zeichnen sich bereits jetzt für 2025 große Ausgabensteigerungen an, die trotz einer eher günstigen Entwicklung der Beitragseinnahmen die GKV ins Defizit treiben. Dieser Sachverhalt wird von notorischen Wichtigtuern genutzt, sich mit abgestandenen Forderungen zu Wort zu melden – wobei nicht ihr Mitteilungsdrang das Problem ist, sondern die Bereitschaft der Medien, ihnen ein Forum zu geben.
Sinnlos: Selbstbeteiligungen und Karenztage
So brachte die Berliner Zeitung am 16. März 2025 ein großes Interview mit Ralf Hermes, der als Vorstand der kleinen IKK Innovation (270.000 Mitglieder) in der gesundheitspolitischen Szene nur als Irrlicht bekannt ist. Er fordert die Wiedereinführung der Praxisgebühr von 10 Euro pro Arztkontakt und eine Anhebung der Zuzahlungen bei Arzneimitteln auf maximal 20 Euro. Ähnliche substanzlose Vorschläge machte der Ökonom Bernd Raffelhüschen in der BILD-Zeitung.
Die 2004 auf Druck der Union und ihres gesundheitspolitischen Sprechers Jens Spahn eingeführte Praxisgebühr für Arztbesuche wurde von ihrem Schöpfer selbst zehn Jahre später als Gesundheitsminister wieder abgeschafft, weil der damit verbundene bürokratische Aufwand der Arztpraxen größer war als die Einspareffekte der Krankenkassen.
Trotzdem preist die Frankfurter Allgemeine (FAZ) die Selbstbeteiligung der Versicherten an den Krankheitskosten als effektives Instrument zur Steuerung der Gesundheitsausgaben an: „Besser Karenztage als Vollkaskostaat“ fordert ihre Wirtschaftsredaktion (FAZ, 21. Januar 2025). Allerdings macht sie eine Einschränkung. Wer, wie der Allianz-Chef Oliver Bäte, die Einführung von Karenztagen, also das Aussetzen der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, fordere, gerate in „Erklärungsnot“. Messbare Effekte dieses Instrument „ließen auf sich warten“. Außerdem würde sich damit am „Blaumachen“ wenig ändern, weil die Gewerkschaften mit Sicherheit die Lohnfortzahlung tarifvertraglich verankern würden. Die Einführung von Karenztagen sei zwar „ein Einstieg in eine neue Sozialpolitik der Eigenverantwortung – aber einer mit Netz und doppeltem Boden.“
Allerdings stünde es den Tarif- und Arbeitsvertragsparteien frei, Karenztage als Wahlleistung und „eine Art Selbstbeteiligung in den Arbeitsvertrag aufzunehmen.“ Schließlich sei die Wahl zwischen Voll- und Teilkaskoversicherungen in anderen Bereichen wie der Kfz-Versicherung „ganz normal“. Deshalb solle die Wahl zwischen voller Lohnfortzahlung und Karenztagen eingeführt werden, „wenn der Arbeitgeber dafür den Lohn erhöht“.
Es ist immer wieder frappierend, mit welcher Weltfremdheit die FAZ-Wirtschaftsredaktion ihre ordnungspolitischen Glaubenssätze verbreitet. Die Gewerkschaften werden über eine solche Idee noch nicht einmal reden wollen, weil die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu ihren unantastbaren Maximen gehört.[1] Auch die Arbeitgeber werden sich mit einer solchen Aufspaltung der Belegschaft keinen Gefallen tun, zumal auch hier der damit verbundene Verwaltungsaufwand höher sein dürfte als die dadurch erzielten Einsparungen.
Die immer wieder ausgegrabenen Vorschläge, die Gesundheitsausgaben über eine Verlagerung der Kosten in die Privathaushalte in den Griff zu bekommen, scheitern am grundlegenden Gesetz der Gesundheitsökonomik: dass es im Gesundheitswesen keine Konsumentensouveränität gibt und deshalb Marktversagen herrscht. Das hat schon vor sechzig Jahren Kenneth Arrow festgestellt, einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts und Begründer der Public Choice-Lehre.
Die Vorstellung, man könne die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen über finanzielle Anreize für Krankenversicherte effektiv steuern, hat keine belastbare Grundlage. Dadurch wird nur mehr Geld ins Gesundheitssystem gepumpt, das damit nicht besser, sondern nur teurer wird, wie die dazu vorliegenden Untersuchungen zeigen.
Sozialbremse: Plumpe Tricks
Maßgebliche Politiker und Ökonomen wollen die Sozialabgaben auf maximal 40 Prozent der Bruttolöhne begrenzen. Eine von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) eingesetzte „Sozialkommission“ begründet dieses als „Sozialbremse“ bezeichnete Limit mit dem Hinweis, dass die Jahre mit einer Überschreitung dieses Grenzwertes stets Krisenzeiten mit hoher Arbeitslosigkeit gewesen seien, was den Zusammenhang von hohen Sozialabgaben und Wirtschaftskrisen belege.
Hier wird ein plumper Trick angewendet, mit dem Studierende durch Prüfungen rasseln würden. Es ist in der empirischen Sozialforschung eine Todsünde, zwei Ereignisse im Zeitablauf nebeneinander zu stellen und daraus einen Wirkungszusammenhang zu konstruieren. Das ist nur in der Satire legitim, wie etwa beim „ehernen Wahlgesetz“ des von SPD-Mitgliedern erfundenen Bundestagsabgeordneten Jakob Maria Mierscheid. Demnach entspricht der prozentuale Stimmenanteil der SPD bei den Bundestagswahlen stets der jährlichen Millionentonnage der deutschen Stahlproduktion. Bis Anfang der 2000er Jahre traf das sogar zu.
Hinzu kommt ein weiterer unseriöser Kniff. Die 40-Prozentmarke bezieht sich auf die Bruttolöhne und nicht auf die gesamten Arbeitskosten. Darunter fasst das Statistische Bundesamt auch Lohnfortzahlungen, Sonderzuschläge, Kosten für Aus- und Weiterbildung, betriebliche Sozialleistungen und andere Aufwendungen. Die Sozialabgaben machen im Durchschnitt nicht 40, sondern 26 Prozent der Bruttoarbeitskosten aus.
Diese Quote ist kein die öffentliche Aufmerksamkeit erregendes Argument für die Sozialbremse. Da hat die nur auf die Bruttolöhne bezogenen 40-Prozent- Marke eine ganz andere Suggestivkraft, schon weil sie den Lohnempfängern vorgaukelt, mit einer Kürzung der Sozialabgaben hätten sie ein höheres Nettoeinkommen.
Diese Tricks der BDA-Kommission sind auch eine Art Selbstbetrug. Die Sozialbremse nährt die Illusion, dass mit einer Privatisierung von GKV-Leistungen die Gesundheitsausgaben abnehmen, wo sie tatsächlich nur auf die Privathaushalte verlagert werden. Die Gewerkschaften werden diese Steigerungen der Lebenshaltungskosten bei den Tarifverhandlungen geltend machen. Von einer Senkung der Arbeitskosten durch die Privatisierung von GKV-Leistungen kann keine Rede sein.
Trotzdem übernehmen sich als seriös verstehende Medien ungeprüft die Behauptung der BDA-Kommission. „Hohe Sozialabgaben schaden dem Wirtschaftsstandort Deutschland“, meldet Die Zeit-Online (6. März 2025). Solide empirische Belege für diese Behauptung gibt es nicht, sondern nur Fakes (siehe oben).
Wie die BDA-Kommission selbst in einer Übersicht zeigt, gibt es in Ländern mit einer überwiegenden Steuerfinanzierung des Sozialstaats gar keine oder nur niedrige lohnbezogenen Sozialabgaben. Das gilt etwa für Dänemark, wo man stattdessen höhere Einkommens- und Verbrauchssteuern zahlen muss. Der entscheidende Indikator eines internationalen Kostenvergleichs ist die gesamte Abgabenquote (Steuern plus Sozialabgaben), und die liegt in Deutschland im Durchschnitt vergleichbarer Volkswirtschaften.
GKV-Finanzen: Politik des Verschiebebahnhofs
Die Zeit-Online (6. März 2025) meint zu wissen, wie die Krankenkassen „raus aus der Krise“ kommen und macht folgende Vorschläge:
- Senkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel von 19 auf 7 Prozent (wie bei Lebensmitteln).
- Volle Kostendeckung der Gesundheitsversorgung von Bürgergeldempfängern.
- Hälftige Finanzierung der Krankenhausinvestitionen durch die Länder und die Krankenkassen.
Letzteres steht seit 1972 im Krankenhausfinanzierungsgesetz, aber die Länder haben in den vergangenen zwanzig Jahren ihre Fördermittel für die Krankenhäuser halbiert. Der dadurch entstandene Investitionsstau überfordert die Länderhaushalte und lässt sich nur mit zusätzlichen Mitteln aus dem Bundeshaushalt auflösen. Ob die voraussichtliche Koalition aus Union und SPD dafür Mittel aus dem geplanten Sondervermögen des Bundes bereitstellt, wird sich zeigen.
Aber all das sind nur Umschichtungen zwischen den steuerfinanzierten staatlichen Haushalten und den Budgets der Sozialversicherungen, ein seit Jahrzehnten als „Verschiebebahnhofspolitik“ bekanntes Nullsummenspiel. An den gravierenden Effizienz- und Effektivitätsmängeln, die unser Gesundheitswesen zum teuersten in Europa gemacht haben, ändert sich nichts. Das GKV-System bekäme bestenfalls eine Atempause, aber keine dauerhafte wirtschaftliche Stabilität und kein effektives, am Bedarf der Bevölkerung orientiertes medizinisches Versorgungssystem.
Reformen im Gesundheitswesen: „Schwimmgymnastik im Haifischbecken“
Das geht nur mit einer langfristig angelegten Gesundheitspolitik, die eine an der Sache orientierte Kompromissbereitschaft der politischen Akteure und den Verzicht auf parteipolitische Spielerein voraussetzt. Das ist eine zwar schwer einzuhaltende, aber nicht unmögliche Prämisse. In der Gesundheitspolitik stoßen gesundheitliche Aspekte auf politische, soziale, und ökonomische Interessen. Das führt unvermeidlich zur Überlagerung der Ressourcenverteilung durch Lobbyismus, Ideologien und parteipolitische Kontroversen. Gesundheitspolitik ist „Schwimmgymnastik im Haifischbecken“ (Norbert Blüm). Werden in einem Reformgesetz zu viele Problembereiche auf einmal angepackt, bilden sich effektive Abwehrkoalitionen, deren Mitglieder nur ein gemeinsames Ziel haben: die Verhinderung der Reform.
Karl Lauterbach hat das souverän ignoriert. Sein Politikstil, mit großem Mediengetöse Expertenteams zu berufen und deren Arbeitsergebnisse an den politischen Gremien vorbei zu Leitlinien einer Reform zu machen, hat den sprichwörtlichen Effekt des als Bettvorleger endenden Tigers. Das Projekt wird öffentlich zerpflückt, schon bevor es in die parlamentarische Beratung gekommen ist.
Wer auch immer in der neuen Bundesregierung das Gesundheitsministerium übernimmt, sollte über konkreten die Inhalte von Strukturreformen erst dann öffentlich reden, wenn er oder sie zuvor im Hintergrund politische Mehrheiten für deren Realisierung organisiert hat. Vertraulichkeit ist bei solchen Reformprojekten eine politische Tugend und keine Kungelei.
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