„Das Ende des Kapitalismus“

Degrowth gegen Green Deal?

| 21. März 2023
istock.com/Luke Wendling

Warum die These vom wirtschaftlichen Schrumpfen, um zu überleben, zu eng gedacht ist – eine Replik auf „Das Ende des Kapitalismus“ von Ulrike Herrmann.

Am 2. März 1972 veröffentlichte der Club of Rome den berühmten Bericht "Die Grenzen des Wachstums". Auch wenn die Autoren mit mancher ihrer Prognosen zeitlich betrachtet nicht besonders treffsicher waren, ist die Debatte um das Thema seitdem nicht mehr abgerissen. Für eine Zuspitzung der Diskussion sorgte der im letzten Jahr erschienene Bestseller von Ulrike Herrmann, die ultimativ vom Ende des Kapitalismus spricht. Ein derart epochales Urteil verlangt eine mehrfache Beleuchtung.

„Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind…“, um zu überleben, lautet der Untertitel des Buchs. Bemerkenswert, dass es kurz nach Erscheinen schon auf Platz 1 der Bestseller-Liste des Spiegels landete. Endlich mal jemand, die sagt, was Sache ist - könnte man meinen. Und Viele ihrer Überlegungen kommen nicht nur sympathisch rüber, sondern lösen auch so manchen Widerspruch auf, mit dem sich bürgerliche Ökonomen seit Jahren rumplagen. Der Bucherfolg mag auch deshalb einen Nerv getroffen haben, weil es die Sehnsucht der Menschen nach einem System zeigt, welches das Elend dieser Welt – ihr eigenes Leiden an den Verhältnissen eingeschlossen – überwindet.

Herrmann hat so gesehen ein wunderbares, wichtiges Buch geschrieben, einem Kompendium gleich dessen, was die Umweltbewegung in den letzten Jahrzehnten ins öffentliche Bewusstsein getragen hat. So ist sowohl das beschriebene, dem Wachstum geschuldete ökologische Desaster richtig dargestellt als auch die Notwendigkeit eines veränderten Lebensstils richtig benannt.

Wenn sie aber schreibt: „In der Vergangenheit waren viele Untergangsszenarien tatsächlich falsch – aber diesmal wird der Kapitalismus wirklich enden“ (Herrmann S. 183), widerspricht sie sich nicht nur selbst (siehe unten), sondern unterschätzt die Widerstandskraft und Flexibilität kapitalistischer Systeme.

Das falsche Maß

Indem sie sich auf nominelle Größen dessen bezieht, was landläufig als Wirtschaftswachstum ausgegeben wird – nämlich der Zuwachs an Gütern und Leistungen in einer Periode – verkennt sie, dass es sich hierbei um Werte handelt, die mittels monetärer Größen erfasst werden, die aber vom wahren Wert zu unterscheiden sind.   

Dass die bisherige Messung des Sozialprodukts weder ausreichend ist noch irgendein Indikator von Wohlstand sein kann, wurde in den letzten Jahrzehnten zwar hundertfach beschrieben. Daraus sind allerdings keine grundlegenden Konsequenzen gezogen worden. Nach wie vor addiert man den Wert des Getreides zu der Leistung der Reederei, die dafür sorgt, dass das beorderte Schiff, das mit Schweröl seinen Motor antreibt, seinen Empfänger erreicht. Nach wie vor wird die Leistung der Autobauer monetär bewertet, nebst der der Zulieferer, nebst der der Maschinenbauer, werden die für den Fahrzeugbau benötigten Teile zu den Leistungen des Gesundheitssystems addiert, das sich um die mit dem wachsenden Individual- und Lastverkehr verbundenen Atemwegserkrankungen und Unfallfolgen zu kümmern hat. Nach wie vor wird – F. J. Strauß sei Dank – auf Kerosin keine Steuer erhoben, was Fliegen besonders günstig macht, obwohl man weiß, dass die Luftfahrt ein wesentlicher Verursacher für den Klimawandel ist.

Alle genannten Güter und Leistungen sollen addiert etwas über den Wohlstand aussagen? Und wenn diese Größe wächst, haben wir folglich einen Zuwachs an Wohlstand? Absurder geht es eigentlich nicht.

Solange in den oben genannten Beispielen die externen Effekte, bewertet als externe Kosten, nicht in das Sozialprodukt mit einfließen bzw. der materielle Zuwachs dazu führt, dass die Menschen Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen müssen, die eindeutig Ausdruck der Verschlechterung von Lebensqualität sind, ist es eine Farce zu meinen, das Ergebnis hätte irgendetwas mit gesteigertem Wohlstand zu tun.

Dabei liegt die systemimmanente Lösung auf der Hand. Sie wäre gegeben, wenn es gelänge, eine Preisgestaltung zu schaffen, die qua Einbezug der externen Kosten auf die Nachfrage eine Lenkungswirkung ausübt. Die dadurch gestiegenen Preise der Güter und Dienstleistungen würden dafür sorgen, dass diese weniger nachgefragt würden. Umgekehrt würden die Güter, die ökologisch einen Zugewinn bedeuten, qua Subventionen günstiger, was die Nachfrage nach ihnen steigerte. Der Gedanke ist nicht neu und wird an vielen Stellen praktiziert, aber eben nicht im voll umfänglichen Sinne. 

Gelänge dies, bedeutete es nicht Verzicht auf Wirtschaftswachstum. Die genannten qualitativen Faktoren mit einbezogen, könnte es bei der Addition in der oben beschriebenen Form bleiben. Das Ergebnis ist dann das, was unter dem Begriff des qualitativen Wachstums subsummiert werden kann.

Parallel aber zu der numerischen Größe, die dann am Ende eines Berechnungszeitraums ermittelt wird, müsste es ein ganz neues Konstrukt von empirischen Größen geben, deren Indikatoren eben auf die ökologischen Ziele verweisen. Aber auch das gibt es schon in Ansätzen: Was trägt wie und in welchem Umfang zur Klimaentlastung und Ressourcenschonung bei? Allein diese beiden Indikatoren, an denen Fortschritt gemessen werden könnte, setzen ganz neue Maßstäbe. Sie eigneten sich auch als Grundlage für die preislichen Auf- und Abschläge.

Statt Verzicht zu üben, gilt es deshalb, die ungeheure Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise im ökologischen Sinne zu nutzen. Allein die Schäden, die die bisherige Wirtschaftsweise angerichtet hat, ließe sich nicht durch einen Verzicht auf weitere Produktivitätszuwächse bewältigen. Herrmanns Credo, „wenn grüne Energie reichen soll, bleibt nur ‚grünes Schrumpfen‘“ (S. 12), verkennt die Möglichkeiten, die auch unter kapitalistischen Vorzeichen bestehen: jenes kreative Potenzial zu wecken, das Produktivkräfte in Gang setzt, um den Klimawandel zu stoppen. Somit steht Herrmanns Ansatz tatsächlich im scharfen Gegensatz zu dem, was unter dem ‚Green Deal‘ verstanden wird.

Aber – um nicht missverstanden zu werden: der genannte ‚Greene Deal‘ gleicht einem ungedeckten Scheck. Noch steht die Menschheit vor einem ungelösten Problem.

Falsches Spiel beenden

Worum es also gehen sollte, ist die Vermittlung der Erkenntnis, dass die Größe des vielgenannten Wirtschaftswachstums sich immer weiter von dem entfernt hat, was sich mit Zuwachs an Wohlstand benennen ließe. Eine ungemeine Herausforderung, diejenigen von einem Umdenken zu überzeugen, die an der Quelle des Ungemachs sitzen: Angefangen bei den Produzenten von Gütern oder Anbietern von Dienstleistungen, die bei Strafe ihres Untergangs gezwungen sind, ihren Profit zu maximieren; bis hin zu jenen Ideologien verbreitenden Institutionen, die immer noch von unbegrenzten Bedürfnissen des Menschen reden, auf die dann die vielen Marketingstrategen und Werbespezialisten ihre Strategien der Verführung aufbauen. So weiter gedacht und gemacht wird dies enden, wie es die Jugendlichen befürchten, die die Straßen blockieren – wahrlich in der Apokalypse.  

Verzicht?

In der Konsequenz hieße dies – und auch da hat Ulrike Herrmann recht –, dass wir einen deutlich anderen Lebensstil entwickeln müssten. Aber hieße dies auch Verzicht?

Sicherlich müssten Gewohnheiten aufgegeben werden, für deren Abschaffung oder Veränderung von jedem Einzelnen Energie aufgewandt werden müsste. Bereitschaft hierzu ist aber nur zu erwarten, wenn der Zugewinn an anderer Stelle ausreichend groß wäre. Was, wenn sich herausstellte, dass wir mittlerweile durch den technischen Fortschritt eine Produktivität erreicht haben, die es ermöglicht, die vorhandene Arbeit auf alle Arbeitsfähigen zu verteilen – mit dem deutlichen Effekt, dass Viele weniger als bisher arbeiten müssten? Wenn diese nun sich in ihrer „Freizeit“ mit Dingen beschäftigen, die sich gar nicht oder nur schwerlich in Marktpreisen abbilden lassen, müssten also andere Messgrößen her. Vielleicht ein Indikator für Zufriedenheit, bestenfalls für Glück?

Ulrike Herrmann negiert dies. Aus ihrer Sicht gibt es kein „qualitatives Wachstum“. Dienstleistungen etwa, wie freiwilliges soziales Engagement, lässt sie nicht gelten, wenn sie meint: „Doch so sinnvoll es wäre, in Pflege und Bildung zu investieren – ‚qualitatives Wachstum‘ würde dabei nicht entstehen.“ (Ebd. S. 197)

Zu dieser Aussage kann sie nur gelangen, weil sie sich an das bisherige, als Wohlfahrtsindikator geltende nominelle Wachstum der Wirtschaft klammert. Wenn man dagegen das Produkt dieser Leistungen nicht wie herkömmlich in monetären Größen messen würde, sondern als objektiven Wert dessen, was für die Güter und Dienstleitungen an Arbeitszeit aufgewandt wurde – ehrenamtliche Tätigkeiten eingeschlossen –, wäre damit durchaus ein objektives Maß auch für qualitatives Wachstum gegeben, an dem sich auch der Zuwachs an Lebensqualität erkennen ließe.[1]

Illusion oder Hoffnungsschimmer?

Wollte man ernsthaft eine Umkehr der energie- und ressourcenverschleudernden Wirtschaftsweise einleiten, bedeutete dies eine deutliche Zunahme staatlicher Steuerung. Dazu gehören Verbote, die es ja auch in vielerlei Hinsicht gibt. Wenn ich meinen Müll in der Öffentlichkeit entsorge, werde ich, wenn es entdeckt wird, bestraft, wenn ich Altöl in den Boden versickern lassen auch.

Aber in der Tat müsste der politische Entscheidungsträger vor dem Hintergrund der ökologischen Krise mit ganz anderem Geschütz aufwarten. Nicht zuletzt wegen des von Herrmann richtiger Weise ins Feld geführten Rebound-Effekts. Wenn man emissionsfreiere Fortbewegungsmittel entwickelt, die weniger Kraftstoff bzw. Energie verbrauchen, dies aber gleichzeitig dazu nutzt, immer größere und schwerere SUV‘s zu produzieren, weil man an ihnen besser verdient, konterkariert man den Spareffekt an Emission durch mehr PS. Aber auch hier wäre es denkbar, die Abgaben für derlei Gefährte so hoch anzusetzen, dass sich aufgrund der geringeren Nachfrage eine Produktion nicht mehr lohnen würde.

Auch wenn sich unser System schwer mit Verboten tut, da Politiker ungern unpopuläre Entscheidungen treffen – die Zeit für ‚freie Fahrt für freie Bürger‘ wird schon bald als Treppenwitz in die Geschichte eingehen.

Natürlich wäre ein solcher ‚Green Deal‘ mit einem gigantischen Strukturwandel verbunden. Aber man sollte die Dynamik kapitalistischer Systeme nicht unterschätzen. Arbeitskräfte den veränderten Anforderungen gemäß zu qualifizieren ist kein Hexenwerk, sondern eine herausfordernde Aufgabe auf verschiedenen Ebenen. Sie sprengt nicht die Phantasie, sich auszumalen, wie so etwas leistbar wäre.

Und: Dieser mit ‚Green Deal‘ apostrophierte Vorgang böte die Chance, den von Marx beschriebenen ‚tendenziellen Fall der Profitrate‘ aufzuhalten. Allein die Mobilitätswende entwertet Unmengen an technischer Ausrüstung konventioneller Antriebstechnik. Das führt zu einer Entwertung von fixem Kapital, was durch Investitionen in innovative Technik zur Steigerung der Profitrate führt. In den Worten der herrschenden Volkswirtschaftslehre sind das die Innovationen, die „unsere“ Wirtschaft mit einem ungeahnten Entwicklungspotenzial ausstatten, was wiederum mit der Chance auf eine hohe Rentabilität einhergeht.

Und so ganz hat Ulrike Herrmann denn auch noch nicht dem Kapitalismus abgeschworen, wenn sie schreibt: „Wenn es etwa gelingen würde, die Energieeffizienz zu steigern, dann wären mit derselben Zahl an Windrädern und Solarpaneelen mehr (!) Güter möglich.“ (S. 255) Herrmann widerspricht sich also, wenn sie postuliert, dass „Qualitatives Wachstum“ genauso wenig existiere wie „grünes Wachstum“. (S. 198)

Ob der „Degrowth“ wirklich vonnöten ist, scheint also bei veränderten Investitionsentscheidungen noch nicht ausgemacht zu sein. Wenn ressourcenschonendere Produktionsverfahren mit geringerem Aufwand an Energie parallel mit dem Ausbau regenerativer Energieformen verbunden werden, gerät ihre These vom notwendigen Negativwachstum – selbst nach herkömmlicher Messung – ins Wanken.

Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus, Köln 2022.

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[1] vgl. Ausführungen über die Marxsche Arbeitswertlehre; Kasten „Die Brücke zum wahren Wert“