Editorial

Die Pandemie, die spaltet

| 13. April 2021
istock.com/Steve Wellington

Liebe Leserinnen und Leser,

das Wort „Krise“ stammt aus dem Griechischen und meint ursprünglich ‚Meinung‘, ‚Beurteilung‘, ‚Entscheidung‘. Später wurde es im Sinne von ‚Zuspitzung‘ verwendet, das zum altgriechischen Verb krínein führt, welches „trennen“ und „(unter-)scheiden“ bedeutet. Auf das gleiche Verb geht auch das Substantiv „Kritik“ zurück.

Ins Deutsche wurde das Wort von der lateinischen crisis entlehnt und erst in medizinischen Zusammenhängen vor allem fieberhafter Erkrankungen verwendet, wo es die sensibelste Krankheitsphase bezeichnete. So ist die grassierende Corona-Pandemie eine Krise im wahrsten Sinne.

Krisen sind der Höhepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung, eine Zuspitzung von Verwerfungen in einem sozialen System. Mit der Krise einher geht die Möglichkeit eines Wendepunkts bzw. eine mit ihm verknüpfte Entscheidungssituation, die sowohl die Chance zur Lösung der Krise als auch die Möglichkeit zu deren Verschärfung beinhaltet.

Die Corona-Pandemie ist eine Krise, der mehrere Verwerfungen zugleich innewohnen. Genauer: Verwerfungen einer sich zuspitzenden Ungleichheit mit Krisengewinnern und Krisenverlierern. Die Pandemie, sie spaltet – auf wirtschaftlicher, sozialer und medizinischer Ebene. Sie akzentuiert gesellschaftliche Abstände und Fragmentierungen und schafft neue Ungleichheiten in der Impfversorgung, aber auch in den sozialen Beziehungen und im Berufsleben.

Die internationale Staatengemeinschaft ist gefordert, doch die politischen Maßnahmen sind durchwachsen, der Wendepunkt der Krise noch nicht in Sicht. Zwar findet die Wirtschaft allmählich auf den Wachstumspfad zurück, doch die Probleme bestehen weiter.

So werden jene, die schon neoliberale Opfer vor der Pandemie waren, zusätzlich geschwächt aus der Krise hervorgehen. Die Pandemie hat das ganze segmentierte System von Arm und Reich überdeutlich manifest gemacht. Abhängig Beschäftigte und Solo-Selbstständige fristen ihr Dasein in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen. Im Homeschooling werden Kinder, die in solchen Lebensverhältnissen aufwachsen, abgehängt – eine Bildungskatastrophe. Und verminderte Einkommen führen sehenden Auges in eine spätere Altersarmut. Gleichzeitig konzentriert sich das Vermögen immer mehr bei den oberen 10 Prozent. Das ist die soziale Spaltung.

Die Verlierer des Lockdowns sind auch vor allem kleine und mittlere Unternehmen. Dort wird es noch zu vielen Insolvenzen kommen, gerade im Gastgewerbe und im Einzelhandel. Innenstädte drohen zu veröden. Gleichzeitig halten sich die großen Konzerne, von üppigen staatlichen Hilfen gepäppelt, schadlos und können wieder saftige Dividenden an die Aktionäre auszahlen. Die amerikanische Paccar, Muttergesellschaft des Lkw-Herstellers DAF, die vom niederländischen Staat 49 Millionen Euro an staatlicher Unterstützung erhielt, schenkte ihren Aktionären die stattliche Summe von 365 Millionen und ihren Managern weitere Millionen an Boni.

Nicht anders in Deutschland: Insgesamt planen die 100 größten deutschen Aktiengesellschaften für das Geschäftsjahr 2020 knapp 40 Milliarden Euro an Gewinnen auszuschütten. Viele der Unternehmen, die jetzt – noch mitten in der Krise – planen, Gewinne auszuschütten, erhielten 2020 und teilweise auch noch immer Staatshilfen. Das ist die wirtschaftliche Spaltung.

Zugleich werden wir Zeuge einer gravierenden globalen Impfungleichheit. Über 85 ärmere Länder werden nicht vor 2023 über ausreichenden Zugang zu Impfstoff verfügen. Zudem wird davon ausgegangen, dass sich reiche Länder, die nur rund 16 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, mit Exklusivverträgen 70 Prozent der 2021 verfügbaren Impfstoffmengen gesichert haben.

Vom Aufruf des UN-Generalsekretärs Anfang des Jahres, die weltweite Zugänglichkeit von Impfstoffen als oberste Priorität für das Jahr 2021 zu begreifen, ist so wenig geblieben wie von den frühen Ankündigungen Ursula Von der Leyens, Impfstoffe als „globales öffentliches Gut“ zu begreifen. Die Welt stehe am Rande eines „katastrophalen moralischen Versagens“, so die unverblümte Diagnose des Direktors der Weltgesundheitsorganisation. Das ist die medizinische Spaltung, die auch epidemiologisch verheerende Folgen hat.

All das stellt die Funktionalität und Legitimität unseres Wirtschafts- sowie Politsystems als solches in Frage. Auf globaler Ebene. Umso mehr wäre in der Krise – und weit über diese Krise hinaus – nicht Rückzug, sondern entschlossene öffentliche Investitionsbereitschaft gefordert. Diese Investitionsbereitschaft bedarf eines handlungsfähigen und -willigen Staats, der die lange vernachlässigte öffentliche Daseinsvorsorge zukunftsfähig macht. Was wir brauchen, ist eine neue Politik öffentlicher Güter, die die sich auftuenden Gräben in der Gesellschaft wieder schließt.