INTERNATIONALE POLITIK - 8

Kommunikation und Vertrauen als Friedensstifter

| 21. März 2023

Wie konnte der Kalte Krieg trotz scharfer ideologischer Gegensätze entspannt und schließlich überwunden werden? Kommunikation ist die Antwort des Institutionalismus, Vertrauen die Antwort des Konstruktivismus.

Im letzten Artikel hat Sophie Lukas die Theorie des Imperialismus erklärt. Heute kommt sie zum Institutionalismus und Konstruktivismus.

„Wie kann man die Welt zu einem friedlicheren Ort machen? Ein entscheidendes Problem für den Realismus ist die Unsicherheit der anarchischen Staatenwelt, in der insbesondere Großmächte um Macht und Sicherheit konkurrieren. Laut dem Institutionalismus müssen wir uns damit aber nicht abfinden. Institutionen bieten die Chance, die Anarchie zu reduzieren, wenn nicht aufzuheben. Du kennst auch aus der Schule Institutionen, die zur friedlichen Lösung von Konflikten beitragen. Ihr habt bestimmt eine Streitschlichter-AG.“

„Ja. Aber so eine AG kann ich mir bei Staaten nur schwer vorstellen. Ich denke mir Staaten zu eigensinnig, als dass sie sich einer solchen Institution einfach anvertrauen würden. Es gibt ja auch Schüler, die sich dem verweigern.

„Trotzdem wurden in der Geschichte solche Institutionen gegründet. Dies hat wiederum Impulse auf die Politikwissenschaft ausgeübt. Man versuchte, diese Kooperation theoretisch zu erklären.“

„Kannst du mir das an einem Beispiel erläutern?“

Von der Kuba-Krise zu SALT-I

„Es gibt zahlreiche Beispiele: Die Charta der Vereinten Nationen oder die europäische Einigung. Ein sehr wichtiges Beispiel für Kooperation durch Institutionen sind die Rüstungskontrollverträge zwischen den USA und der Sowjetunion, die im Zuge der Kuba-Krise abgeschlossen wurden. Verträge gelten als eine wichtige Form von Institutionen. Die Kuba-Krise und ihre Bewältigung ist heute von besonderer Relevanz, weil der Ukrainekrieg immer wieder als ähnlich gefährlich oder sogar noch gefährlicher bewertet wird.

In der Kuba-Krise kam es zu mehreren Situationen, die leicht zu einer nuklearen Eskalation hätten führen können. Die Kubakrise bewirkte ein Umdenken in Richtung Entspannung und Kooperation, trotz der grundsätzlich scharfen Gegensätze zwischen beiden Großmächten. Es wurden Verträge geschlossen, die die Gefahr eines Nuklearkrieges auf Grund von technischem und menschlichem Versagen minimieren sollten. Zu ihnen gehörte der ‚heiße Draht‘, eine direkte Telefonverbindung zwischen dem amerikanischen und sowjetischen Staatschef. Mit starker Verzögerung begannen darüber hinaus Gespräche zur gegenseitigen Rüstungskontrolle. Zehn Jahre nach der Kubakrise wurden die SALT-I-Verträge verabschiedet. Sie verboten weitgehend den Aufbau eines Raketenabwehrsystems und schränkten die Zahl der Interkontinentalraketen ein.

Politikwissenschaftler begannen sich in der Folge mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich auch in einem anarchischen System Kooperation entwickeln kann. Kooperation ist ja eigentlich vorteilhaft. Wenn sich zwei Nationen einen aufwändigen Rüstungswettlauf liefern, vergeuden sie viele Ressourcen und sind am Ende nicht sicherer als vorher. Sie hätten all das vermeiden können, wenn sie kooperiert hätten. Warum haben sie aus der Sicht des Realismus nicht kooperiert?“

Man könnte ja betrogen werden. Der andere Staat könnte eben doch weiter rüsten.

Tit for Tat und Interpendenzanalyse

„Richtig. Durch die Anarchie zwischen den Staaten kann Betrug nie ausgeschlossen werden. Trotzdem kam es zur Gründung internationaler Institutionen. Die sogenannte Spieltheorie wies nach, dass dies rational ist. Das Verhalten von Akteuren ändert sich nämlich, wenn sie öfter aufeinandertreffen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Alxelrod konnte zeigen, dass die sogenannte Tit for Tat-Strategie („Zug um Zug“) besonders erfolgreich ist. Sie funktioniert folgendermaßen: Beginne mit Kooperation. Wenn der Gegner kooperiert, kooperiere auch, wenn er nicht kooperiert, kooperiere auch nicht.  Das könnte also bedeuten: Rüste erst einmal nicht weiter und versuche mit dem Gegner auf Entspannung hinzuarbeiten. Wenn er darauf eingeht, belohne ihn entsprechend. Wenn er aber nicht darauf eingeht, dann rüste ebenfalls weiter, bis wieder Gleichstand hergestellt ist.“

„Das klingt nach einer klugen Strategie. Gibt es noch weitere Erklärungen, warum internationale Institutionen geschaffen werden?

„Eine einflussreiche Erklärung für die Bildung von Institutionen haben die beiden amerikanischen Politikwissenschaftler Robert Keohane und Joseph Nye gegeben. Sie nehmen an, dass es zwischen Staaten gegenseitige Abhängigkeiten gibt. Wenn Staat A seinen Fluss verschmutzt, der in den Staat B fließt, verursacht dies für den Staat B Kosten. Der Nachbarstaat ist in diesem Punkt verletzlich und von Staat A abhängig. Die Bildung von Institutionen ist in einem solchen Fall aber erst dann wahrscheinlich, wenn auch Staat A von Staat B abhängig ist. Wenn Staat B beispielsweise ein unsicheres Atomkraftwerk an der Grenze hat. Dann haben beide Seiten Kosten und damit Interessen, die durch eine Institution gelöst werden könnte.“

„Und die zum Frieden beiträgt?“

Institutionen schaffen Kommunikation, Kommunikation verringert Unsicherheit

„Ja. Institutionen verringern Unsicherheit. Um Institutionen zu schaffen, müssen die beteiligten Mächte miteinander kommunizieren. Dadurch erhalten beide Seiten ein genaueres Bild voneinander. Sie können besser beurteilen, ob die Befürchtungen vor einem Betrug oder gar einer Aggression wirklich begründet sind. Da ein ausgehandelter Vertrag genau vorschreibt, wie die Kooperation auszusehen hat, erhöht dies die Klarheit, wie man das Verhalten des anderen zu deuten hat. Wenn es keinerlei Verträge gibt, entstehen viel leichter Gründe für Misstrauen: Ist diese oder jene Äußerung des Präsidenten oder diese oder jene Bewegung des Militärs schon als Aggression zu werten?

Ist die Institution einmal geschaffen, erleichtert sie es darüber hinaus erheblich, Missverständnisse aufzulösen und offene Fragen zu verhandeln. Mit Institutionen lässt sich also demnach das vom Realismus hervorgehobene Sicherheitsdilemma überwinden oder zumindest abschwächen.“

„Was gerade bei der nuklearen Abschreckung besonders wichtig ist.“

„Und sehr aktuell. Denn im Augenblick steht der letzte Nuklearwaffenvertrag auf dem Spiel. New-Start läuft im Jahr 2026 aus und wurde jüngst von Russland ausgesetzt. Der ABM-Vertrag und der INF-Vertrag wurde von den USA aufgekündigt. Ohne den INF-Vertrag über die Abschaffung von Mittelstreckenraketen, die zur Zerstörung nur wenige Minuten brauchten, würden wir heute vielleicht alle nicht mehr leben. Er machte nicht nur durch die gegenseitigen Kontrollen Kommunikation notwendig, er schuf auch im Falle eines Fehlalarms schlicht Zeit, miteinander zu kommunizieren.

Der einzige Fall, in dem ein Präsident einen nuklearen Angriff mit Hilfe des Atomkoffers vorbereitet hat, ereignete sich 1995. Eine norwegische Forschungsrakete wurde in Russland als Nuklearwaffe fehlgedeutet. Wären in Europa noch Mittelstreckenraketen gestanden, hätte die russische Führung nicht genug Zeit gehabt, den Fehlalarm auszuschließen.“

„Noch lieber wäre mir, wenn man auf diese Verträge und Atomwaffen verzichten könnte, weil sich alle als befreundete Staaten ansehen wie Frankreich und Deutschland heute.“

Die Macht von Ideen: Weihnachten 1914

„Ja, warum nicht? Damit kommen wir zum Konstruktivismus. Beruht die Feindschaft zwischen Völkern oder Nationen nicht auf Konstruktionen, auf Ideen, die auch ganz anders sein könnten? Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie wandlungsfähig Ideen sind, ist der Weihnachtsabend im Ersten Weltkrieg, an dem es zu spontanen Fraternisierungen kam. Britische Soldaten hörten in ihren Schützengräben von der anderen Seite das Weihnachtslied „Stille Nacht, Heilige Nacht“ herüberdringen. Sie stimmten bald darauf selbst ein und sangen: „Silent Night, holy Night.“ Dann stiegen deutsche Soldaten aus ihren Schützengräben und kamen winkend zu ihnen herüber. War das ein Täuschungsversuch, eine neue Finte? Der Feldwebel befahl Deckung, doch die Soldaten hörten nicht auf ihn. Es war Weihnachten und so stiegen auch sie aus ihren Schützengräben.

Der britische Soldat Leslie Wilkinson erinnerte sich: ‚Es war schon sehr merkwürdig, wie verhasste Gruppen zusammenstanden, sich unterhielten, gemeinsam lachten und sich die Hände reichten.‘ Das Betreten des Niemandslandes zwischen den Schützengräben war jedoch auch eine erschreckende Erfahrung: Überall lagen Leichen und Leichenteile auf einer verwüsteten Erde. Also begannen sie mit der Bestattung ihrer toten Kameraden. Sie taten dies oft gemeinsam mit der gegnerischen Seite. Dann sangen sie gemeinsam, tauschten Geschenke und Tabak aus, sogar Fußball wurde miteinander gespielt. Wie war eine solche Verbrüderung möglich? Was würde der Institutionalismus dazu sagen?“

„Robert Axelrod hätte wohl gesagt: Am Weihnachtsabend führten die Soldaten die Tit for Tat-Strategie aus und imitierten gegenseitig Signale der Kooperation.“

„Richtig. Es gibt jedoch noch eine andere Erklärung: Der Weihnachtsabend machte beiden Seiten bewusst, dass die Gegner schlicht Menschen waren, mit denen sie eine Tradition teilten, in der es um Familienzusammengehörigkeit, Mitmenschlichkeit und Frieden ging. Eine entscheidende Rolle spielten demnach Ideen, Vorstellungen wie Menschen anderer Staaten einzuordnen sind.

Die Generäle reagierten auf die Verbrüderungen empört und versuchten neben der Androhung von Strafen durch massive Propaganda die Vorstellungen über die andere Seite zu verändern. Die britische Generalität verbreitete Berichte über massenhafte Vergewaltigungen und andere Gräueltaten der Deutschen in Belgien. Letztendlich konnten sie die Soldaten durch diese Vorstellungen wiederum dazu bewegen, den Kampf fortzuführen.“

„Vorstellungen können also ebenso Unsicherheit, Misstrauen und Feindschaft bewirken wie Sicherheit, Vertrauen und Freundschaft. Wahrscheinlich ist das Verhältnis zwischen Briten, Franzosen und Deutschen heute von Vorstellungen bestimmt, wie sie die Soldaten am Weihnachtsabend voneinander hatten oder erahnten. Die Befürchtung, dass Frankreich morgen Deutschland angreifen könnte, erscheint uns heute absurd.“

Anarchie ist, was Staaten daraus machen

„Ja. In der Wissenschaft theoretisch begründet hat dies der amerikanische Politikwissenschaftler Alexander Wendt. Er schrieb 1992 einen für die Entstehung des Konstruktivismus einflussreichen Artikel mit dem Titel: Anarchy is What States Make of It. In diesem Text konstruiert er eine Situation, in der zwei benachbarte Staaten, die noch nichts voneinander wissen, zum ersten Mal Kontakt aufnehmen. Ist es zwingend, dass Unsicherheit, Misstrauen und Feindschaft entstehen? Alexander Wendt verneint dies: Die Entstehung von Verbundenheit und Freundschaft sind ebenso möglich. Die Unsicherheit ist demnach nicht, wie der Neorealismus behauptet, naturgegeben. Die Unsicherheit entspringt den Vorstellungen die Gemeinschaften voneinander haben, sie ist sozial konstruiert.

Alexander Wendt betont, dass auch dann, wenn die eigene Lage als unsicher eingestuft wird, dies nicht, wie der Neorealist Kenneth Waltz behauptet, notwendig zur Selbsthilfe führen muss. Es sind sehr unterschiedliche Wege vorstellbar, wie ein Staat seine Interessen verwirklichen kann. Ideen und Vorstellungen dienen dabei nicht nur einfach Interessen, sondern sie sind grundlegend für die Identität der Akteure. Es kann also auch genau umgekehrt sein: Ideen und Vorstellungen bestimmen mit, welche Interessen die Akteure haben. Und dabei kann es sich um Freundschaft ebenso handeln wie um Feindschaft.“

„Werden da manche nicht einwenden, dass Wendt eine rosarote Brille aufhat?“

„Damit würde man den Konstruktivismus falsch interpretieren. Wendt will die Welt nicht idealistisch verklären. Er versucht die Realität zu beschreiben. Zur Realität gehören aber auch die Ideen und Vorstellungen von Menschen. Auch die Annahme von Unsicherheit ist eine Vorstellung. Ideen und Vorstellungen sind aber nicht unwandelbar, sondern veränderlich. Deshalb ist der Konstruktivismus nicht auf eine pessimistische Sicht der Zukunft festgelegt. Förderlich für den Frieden ist die Übereinstimmung von Ideen zwischen Staaten.“

„Gab es historische Entwicklungen, die den Konstruktivismus beeinflusst haben?“

„Dazu gehörte insbesondere das Ende des Ost-West-Konflikts. Der sowjetische Generalsekretär Michael Gorbatschow interpretierte die internationale Rolle der Sowjetunion neu. Er verabschiedete sich 1988 von der Breschnew-Doktrin, nach der die Sowjetunion den Sozialismus vor Angriffen zu schützen hatte, und überließ den Staaten des Ostblocks, ihre Staatsform selbst zu wählen. Gorbatschows einseitige Abrüstungsvorschläge und andere vertrauensbildende Maßnahmen trugen entscheidend zum Ende des Kalten Kriegs bei. Gut, damit hast du die Grundgedanken einiger wichtiger ethischer und sozialwissenschaftlicher Theorien zu den internationalen Beziehungen kennengelernt.“

„Dann würde mich interessieren, wie ein konkreter Konflikt aus der Sicht verschiedener Theorien interpretiert wird.“

„Dazu können wir uns die Ukrainekrise und den Afghanistankrieg ansehen.“