Aufgelesen

Die rosige Zukunft der Pentarchie

| 16. April 2024
IMAGO / serienlicht

Universalien gibt es nicht nur in der Sprache, sondern auch in der Internationalen Politik, so die These des Politologen Herfried Münkler. Sie ließen sich für die Erklärung der Gegenwart und Prognosen zur Zukunft fruchtbar machen. Doch sein Buch offenbart blinde Flecken.

Der wohl bekannteste und einflussreichste Linguist der Gegenwart, Noam Chomsky, hat im Rahmen seiner sprachwissenschaftlichen Forschungen ein Thema aufgegriffen, das die Sprachwissenschaft schon lange beschäftigt hatte – das Thema der Sprachuniversalien. Sprachuniversalien sind Eigenarten, die allen natürlichen Sprachen zukommen, unabhängig von ihren konkreten Realisierungen. Sie lassen sich auf syntaktischer, semantischer und phonetischer Ebene ausmachen. Beispiele für solche Universalien sind, dass alle Sprachen auf der semantischen Ebene die Unterscheidung von Prozess und Objekt, also Verb und Substantiv, kennen oder, auf phonetischer Ebene, dass alle Sprache über mindestens zwei Vokale verfügen. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler vertritt in seinem 2023 erschienenen Buch Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert die These, dass es auch auf dem Gebiet der Internationalen Politik solche Universalien gibt.

Die politologischen Universalien der Internationalen Politik lassen sich, so Münklers Dafürhalten, aus dem Studium der Geschichte, aus Mächtekonstellationen und kriegerischen Ereignissen extrahieren und für die Erklärung der Gegenwart und Prognosen zur Zukunft fruchtbar machen. Gemäß dem vorangestellten Motto André Malraux‘ – „Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern.“ – gräbt Münkler in fünf Kapiteln in der Geschichte. Im sechsten Kapitel (53 Seiten) präsentiert er dann das Hauptanliegen des Buches, nämlich Aussagen über die zukünftige Mächtekonstellation abzuleiten.

Münkler stellt die Universalien der Internationalen Politik also nicht gerafft dem Schlusskapitel voran, sondern destilliert sie ausführlich aus den jeweiligen historischen Kontexten heraus, so dass die Leser sich durch reichlich „gelahrt“ referierte Geschichte robben muss, um am Ende in den Genuss der Früchte der Erkenntnis zu kommen. Auf den 500 Seiten Vorlauf begegnet man häufig Thukydides und Carl Schmitt, aber auch Carl von Clausewitz, Niccolò Machiavelli, Winston Churchill und vielen anderen mehr.

Wir beschränken uns in dieser Besprechung auf das Schlusskapitel, die vorhergesagte Mächtekonstellation des 21. Jahrhunderts. Die Universalien der Internationalen Politik, die Münkler hierzu benötigt, lauten:

  1. Gibt es eine Vielzahl von Mächten, die nicht in vollständiger Abgeschiedenheit voneinander existieren, dann gibt es vier Realisierungsformen für die Internationale Ordnung: die Unipolarität, die Bipolarität, die Pentarchie und die Anarchie der Staatenwelt.
  2. Gibt es eine gewisse Zahl von etwa gleich starken Mächten, besteht eine starke Tendenz zur Herausbildung einer Pentarchie, die in Gestalt eines Direktoriums die globale Ordnung kontrolliert und steuert.
  3. Pentarchien benötigen eine Balancemacht.
  4. Die Mitglieder von Pentarchien scharen um sich herum Staaten der zweiten und dritten Reihe, die sie als ihre Einflusszonen definieren und die der Ressourcenabsicherung dienen.
  5. Die „Thukydides-Falle“, gewonnen aus der Analyse des Peloponnesischen Kriegs, baut sich auf, wenn eine etablierte (Hegemonial)Macht durch eine aufsteigende Macht herausgefordert wird und dadurch erhöhte Kriegsgefahr entsteht. Die von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Graham T. Allison geprägte Universalie kann, muss aber nicht in einem Krieg münden.[1]

Münklers zentrale These lautet nun wie folgt: Das 21. Jahrhundert wird durch eine Pentarchie bestimmt, die aus den USA, der Europäischen Union, China, Russland und Indien besteht. Als „Direktorium der globalen Ordnung“ regeln diese Staaten die Weltpolitik. Die Balancemacht in dieser Pentarchie ist Indien, das im Konfliktfall vermittelt.

Auf die Spur gekommen ist der Politikwissenschaftler der Pentarchie-Universalie zunächst bei der Beschäftigung mit den UN und dem Sicherheitsrat; bei dessen genauerer Analyse ist die Pentarchie der fünf Ständigen ins Auge gefallen. Damit nicht genug: Zwei historische Pentarchien aus der europäischen Geschichte ließen die Beobachtung zur Universalie werden.

Erstens: Zwischen 1454 und 1494 bestand in Italien eine Pentarchie zwischen der Republik Venedig, dem Herzogtum von Mailand, der Republik Florenz, dem Papst und dem Königreich von Neapel. Und zweitens: Nach dem Dreißigjährigen Krieg etablierte sich in Europa eine Fünfer-Ordnung zwischen dem Wiener Kaiserhaus, dem Spanischen Reich, Frankreich, England und Schweden, die bis zum Ersten Weltkrieg bestand.

Von besonderem Interesse ist diese Pentarchie, weil es in den fast drei Jahrhunderten ihres Bestehens mehrfach zum Austausch von Polen gekommen ist (an die Stelle von Spanien und Schweden traten zum Beispiel Russland und Preußen). Des Weiteren leitet sich die dritte Universalie, die notwendige Existenz einer Balance-Macht, aus dieser Mächtekonstellation ab. Ende des 19. Jahrhunderts hatte Großbritannien diese Rolle inne.

Etwas ausführlicher zitiert seien Münklers Ausführungen zu der Frage, warum es fünf und nicht drei oder sieben Mächte sind, die das Welt-Direktorium bilden. Schließlich könnte man fragen, was zum Beispiel mit Großbritannien, was mit Japan oder was mit Brasilien ist.

Fünf als Mitte zwischen zu Vielen und zu Wenigen (Herv.d.Verf.). Für die kollektive Hegemonie von Fünfen spricht weiterhin, dass bei Dreien zwangsläufig Zwei-zu-Eins-Konstellationen entstehen, was eine bedrohliche Instabilität der Ordnung zur Folge hat, weil der im Nachteil Befindliche als Ausgleich Akteure, die dem Direktorium nicht angehören, in die Gruppe der Dominierenden hereinzuholen versucht und der Beweglichste im Dreiersystem permanent seine Unterstützung an einen der beiden anderen ‚versteigern‘ kann: Er unterstützt den, der ihm dafür am meistens bietet. Das befördert einen Wettlauf um die Position des Beweglichsten, was ebenfalls zu notorischer Instabilität führt. Bei einem System der Sieben dagegen ist der Einfluss auf so viele Schultern verteilt, dass die Teilhabe am Direktorium der Weltordnung womöglich unattraktiv wird und einige von sich aus (Herv.i.O.) darauf verzichten. Das kann zu einem ‚Run aus der Verantwortung‘ führen“.

Die Zahlenspielerei geht noch weiter: Weil Weltordnungen einen „Faktor der Balance und des Ausgleichs“ benötigen, wird eher die ungerade Zahl als die gerade die zukünftige Ordnung bestimmen, also fünf statt vier. So ist das mit der Kraft der Ordnung und der Magie der Zahlen.

Wer wollte dieser Logik widersprechen?

Möglichkeiten für die Mächteordnung des 21. Jahrhunderts

Folgt man Münklers Überlegungen, gibt es also vier Möglichkeiten für die Mächteordnung des 21. Jahrhunderts:

  • Die unipolare Welt,
  • die bipolare Welt,
  • die Pentarchie und
  • die Anarchie der Staatenwelt.

Zur Unipolaren Welt

Münkler geht davon aus, dass zwischen 1990 (Ende des Kalten Kriegs) und 2022 (Rückzug des Westens aus Afghanistan und russische Invasion in die Ukraine) eine unipolare Struktur der Weltordnung mit den USA an der Spitze bestand. Sieht man von einigen offen unsinnigen Thesen – USA als „Hüter vom am Allgemeinwohl orientierten Interessen“ und die Möglichkeit der UN als Hegemon der Welt – ab, dann liegt der entscheidende Fehler in Münklers Argumentation darin, wie er das Ende der US-Hegemonie begründet. Er ist darin Opfer des in Deutschland dominanten neoliberalen Diskurses. Hören wir zu:

„Donald J. Trumps Parole ‚America First‘ war die definitive Absage an die Hüter-Rolle, auch mit Verweis darauf, dass die Anzahl der ‚Trittbrettfahrer‘ überhandgenommen habe, die von den Leistungen der Amerikaner bei der Eindämmung des Terrors profitierten, sich aber finanziell nicht daran beteiligten. Das wurde zum Hebel für den von Trump durchgesetzten Rückzug der USA aus der Hüter-Rolle. Es war zugleich das Ende des Anspruchs der USA, die Zentralmacht einer unipolaren Ordnung im globalen Maßstab zu sein.“

Die unipolare Weltordnung wurde zu „kostspielig“.[2] Doch Trump (und alle anderen Präsidenten der USA) sind nicht neoliberale Rechner, die bei drohenden Konflikten die Rechenschieber im Pentagon in Gang bringen, sondern Machtpolitiker und Nationalisten, die, wenn sie etwas berechnen, nur die Ressourcenfrage durchrechnen lassen, nicht aber monetäre Fragen. Daraus folgt auch, dass sich Trump (und seine Nachfolger) nie und nimmer mit der Rolle eines Zackens im Welt-Pentagon zufriedengeben werden, sondern als „exzeptionelle Nation“ immer der einzige Stern am globalen Himmel sein wollen und können.

Zur Bipolaren Ordnung

Die bipolare Ordnung (zum Beispiel die des Kalten Krieges) interessiert Münkler nicht sonderlich, zu sehr ist er verliebt in sein Fünfeck. Trägt man die einschlägigen Textpassagen zusammen, dann war die Sowjetunion an ökonomischem „Overstress“ gescheitert: „(…) denn lange würde Moskau diese Militärmacht nicht mehr finanzieren können“. Die Sowjetunion stand „am Rande eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs“. Das ist die neoliberale Erklärung für das Ende des Kalten Krieges, was hier aber nicht Thema ist. Manchmal verwirrt Münkler auch seine Leser: „Allgemein lässt sich sagen, dass Bipolarität eher für Zeiten des Krieges als für solche des Friedens typisch ist“. Der Kalte Krieg widerspricht dem eher. Und: Gilt auch umgekehrt, dass bipolare Ordnungen zu Kriegen tendieren?

Für das 21. Jahrhundert schließt Münkler jedenfalls eine neue Bipolarität zwischen den USA und China aus, womit er sich im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Kollegen befindet. Das Thema erörtert er nicht einmal, so abwegig scheint ihm das zu sein. Umgekehrt verteilt er für Russland, die EU und Indien reichlich Vorschusslorbeeren, was ihre Zukunft als Fünferzacken angeht (dazu weiter unten). In Summe lässt sich seine Position so zusammenfassen: Unipolarität (kostet zu viel) und Bipolarität (würde Europa und Russland schaden) sind „unwahrscheinlich“.

Die Pentarchie

Von der Pentarchie ist Münkler, so weit man das erkennt, überschwänglich begeistert. Sie liefert „Stabilität und Flexibilität“, sie ist das „Optimum, was unter den sich abzeichnenden Konstellationen der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts möglich ist“, „das Beste, was zurzeit als Weltordnung funktionieren kann“. Sie ist „tendenziell egalitär (Herv.d.Verf.) angelegt“, tendiert allerdings zu gegeneinander abgegrenzten Wirtschaftsräumen. Sehr beruhigend ist diese These: „Friedensordnungen haben eine unübersehbare Neigung zu Multipolarität, in der die Fronten und Gegensätze des Bipolaren gedämpft, wenn nicht aufgelöst werden“.

„Offenbar haben Fünferkonstellationen starke stabilisierende und pazifizierende (Herv.d.Verf.) Effekte, weil sie Veränderungsoptionen nach Vormacht strebender oder auch revisionistischer Mächte einschränken (…)“. Innerhalb der Pentarchie des 21. Jahrhunderts gibt es eine Tendenz zur „Zweiergruppierung“, in deren Rahmen sich demokratische (USA und EU) und autoritäre Systeme (China und Russland) gegenüberstehen, und Indien das „Zünglein an der Waage“ ist. So gesehen erwartet die Menschheit mit der Pentarchie im 21. Jahrhundert eine rosige Zukunft.

Die Anarchie der Staatenwelt

Die Pentarchie als Ordnung kann scheitern, räumt der Autor ein, und endet mit dem Satz: „Die Folgen wären (...) furchtbar“. Wenn sich keine Ordnung ausbildet, sondern ein „Absturz“ in die „Anarchie der Staatenwelt“ erfolgt, drohen die schlimmsten kriegerischen Konsequenzen für das Weltganze.[3] Tröstlich wiederum ist diese Aussage: „In jedem Fall ist eine bipolar grundierte Pentarchie bei der Vermeidung eines großen Krieges sehr viel zuverlässiger als ihre Alternative: die Anarchie der Staatenwelt“.

Gegen die These von der Pentarchie als bestimmender Weltordnung des 21. Jahrhunderts lässt sich viel vorbringen. Hier nur einiges.

Antithesen zur Pentarchie

Zunächst zu den USA, als potenziellem Zacken am Fünferstern. Die USA müssten ja zurücktreten (oder zurückgetreten werden) von ihrer bisherigen Polposition und sich einreihen in eine neue Geometrie. Die Redeweise vom Ende der pax americana, dem Ende der amerikanischen Hegemonie setzte schon mit dem Rückzug der USA aus Vietnam Mitte der siebziger Jahre ein und war zunächst nur auf die westliche Hemisphäre bezogen. In der nachfolgenden Zeit suchte man immer wieder Belege für die These. Stattdessen hob mit dem Untergang der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges in den frühen neunziger Jahren eine neue Phase US-amerikanischer Hegemonie an – dieses Mal nicht nur bezogen auf eine Hemisphäre, sondern bezogen auf die ganze Welt. Als letzte verbliebene Supermacht dominierten die USA in der neuen Phase (1990-2020) ziemlich uneingeschränkt die Weltpolitik, ohne dass in dieser Zeit die Redeweise vom Ende der US-Hegemonie ganz verschwand. Im Gegenteil: Einige Signale aus der Trump-Administration und der wirtschaftliche Aufstieg Chinas gaben ihr neue Nahrung. Münklers Buch ist auch Ausdruck davon.

Möglicherweise steckt hinter der Redeweise mehr Voluntarismus als Evidenzbasierung. Überdies hat Münkler eine nicht ganz unwichtige Universalie der Internationalen Politik vergessen oder übersehen: dass eine Hegemonialmacht noch nie freiwillig von der Polposition zurückgetreten ist. Warum sollte diese Universalie jetzt falsifiziert werden, sprich: die USA als Hegemonialmacht zurücktreten ins Glied und als Teil eines egalitären Fünfersterns (mit allen möglichen Implikationen: Absprachen, Kompromissen, Unterordnungen usw.) fungieren?

Vielleicht existiert auch eine weitere, noch nicht entdeckte Universalie: dass in einem Mächtekonzert – wenn also Mächte miteinander in Kontakt stehen, sogar miteinander spielen und nicht hermetisch gegeneinander in Solokonzerten abgeschottet sind – immer eine Tendenz besteht, dass einzelne Spieler, etwa die Solisten, Dirigent werden wollen und darum gegeneinander konkurrieren, mithin die Tendenz zum Gleichgewicht, dem Spiel ohne Dirigenten, nicht greifen kann. Man weiß es nicht.

Was man aber weiß, ist das Folgende: Die Zahlen aus den Bereichen Wirtschaft und Militär deuten auf alles Möglich hin, nur nicht darauf, dass an dem Tisch des Pentagons egalitäre Akteure Platz nähmen. Die Zahlen offenbaren doch eine deutliche Führungsposition der USA in wirtschaftlicher Hinsicht – wobei noch gar nicht berücksichtigt ist, dass die entscheidenden kapitalistischen Innovationen der vergangenen Jahrzehnte, die Digitalindustrie und die Finanzindustrie, aus den USA stammen und von ihnen kontrolliert werden.

Quelle: ChatGPT hat gerechnet

Für das Militärische tritt eine ebenso deutliche Hegemonialposition der USA hervor. Sie sind die einzige Macht, die global agieren kann, alle anderen Mächte sind regional beschränkt und kommen nur für militärische Aktionen in ihrem Umfeld in Frage. Das einzig Egalitäre, das auf dem militärischen Sektor auffällt, ist der Gleichstand zwischen den USA und Russland bei den atomaren Sprengköpfen, ein Gleichstand, der noch aus der bipolaren Zeit stammt.

Quelle: ChatGPT hat gerechnet. Auf Angaben zur EU wurde verzichtet, da es kein gemeinsames Militär gibt.

Wer also den Blick über Münklers phantasierten Pentagon-Tisch schweifen lässt, erkennt keine egalitäre Runde, sondern ausgesprochen ungleiche Akteure. Nicht Gleichheit, Gleichgewicht und Balance werden sichtbar, sondern Hierarchie, Rangordnung und Vorsprung. Schon gar nicht vermag man an dem Tisch eine sich zurücknehmende, beschränkende und bescheidene USA zu erkennen.

Während die USA „abgewichtet“ werden, wird die EU „aufgewichtet“, und zwar in einem erheblichen, man könnte auch sagen wirklichkeitsfernen Maße. Sie erfährt die Adelung zum Weltmachtzacken. Um das Ticket für die Aufnahme in den Club zu lösen, steht der EU allerdings eine komplizierte Aufgabe bevor. Nach Münklers Worten ist dazu erstens die „Transformation der Union aus einem Regelgeber und Regelbewirtschafter in einen handlungsfähigen politischen Akteur“ vonnöten. Zweitens die Bereitschaft Deutschlands, „konsequent als Macht des Zusammenhalts der Europäischen Union zu fungieren“.

In anderen Worten: Europa müsse „als geschlossener Block auftreten und mit einer Stimme sprechen“. Das kann man so formulieren, es skizziert in etwa die gegenwärtige Problemstellung für die Europäer. Über das Stadium eines Binnenmarkts ist die EU tatsächlich nicht wesentlich hinausgekommen – mit einer nicht ganz unwichtigen Ausnahme, der Währungsunion, in der „mit einer Stimme“ gesprochen wird.

Aber schon bei der Weiterentwicklung der Währungsunion in globale Dimensionen hinein, zum Beispiel durch die Einführung von Eurobonds bei der Kreditaufnahme oder durch die Etablierung einer Wirtschaftsunion, erweisen sich die Europäer als Volk der Gartenzwerge, denen vor allen anderen Dingen die eigenen Rabatte das Wichtigste sind und denen es verwehrt ist, über den eigenen Gartenzaun in die weite Welt zu blicken.

Politisch ist die EU nicht über ein intergouvernementales Bündnis hinausgekommen. Es sind die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat, die die Macht- und Außenpolitik bestimmen. Die supranationale Großmäuligkeit der Kommissionspräsidentin („Kommission als geopolitischer Akteur“) ändert daran nichts.

Frankreich und Deutschland als die beiden außenpolitischen Führungsmächte der EU haben geopolitisch zweimal richtig gelegen, als sie sich mehr als fragwürdigen US-amerikanischen Aktivitäten entgegenstellten. Das war 2002/03 so, als sich Jacques Chirac und Gerhard Schröder gegen eine Teilnahme am lügenbasierten Irak-Krieg aussprachen. Und das war 2008 so, als sich Nicolas Sarkozy und Angela Merkel auf dem NATO-Gipfel in Bukarest gegen einen Beitritt der Ukraine zur NATO sperrten.

Auch der Versuch, im Rahmen des Minsk-Formats den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine einzudämmen, konnte als Basis für eine eigenständige Außenpolitik Europas gelten. Das Ziel außenpolitischer Souveränität wurde explizit in Emanuel Macrons Sorbonne-Rede 2017 formuliert, blieb aber seitens der deutschen Kanzlerin ohne Unterstützung.

Der außenpolitische Instinkt hat die Führer der beiden Länder spätestens im Dezember 2021 verlassen, als sie es den USA überließen, eine Antwort auf die sich zuspitzende Ukraine-Krise und die russischen Forderungen zu formulieren. Europa war damit in die zweite Reihe zurückgetreten und trat den USA freiwillig die Rolle der tonangebenden Ordnungsmacht auf dem europäischen Kontinent ab.

Die EU als globale Ordnungsmacht, eine EU, die nicht einmal auf dem eigenen Kontinent der bestimmende Machtfaktor ist? Ein etwas verschwipster Gedanke. Auch die Verhältnisse im Inneren der EU sprechen weniger denn je dafür, dass sie ein geopolitischer Akteur im Werden ist. Wer nach außen als Ordnungsmacht auftreten will, muss im Inneren ein hohes Maß an Einigkeit und Festigkeit vorweisen.

Anders formuliert: das Werden zu einer globalen Ordnungsmacht setzt eine qualitative Vertiefung der Integration voraus, eine Überwindung der gerade auf außenpolitischem Gebiet vorliegenden intergouvernementalen Grundstruktur der europäischen Institutionen. Davon ist die EU aber himmelweit entfernt. Sie durchlebt gegenwärtig eine in ihrer bisherigen Geschichte einmalige Nationalisierung, die jeden Versuch der Vertiefung schon im Ansatz ersticken wird.

Für die EU einen Platz am Tisch des Pentagons vorzusehen, ist schlicht politikwissenschaftlicher Nonsens.

Und Münklers drei andere Kandidaten für das Weltdirektorium? China und Russland, beides ausweislich ihres wirtschaftlichen Entwicklungsstandes Schwellenländer, sind militärisch-geopolitisch Regionalmächte, die in den nächsten Jahrzehnten mehr mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Innenraums beschäftigt sind, als dass sie sich um Ordnungsfragen der Welt scheren könnten.

Und Indien, das Armenhaus, dem von Münkler die Rolle der Balanciermacht („Zünglein an der Waage“) zugedacht wird? Die aus der Apothekersprache stammende Metapher vom „Zünglein“ passt als Diminutiv auf das geo- bzw. machtpolitische Gewicht Indiens. Im Unterschied zu Münklers Referenz – Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg – wäre Indien zwar ein Koloss, aber ohne jede Macht. Woher kommt die neue politikwissenschaftliche Faszination von der Bevölkerungsgröße?

Herr und Vasall

Betrachten wir abschließend noch einmal Münklers pentagonische, das 21. Jahrhundert regierende Tischgesellschaft. Dort erkennt man nicht fünf Gleiche, die als Weltdirektorium die Geschicke der Welt steuern, sondern sehr unterschiedliche Akteure. Erkennbar werden bei genauerem Hinsehen ein Industrieland und ein industrielles Staatenkonglomerat (formerly known as Erste Welt) und drei Schwellenländer (früher: Zweite Welt). Das Pärchen der beiden Industrievertreter vermittelt einerseits den Eindruck enger Verbundenheit (durch Bündnisse aller Art, politische Systeme, Werte usw.). Andererseits sind die beiden Partner doch von erheblich unterschiedlicher Statur, Aktionsbereitschaft und Selbstbewusstsein. Herr und Vasall träfe die beiden als Charakterisierung wohl am ehesten.

Die drei Schwellenländer sitzen in gebührlicher Distanz voneinander am Tisch, sind nur lose miteinander verbunden (BRICS) und schlagen sich offensichtlich mit sehr unterschiedlichen Problemen herum. An den Gedanken, die Welt zu regieren, verschwenden sie sich offensichtlich nicht, zu sehr scheinen sie mit sich selbst beschäftigt. Die Beseelung der Welt, durchaus auch mit überschnappender Attitüde, hat nur einer am Tisch.

Eine Leseempfehlung zum Schluss: Die historisch Interessierten könnten das ganze Buch lesen. Für die gegenwartspolitisch Interessierten genügt die Lektüre des letzten Kapitels (53 Seiten). Vielleicht hätte der Verlag sich entscheiden sollen, zwei Bände herauszugeben, einen dicken und einen dünnen.

Herfried Münkler, Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Berlin 2023, 527 Seiten.

------------------------

[1]             ChatGPT zählt 11 Beispiele für Thukydides-Fallen auf, wobei die gegenwärtige Konstellation zwischen China und den USA nicht einmal mitgezählt ist. Vgl. grundlegend für diese Universalie den Entdecker bzw. Erfinder – je nach Sichtweise: Graham Allison, „Destined for War: Can America and China escape Thukydides‘ Trap“? New York 2017.
[2]             Dass Militärausgaben nicht als reine Kostenfaktoren zu deuten sind, sondern ihre eigenen ökonomischen Bedeutungen haben, entgeht Münkler. Von Militärkeynesianismus hat er ebenso wenig gehört, wie ihm die Bedeutung technologischer, monetär nicht messbarer Spillovers aus dem Militärischen bekannt ist.
[3]             Vor dem Hintergrund politikwissenschaftlicher Theorien zu den Internationalen Beziehungen formuliert: Was dem „Realisten“ Carlo Masala (und einigen anderen) der Ausgangspunkt der Theoriebildung ist – die „Weltunordnung“ oder die „Anarchie der Staatenwelt“ – ist für den „Konstruktivisten“ Münkler der Horror vor einer möglichen, wenn auch nicht wahrscheinlichen Entwicklung.