Globale Impfungleichheit

Am Rande eines "katastrophalen moralischen Versagens“

| 13. April 2021
istock.com/Adeyinka Yusuf

Mehr als ein Jahr nach Ausbruch der Covid-19-Krise zeigt sich: Von den frühen Ankündigungen Ursula Von der Leyens, Impfstoffe als „globales öffentliches Gut“ zu begreifen, ist nicht viel geblieben. Stattdessen werden wir Zeuge einer globalen „Impfstoff-Apartheid“.

Anfang des Jahres folgte auf den Aufruf des UN-Generalsekretärs, die weltweite Zugänglichkeit von Impfstoffen als oberste Priorität für das Jahr 2021 zu begreifen, die unverblümte Diagnose des Direktors der Weltgesundheitsorganisation: Die Welt stehe "am Rande eines katastrophalen moralischen Versagens“.

Diesem Weckruf liegt eine gravierende globale Impfungleichheit zugrunde: Über 85 ärmere Länder werden nicht vor 2023 über ausreichenden Zugang zu Impfstoff verfügen. Entlang der verfügbaren Verkaufszahlen wird zudem davon ausgegangen, dass sich reiche Länder, die nur rund 16 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, mit Exklusivverträgen 70 Prozent der 2021 verfügbaren Impfstoffmengen gesichert haben.

Gravierende globale Impfungleichheit

Auch wenn viele ihre Impfung kaum erwarten können: Im globalen Maßstab erfährt das Phänomen der „Impf-Vordrängler“ nochmals eine drastische Dimension. Die globale Impfkluft wachse – so zuletzt der WHO-Generaldirektor – „jeden Tag und werde jeden Tag grotesker“. In vielen Ländern würden bereits „jüngere, gesunde Menschen mit geringem Krankheitsrisiko“ geimpft und dies auf „Kosten des Lebens von Gesundheitspersonal, älteren Menschen und anderen Risikogruppen in anderen Ländern“.

Die Verteilung der Impfstoffe ist daher weit davon entfernt, was etwa Ärzte ohne Grenzen auch als unverzichtbares Prinzip in der globalen Pandemiebekämpfung verstehen: nämlich „nach Maßgabe der Bedürftigkeit“ zu verimpfen. Bisherige Initiativen zur weltweiten gleichmäßigeren Verteilung von Impfstoffen wie etwa  „COVAX“ erwiesen sich nicht zuletzt auch als zu anfällig dafür, durch Impfnationalismus konterkariert und leergekauft zu werden. Während Staatschefs im globalen Norden kaum erwarten können, eine Herdenimmunität samt wirtschaftlichem Comeback auszurufen, bleiben in vielen Ländern mit ohnehin miserabler medizinischer Infrastruktur selbst das Gesundheitspersonal und Hoch-Risikogruppen auf absehbare Zeit ungeschützt.

Vor diesem Hintergrund konnten in den letzten Wochen eine Reihe von internationalen Aufrufen von Wissenschaftern, Parlamentariern, Diskussionsveranstaltungen, Medienbeiträgen sowie zivilgesellschaftlichen sowie gewerkschaftlichen Kampagnen zwar erreichen, dass mehr öffentlicher Druck für globale Impfgerechtigkeit und eine sogenannte „people´s vaccine“ aufgebaut werden konnte. Doch dieser transnationalen Koalition für globale Impfsolidarität steht zugleich ein unheilvolles Duo aus dem Impfegoismus reicherer Staaten und der wirtschaftlichen Macht von „Big Pharma“ in der vorherrschenden globalen Pandemiepolitik gegenüber. Gegenwärtig zeigt sich der scharfe Kontrast zwischen frühen Versprechungen von Covid-19 Impfstoffen als globalem öffentlichen Gut und gegenläufigen wirtschaftspolitischen Machtinteressen besonders deutlich in der Welthandelsorganisation (WTO).

WTO: Teil der Lösung oder des Problems?

Dort fordern mittlerweile mehr als 100 Mitgliedsstaaten für die Dauer der Pandemie Ausnahmeklauseln von sogenannten „handelsbezogenen geistigen Eigentumsrechten“ für Covid-19 relevante medizinische Produkte wie zum Beispiel Impfstoffe, Testkits oder Beatmungsgeräte zu verankern (der sog. „TRIPS-waiver“). Diese Forderungen nach gezielten Ausnahmenklausen sind mit dem Ziel verbunden, dass Patente, Urheberrechte oder etwa die fehlende Offenlegung von Produktionswissen eine effektive weltweite Pandemiebekämpfung nicht behindern können.

Doch während vor allem die Länder des Globalen Südens seit Monaten auf die Dringlichkeit der raschen und eigenständigen Produktion von Covid-19-Impfstoffen, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung pochen, fahren die USA, Kanada, Japan und die EU in den Verhandlungen zu den pandemiebedingten Ausnahmeklauseln vom sogenannten TRIPS-Abkommen (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) offenbar eine Verzögerungstaktik. Textbasierte Diskussionen – wie von den Befürwortern des TRIPS-waivers im Sinne einer konkreten Einigung gefordert – waren vor diesem Hintergrund bislang nicht möglich

Stattdessen lässt vor allem auch die EU diese Forderungen von Staaten des Globalen Südens nach einem Strategiewechsel im Umgang mit „handelsbezogenen geistigen Eigentumsrechten“ während der Pandemiebekämpfung ins Leere laufen. Auch von den frühen Versprechungen von Impfstoffen gegen Covid-19 als globales öffentliches Gut oder von Forderungen – wie mittlerweile von der EU hochgehalten, wenn es um sie selbst geht – nach „strategischer Autonomie“ und der langfristigen Bedeutung eigenständiger Produktionskapazitäten ist seitens der EU in dieser aktuellen WTO-Auseinandersetzung um globale Impfsolidarität nichts zu hören.

Dies irritiert, nicht zuletzt auch angesichts der beschränkten Reichweite des TRIPS-waivers: Mit der Annahme der Ausnahmenklauseln würde auch nicht mehr als eine Art „Schutzschild“ für handelsbezogene geistige Eigentumsreche auf internationaler Ebene wegfallen, da kein Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat dann aufgrund seiner Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in der WTO verklagen könnte. Zugespitzt ausgedrückt: Es handelt sich um einen pandemiebedingten Klageverzicht.

Carlos Correa, Leiter des Think Tanks South Center, sieht zugleich einen wichtigen Vorteil darin, dass bei einer Umsetzung dieser Ausnahmeklauseln Pharmakonzerne weniger Druck auf einzelne Länder bei der Nutzung von pharmazeutischem Know-How und dem Aufbau eigener Produktionskapazitäten ausüben könnten. Bestehende Möglichkeiten zum Beispiel zu Zwangslizenzierungen (sog. „TRIPS-Flexibilitäten“) wären hingegen sehr langwierig und auch aufgrund des hohen Drucks für einzelne Länder des Globalen Südens in der Vergangenheit praktisch kaum umsetzbar gewesen.

Doppelspiel der EU

Doch der öffentliche Druck und die Debatte, wie der Flaschenhals überwunden werden kann, der durch eine Impfstoffproduktion entsteht, die allein auf Profit ausgerichtet ist, hat mittlerweile auch innerhalb der Europäischen Union Wellen geschlagen. Nicht zuletzt, um den Druck auf Pharmaunternehmen mit Sitz bzw. Produktionsanlagen in der EU zu erhöhen, meinte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen etwa Mitte März, dass sie „nichts ausschließe“, um die „Krise des Jahrhunderts“ zu meistern und sicherzustellen, dass alle Europäer so schnell wie möglich geimpft werden. Um das zu ermöglichen, sei auch die Anwendung der EU-Kompetenz für Versorgungskrisen nicht ausgeschlossen, die einen öffentlichen Eingriff in die Verteilung der Impfstoffe und sogar eine erzwungene Weitergabe von Patenten bzw. Zwangslizenzen möglich mache.

In eine ähnliche Kerbe hatte zuvor bereits der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, geschlagen. Sollten die Verhandlungen mit den Pharmaunternehmen scheitern und diese nicht mehr Impfstoffe zur Verfügung stellen, müsse man den Einsatz des Art 122 Vertrages über die Arbeitsweise der EU zur Sicherstellung der Versorgung mit wichtigen Gütern in Krisenzeiten in Erwägung ziehen.

Die damit angesprochene Kompetenz erlaubt es den Mitgliedstaaten, falls „gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung“ mit Gütern auftreten, „die angemessenen Maßnahmen“ zu beschließen. Mit dieser bewusst offenen gewählten Formulierung wollten die Vertragsverfasser den europäischen Gesetzgeber (Rat und Parlament) in die Lage versetzen, rasch alles unternehmen zu können, um Engpässen in der Versorgung und die damit verbundenen Folgen für die Bevölkerung zu vermeiden oder rasch zu lösen. Dafür spricht auch, dass zu Beschlussfassung keine Einstimmigkeit, sondern lediglich eine qualifizierte Mehrheit notwendig ist.

Auf EU-Ebene würde daher ein rechtlich einwandfreier und vergleichsweise einfach einzusetzender Hebel zu Verfügung stehen, um alles zu unternehmen, um die Impfstoffproduktion rasch auszuweiten – sei es nun durch die Zwangslizenzen oder durch die Aufhebung von Patenten und die Teilung von Produktionswissen. Doch bisher gleicht die EU mehr dem Hund, der bellt, aber nicht beißt. Und das, obwohl die Mitgliedstaaten der Union mit ihren Impfprogrammen nachhinken und im globalen Süden viele nach derzeitigem Stand noch zwei Jahre ungeschützt bleiben werden.

Lobbymacht und Big Pharma

Dass dem so ist, liegt nicht zuletzt an der ausgeprägten Macht der Pharmaindustrie, die im globalen Norden ihre Firmensitze hat und über einen entsprechend kurzen Draht in die politischen Institutionen verfügt. Allein auf Ebene der EU gibt der Sektor jährlich rund 40 Millionen Euro aus, um die Politik entlang ihrer an Profit ausgerichteten Interessen zu beeinflussen. Dazu beschäftigt er mehr als 175 Lobbyisten. Die öffentlich zugänglichen Auflistungen der Sitzungen der Spitzen der Kommission zeigen, dass allein in den ersten sechs Monaten nach Ausbruch der Pandemie 85 Treffen mit der Pharmaindustrie stattfanden.

Dass Hauptargument der Pharmaindustrie zur Verteidigung einer auf Profite ausgerichteten Erforschung und Produktion von Impfstoffen ist dabei, dass nur diese einen Anreiz zur Entwicklung neuer Produkte lieferten. Allerdings offenbaren nicht zuletzt die Zahlen rund um die Entwicklung der Covid-19 Vakzine einen ganz anderen Zusammenhang: Die Erforschung der mRNA-Impfung geht zum ganz überwiegenden Teil auf öffentliche Forschung zurück. Und obendrauf erhielt die Pharmaindustrie im letzten Jahr Milliarden, um rasch eine Impfung anbieten zu können – Biontech/Pfizer etwa erhielt von Deutschland und den USA 2020 2,7 Milliarden, um dieses Ziel zu erreichen. Während die Entwicklung überwiegend von der öffentlichen Hand bezahlt wird, bleiben die Patente und damit die Profite privat: Allein Biontech/Pfizer werden für dieses Jahr Einnahmen zwischen 10-20 Milliarden Euro auf Basis ihres Covid-19 Impfstoffes vorhergesagt.

Diese Machtbasis und Profitabilität erklärt, warum die Staaten des globalen Nordens bisher im TRIPS-Council der WTO eine Freigabe der Patente blockieren und rhetorisch zwar mit den Säbeln rasseln, aber nicht von ihrer auf EU-Ebene weitreichenden Eingriffskompetenz in Krisenzeiten (Art 122 AEUV) Gebrauch machen. Schließlich fürchtet die Pharmaindustrie nicht nur um ihre Profite, sondern dass sich eine Tür hin zu einem solidarischen und globalen Gesundheitssystem öffnen könnte, dass öffentliche Interessen in den Mittelpunkt stellt.

Dass Einzelinteressen bisher das globale Allgemeininteresse blockieren, ist dabei nicht nur moralisch falsch. Vielmehr hat das Brachliegen von Produktionskapazitäten und ihr mangelnder Ausbau auch epidemiologisch verheerende Folgen. Indem viele im globalen Süden bis 2023 auf ihren ersten Stich warten müssen, hat das Virus aufgrund der damit einhergehenden Vielzahl von Infektionen viel Zeit, um zu mutieren. Schon jetzt entstehen dadurch ansteckendere und infektiösere Varianten, die allenfalls auch in bereits immunisierte Regionen virulent werden können. Auch das Entstehen einer Mutante, gegen die kein Impfstoff Schutz bietet, wird so wahrscheinlicher.

Auch volkswirtschaftlich drohen dadurch gigantische Schäden, die aufgrund des neokolonialen Musters der gegenwärtig an privaten Profiten orientierten Impfstrategie überproportional Länder im globalen Süden treffen werden. Nach einer Studie der International Chamber of Commerce drohen so wirtschaftliche Schäden in Höhe von 9,2 Billionen Dollar.

Change not Charity

Das selbst jetzt noch genug Spielraum besteht, um eine Impfstoff-Produktion zu starten, die hilft, rasch alle Menschen weltweit durchzuimpfen, die das möchten, bestätigte jüngst sogar die WTO-Direktorin. So meinte Ngozi Okonjo-Iweala Anfang März, dass im globalen Süden bereits Kapazitäten vorhandenen wären, die innerhalb von sechs Monaten mit einer entsprechenden Produktion beginnen könnten. Das zeigt nicht zuletzt, was alles möglich gewesen wäre, wenn Emmanuel Macron, Angela Merkel, Charles Michel und Ursula von der Leyen ihren Worten von Anfang Mai letzten Jahres, dass „wenn wir einen Impfstoff entwickeln können, der von der ganzen Welt für die ganze Welt produziert wird, wird dies ein einzigartiges globales öffentliches Gut des 21. Jahrhunderts sein“, entschlossene Taten folgen hätten lassen.

Was die Konsequenzen einer auf Profite ausgerichteten Impfstoff- bzw. Medikamentenproduktion sind und was dagegen ein breites, grenzüberschreitendes und solidarisches Bündnis bewirken kann, zeigen die Erfahrungen mit HIV und Aids. Mitte der 1990er Jahre waren antiretrovirale Medikamente im globalen Norden entwickelt worden, deren Einsatz verhindern konnte, dass Menschen an einer Aids-Erkrankung sterben mussten. Doch das Festhalten am Patentschutz führte zu Millionen Toten im globalen Süden. Mit einer jahrlangen Kampagne gelang es einem Bündnis von Organisationen aus dem globalen Norden und Süden jedoch, eine Außerachtlassung von Patenten zu erkämpfen. Die so ermöglichte Produktion von Generika konnte weitere Tote verhindern.

Fatima Hassan von der südafrikanischen Health Justice Initiative fordert daher, dass die Welt aus der AIDS-Krise lernen müsse, um die Covid-19-Pandemie zu bekämpfen: Das entschiedene Vorgehen gegen die globale Impf-Apartheid dürfe nicht von der freiwilligen Kooperation der Pharma-Konzerne abhängig sein. Vielmehr besteht eine globale Notlage, die – ähnlich wie in Kriegszeiten – volle wirtschaftliche Durchgriffsmöglichkeiten erfordere.