Brüsseler Spitzen

Ein Präsident zu viel. Oder zwei?

| 20. April 2021
Rahulla Torabi

Ist “Sofagate” der Anfang einer neuen wunderbaren Freundschaft, die Europa für seinen inneren Frieden braucht?

Die Europäische Union hat fünf Präsidenten: einen für den Rat, einen für die Kommission, einen für das Parlament, einen für die Zentralbank und einen für den Gerichtshof. (Es gibt auch eine beträchtliche Anzahl von Vizepräsidenten; schließlich handelt es sich um 27 Mitgliedstaaten.) Kürzlich, Corona oder nicht, gingen zwei der Präsidenten Europas, die der Kommission und des Rates, auf Reise zu einem anderen Präsidenten, dem einzigen der Türkei. Daraus resultierte ein Skandal, und es lohnt sich, über ihn etwas ausführlicher nachzudenken, um unser Verständnis dieses eigenartigen Wesens, der Europäischen Union, und seiner Aktivitäten zu vertiefen.

Heutzutage, wenn sich Präsidenten treffen, werden Bilder gemacht, und so auch diesmal. Bilder können ein Eigenleben annehmen. Was man sah, waren der türkische Honcho, auf einem Sessel sitzend, und der Präsident des Rates, Michel, ein ehemaliger belgischer Premierminister, auf einem anderen Sessel direkt neben ihm, beide in die Kamera grinsend. Zu ihrer Linken und ihrer Rechten sah man zwei sich gegenüberstehende Sofas, eins besetzt von der Präsidentin der Kommission, von der Leyen, das andere vom türkischen Außenminister. Kaum war das Bild veröffentlicht, wurde das Arrangement von der Presse als „Sofagate“ bezeichnet, so wie heute jeder halbwegs anständige Skandal ein Etikett bekommen muss, das mit -gate endet.

Was war der Skandal? Die Antwort lag auf der Hand: Erdogan, der türkische Misogynist, hatte einen unserer beiden Präsidenten gedemütigt, weil er eine Frau ist. Von der Leyen hätte auch einen Sessel haben müssen, kein Sofa, vielleicht einen Sessel auf der anderen Seite von Erdogan. Dann hätten die beiden europäischen Präsidenten den einen türkischen Präsidenten umrahmt, während der türkische Außenminister von seinem Sofa aus auf ein leeres Sofa auf der anderen Seite des Raumes hätte schauen müssen.

Mitglieder des EU-Parlaments, die in der Pandemie nichts Besseres zu tun hatten, verlangten eine Debatte, und der neue italienische Premierminister, der altbekannte Draghi, bezeichnete Erdogan unter dem Beifall aller rechtdenkenden linksliberalen Pro-Europäer als „Diktator“. Die Gemüter erhitzten sich noch mehr, als inoffizielle Videos auftauchten (wer hat die wohl gemacht?), die zeigten, wie die drei Präsidenten den für ihre Begegnung eingerichteten Salon betraten. Zu sehen war, wie Michel entschlossen zum Ende des Raumes marschierte, sich in einen der Sessel warf, seine Beine ausstreckte und von der Leyen provokant angrinste; diese schnappte hörbar nach Luft und setzte sich dann mit einem resignierten Lächeln auf das Sofa links. (Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie, oder wer auch immer an ihrer Stelle gewesen wäre, Michel zu einem Duell gefordert.)

Dies erforderte natürlich einen „Diskurs“, wie so etwas heute genannt wird. Während Michel bekannt gab, dass er vor Scham nicht mehr schlafen konnte, stellte sich heraus, dass die Angelegenheit eine Vorgeschichte hatte. Anscheinend haben die europäischen Präsidenten getrennte Stäbe, und so scheint es zwei getrennte Vorbesuche in der Türkei gegeben zu haben, um den Boden für das große Präsidententreffen zu bereiten. Ebenfalls beteiligt war der EU-Botschafter in der Türkei, ein deutscher Diplomat (die EU hat einen eigenen diplomatischen Dienst; noch einmal, es gibt 27 Mitgliedsländer). Den Mitarbeitern von der Leyens gelang es, den Speisesaal inspizieren zu dürfen, in dem den drei Präsidenten nach einem guten Arbeitstag ein gutes Abendessen serviert werden sollte (und dann auch wurde). Sie stellten fest, dass die Stühle, auf denen Erdogan und Michel sitzen würden, größer waren als der Stuhl für von der Leyen, was möglicherweise darauf zurückzuführen war, dass sie nicht nur ein bisschen kleiner als die beiden anderen Präsidenten ist. Wie auch immer, ihre Mitarbeiter brachten den türkischen Staat dazu, im Dienste der Gleichstellung der Geschlechter für alle drei Präsidenten gleich kleine Stühle bereitzustellen.

Darüber, was die beiden Vorausdelegationen und der europäische Botschafter in Bezug auf den relativen Status der beiden europäischen Präsidenten getan haben, ist auch dem aufmerksamen Zeitungsleser nichts bekannt. Vielleicht haben sie vermieden, eine so sensible Angelegenheit anzusprechen, und sich stattdessen auf ein diplomatisches Handbuch verlassen, das die EU Nicht-EU-Ländern zur Verfügung stellt, falls sie daran Interesse haben. Dem Handbuch zufolge soll der Präsident des Rates wie ein Staatsoberhaupt behandelt werden und der Präsident der Kommission wie ein Ministerpräsident. Dies hat eine gewisse Logik, da der Kommissionspräsident vom Rat ernannt wird, der Ratspräsident aber nicht von der Kommission. Diese Logik ist natürlich beim EU-Parlament nicht beliebt, was möglicherweise erklärt, warum das Handbuch so wenig bekannt ist und warum das Parlament Sofagate so aufregend fand.

So weit, ist es gut. Doch je länger man darüber nachdenkt, desto bizarrer wird die Geschichte. Erstens, wo war der Hohe Vertreter der Union für auswärtige Angelegenheiten und Sicherheitspolitik (was für ein Titel!), ein Spanier namens Josep Borrell? Hätte er nicht auch anwesend sein sollen? Tatsächlich hätte er auf dem von der Leyen-Sofa sitzen und dem türkischen Außenminister in die Augen schauen können, wie es für ihn angemessen gewesen wäre, und natürlich hätte sein Kollege in seine Augen zurückgeschaut. Diejenigen, die noch Zeitungen lesen, werden sich aber vielleicht daran erinnern, dass Borrell kürzlich Russland besucht hatte, ohne einen Präsidenten in seinem Gefolge, vor dem Hintergrund wachsender Spannungen mit Russland infolge von Bidens Aufstieg zur US-Präsidentschaft.

Die Reise wurde zu einer Katastrophe, nachdem die EU und Deutschland zuvor bekannt gegeben hatten, dass sie ihre Sanktionen wegen der Krim nicht beenden und möglicherweise sogar weitere Sanktionen wegen Navalny hinzufügen würden. Nachdem Borrell von seinem russischen Amtskollegen öffentlich gedemütigt worden war – so wurde das wenigstens beschrieben –, scheint man ihn für eine Weile, wenn nicht für immer, kaltgestellt zu haben. Könnte es also sein, dass zwei europäische Präsidenten auf Reise gehen mussten, damit der türkische Außenminister nicht auf ein leeres Sofa schauen musste, und von der Leyen mitkam, um ein sonst sich öffnendes asymmetrisches Schwarzes Loch zu füllen?

Dies mag weit hergeholt scheinen, obwohl man bei der EU oft nicht von weit genug herholen kann. Schließlich muss hier nicht nur erklärt werden, warum gleich zwei Präsidenten nach Ankara gereist sind, sondern warum überhaupt Präsidenten (Hat der Hohe Vertreter etc. etc. denn keinen Stellvertreter?).

Unter der Annahme, dass die Doppelreise nach Ankara nicht nur zur Erholung von den Strapazen des belgischen Lockdowns arrangiert wurde, könnte man vermuten, dass der diplomatische Overkill dazu diente, um Vergebung für die harten Worte der EU nachzusuchen, als sich Premierminister Erdogan vor einigen Jahren in Präsident Erdogan und kurze Zeit später in Diktator Erdogan verwandelte – mit anderen Worten, dass der Besuch den Anfang einer neuen wunderbaren Freundschaft dokumentieren sollte.

Ein Grund, warum die EU so etwas für wünschenswert halten könnte, wäre die wichtige Funktion, die Erdogan für den inneren Frieden der EU nie wahrzunehmen aufgehört hat: nämlich es ihr zu ermöglichen, ein liberales Einwanderungs- und Asylregime aufrechtzuerhalten, das einigen Wählern gefällt, ohne dass sie es wirksam werden lassen müsste, was anderen Wählern definitiv nicht gefiele. Was Erdogan dazu beiträgt ist, dass er Millionen von Flüchtlingen von einer Weiterreise in das Einwanderungswunderland Europa ab- und in der Türkei festhält – hauptsächlich Syrer, die durch einen endlosen Bürgerkrieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden, einen Bürgerkrieg, der durch die Forderung „des Westens“ nach einem Regimewechsel in Gang gehalten wird, den herbeizuführen er nicht einmal versuchen kann. Wie man hört, lässt er sich diesen Service mit rund drei Milliarden Euro pro Jahr bezahlen. Würde er damit aufhören, so würden Hunderttausende syrische und andere Flüchtlinge die europäische, d.h. deutsche, Großzügigkeit in Anspruch zu nehmen versuchen.

Damit würden sie die europäischen Regierungen und die EU in die Verlegenheit bringen, sich entweder einem Aufstand von rechts mit ungewissem Ergebnis stellen oder einen Kampf mit der liberalen Linken um eine realistische Reform eines unrealistischen, politisch nicht nachhaltigen rechtlichen Regimes beginnen zu müssen, das keinem anderen Zweck dient und dienen kann als dem Signalisieren von Tugendhaftigkeit, nach innen wie nach außen.

Mit Erdogan als robustem Türwächter, eingesetzt 2016 von Angela Merkel als De-facto-Präsidentin der EU, kann das „freundliche Gesicht“ (Merkel) Europas gerettet werden, ohne dass es mehr werden muss als eben das: ein Gesicht. Zwei Präsidenten, und vielleicht ein bisschen mehr Geld, jetzt wo Erdogan klamm geworden ist und die Next Generation EU herausgefunden hat, wie man aus nichts Geld macht, sind das Mindeste, was Europa Erdogan für seine Hilfe anbieten kann, als beruhigende Rückversicherung in einem Jahr, in dem seine alte Verbündete Angela Merkel angeblich in den Ruhestand geht.

Ohne jedes Sofa musste an jenem schicksalhaften Tag Osman Kavala auskommen, ein reicher türkischer Bürger, der sein Vermögen kulturellen, politischen und pädagogischen Projekten in seinem Land widmet. Kavala versteht sich als Brückenbauer zwischen der Türkei und Westeuropa und arbeitet mit türkischen und europäischen Partnern für Demokratie in seinem Land und für friedliche Beziehungen zwischen der Türkei und ihren europäischen Nachbarn. Seit Oktober 2017 verbringt er seine Zeit in Einzelhaft, ursprünglich beschuldigt, die Demonstrationen im Gezi-Park drei Jahre zuvor angestiftet zu haben. 2019 wurde er schließlich vor Gericht gestellt und im Februar 2020 von allen Anklagen freigesprochen. Als er das Gerichtsgebäude verlassen wollte, wurde er erneut verhaftet, jetzt wegen angeblicher Beteiligung am sogenannten Gülen-Putsch von 2016. Die Richter, die ihn freigesprochen haben, stehen nun selbst wegen Unterstützung des Terrorismus unter Verdacht.

Im Dezember 2020, vier Monate vor der Türkei-Reise der beiden europäischen Präsidenten, begann sein zweiter Prozess. Die Staatsanwaltschaft fordert eine lebenslange Haftstrafe für die Teilnahme am Putsch und weitere 20 Jahre für Spionage, offenbar – Genaues weiß man nicht – in Zusammenhang mit seiner Zusammenarbeit mit westeuropäischen Stiftungen und Kulturorganisationen. Der vorherige Freispruch wurde aufgehoben und der Fall soll erneut verhandelt werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und mehrere andere europäische Gremien, darunter auch das EU-Parlament, haben wiederholt die sofortige Freilassung von Kavala gefordert, ohne Erfolg. Stattdessen hat Michel und von der Leyens türkischer Kollege Kavala mehrfach öffentlich für schuldig erklärt.

Da kommen Fragen auf. Zum Beispiel: Hätten die beiden Präsidenten ihr Erscheinen in Erdogans Wohnzimmer nicht von Kavalas vorheriger Freilassung abhängig machen können, sollen, müssen? Wie konnte Sofagate statt Kavalagate zu Europas Skandal der Woche werden? Und warum verhängt „Europa“, verkörpert durch die EU, Sanktionen gegen Putin wegen Nawalny, während Erdogan trotz Kavala Besuch von zwei Präsidenten gleichzeitig erhält?