Anne Brorhilker

An der Grenze der Aufklärung angelangt

| 25. April 2024
IMAGO / Dominik Bund

Der außergewöhnliche Rücktritt der Cum-Ex-Aufklärerin Brorhilker offenbart, dass der Kampf gegen Wirtschaftskriminalität mehr als ein strukturelles Problem ist.

Die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker ist Ende April 2024 von ihrem Amt zurückgetreten, hat um ihre Entlassung aus dem Beamtenverhältnis gebeten und sich bei dem Verein „Bürgerbewegung Finanzwende“ beworben. Das sind Schritte, die in dieser Form in Deutschland einmalig und außergewöhnlich sein dürften.

Denn Brorhilker ist nicht irgendwer, sondern wurde von dem US-Wirtschaftsnachrichtenkanal Bloomberg 2021 zu den „50 Most Influential People“ in der Kategorie Finance gezählt. Das Magazin Global Investigations Review prämierte ihr Verfahren vor dem Bundesgerichtshof in der Cum-Ex-Causa mit dem Most Important Court Case of the Year Award. Die Aufzählung lässt sich fortsetzen.

Wer so arbeitet, lebt in außergewöhnlichen Lebensumständen. 2017 wurde sie Abteilungsleiterin der Steuerabteilung mit dem Schwerpunkt Cum-Ex-Verfahren. Zwei Jahre später begann der erste Musterprozess: Verfahren gegen 1700 der bundesweit 1800 Beschuldigten liefen 2023 unter ihrer Leitung, alle bereits erfolgten Anklagen führten zu Schuldsprüchen.

Brorhilker verschonte mit Barclays weder die drittgrößte Bank Groß-Britanniens, noch Merrill Lynch, die als Tochtergesellschaft der Bank of America im Finanzgeschäft ‚wohlhabender Kunden‘ tätig ist. Brorhilker scheute sich nicht, Christian Olearius von der Hamburger Warburg-Bank oder die ehemaligen Chefs der Deutschen Bank Anshu Jain und Josef Ackermann anzuklagen.

Bei diesen mächtigen Gegnern verwundert es nicht, dass sie ständig auf erhebliche Widerstände stieß. Bände aber spricht es, wenn diese auch aus der heimischen Landesregierung kommen. Nur durch erhebliche Öffentlichkeitsarbeit konnte ein von vielen Medien als „Entmachtung“ angesehener Eingriff in die Ermittlungs- und Strafverfolgungsarbeit Brorhilkers durch ihren Vorgesetzten, den grünen NRW-Justizminister Benjamin Limbach, im letzten Jahr verhindert werden. Über 80.000 Menschen hatten eine entsprechende Petition von Finanzwende unterzeichnet – für ökonomische Sachverhalte eine ungewöhnlich hohe Beteiligung.

Nun sieht sich Anne Brorhilker offenbar an der Grenze ihrer Aufklärungsmöglichkeiten im staatsanwaltlichen Ermittlungsbereich angelangt. Denn ihr ging und geht es nach eigener Aussage nicht um Einzeltäter, sondern darum, das Übel an der Wurzel zu packen, das Systemische herauszuarbeiten, das zu dieser immer wieder sich selbst erneuernden Wirtschaftskriminalität führt.

Worin aber liegt dieses „Systemische“? Wo liegen die Grenzen der Aufklärung und Verfolgung tatsächlich? In der unzureichenden Ausstattung der damit betrauten staatlichen Organe? Ja, auch. Im Machtgefälle zwischen Staat und privaten Unternehmen an der Nahtstelle legaler und illegaler Tätigkeit? Noch mehr. Im mangelnden Aufklärungsinteresse des Staates? In wesentlichen Bereichen, ja. Doch was bedeuten dann neue Aufklärungsmaßnahmen wie die Ansiedlung der europäischen Geldwäschebehörde AMLA in Frankfurt am Main überhaupt noch?

Solchen Fragen widmet sich unter anderem der Verein Business Crime Control (BCC), der vor 30 Jahren von Professor Hans See gegründet wurde. See war von 1976 bis 1999 Politikwissenschaftler und Wirtschaftskriminologe an der Fachhochschule Frankfurt am Main.

BCC teilt mit Anne Brorhilker die Empörung darüber, dass „Steuerhinterzieher in großem Stil in Deutschland besser wegkommen als Sozialhilfebetrüger.“ Die Täter fühlten sich „über allem stehend, auch über dem Gesetz“.

BCC führt dies auf ein Bewusstsein und eine Verhaltensweise zurück, die aus der extremen Vermögensungleichheit in Deutschland und den damit verbundenen Macht- und Einflusszuwachs resultieren. Nur so ist es zu erklären, dass erst ein höchstrichterliches Urteil feststellen musste, dass es kriminell ist, nicht gezahlte Steuer vom Staat „zurück“ (dito!) zu verlangen.

Solange sich also die Umverteilung von unten nach oben nicht umkehrt, wird sich daran kaum etwas ändern. „Die extreme Reichtumskonzentration befördert die weitere Oligarchisierung der Gesellschaft“, habe ich in meinem Buch Business Crime – Skandale mit System geschrieben. Dass Ermittlerinnen und Strafverfolger es in Deutschland schwerhaben, Wirtschaftskriminalität aufzuklären und zu ahnden, hat aber weitere tiefergehende strukturelle Gründe.

Das Vollzugsdefizit bestehender Kontrollmöglichkeiten wird inzwischen in vielen Publikationen beklagt und zählt fast schon zum allgemeinen Wissensstand. So wundert es kaum, dass fast alle in den Entscheidungsprozess zum Standort für die neue europäische Geldwäschebehörde AMLA einbezogenen EU-Parlamentarier gegen Deutschland stimmten. (Durchgesetzt wurde es trotzdem von den Regierungsvertretern)

Wesentlich ist, dass die Politik den privaten Unternehmenssektor immer zuerst unter der Brille des „Standortwettbewerbs“ sieht. Der für eine Demokratie fatale Steuer- und Subventionsbetrug wird eher gefördert als überwacht und bekämpft. Das ist ein strukturelles Problem. Ein weiterer struktureller Faktor, der es so schwer macht, Wirtschaftskriminalität aufzuklären, ist die scheinbar unaufhaltsame Privatisierung von Gemeingütern. Sie fördert die Intransparenz finanzieller Transaktionen durch den privaten Vertrauensschutz und begünstigt dadurch Geldwäsche und Steuerbetrug.

Dagegen hilft nur größtmögliche Transparenz – insbesondere bei den großen Konzernen. Wie sich die Wirtschaft in diesem Sinne demokratisieren ließe, dazu gibt es inzwischen viele Vorschläge. Sie reichen von der Memorandum-Gruppe über Professoren wie Hans-Jürgen Urban, Klaus Dörre oder Hans See.

Es sind eine Vielzahl von „dicken Brettern“ zu bohren, wenn das Ziel wirklich sein soll, „das Übel an der Wurzel zu packen, das Systemische herauszuarbeiten“.