Braucht Europa eine eigenständige nukleare Abschreckung?
Aus Deutschland und Polen erklingen Forderungen nach einer eigenen Atombombe. Doch die Folgen für die regionale Stabilität wären unkalkulierbar.
Mehrfach hat der französische Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagen, mit den Verbündeten einen strategischen Dialog über die europäische Rolle der nuklearen Abschreckung Frankreichs zu führen, um auf dem Weg zu größerer strategischer Autonomie voranzukommen. Interessierte europäische Partner könnten in die Übungen der französischen Abschreckungskräfte eingebunden werden. Friedrich Merz hat noch am Abend der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 angekündigt, dies aufgreifen zu wollen. Er hat es allerdings als Angebot einer „nuklearen Teilhabe“ missverstanden.
Aus Polen und aus Deutschland erklingen indes auch Forderungen nach einer eigenen Atombombe. Im Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24.3. 2025 legt Reinhard Müller nahe, Deutschland müsse „alte Fesseln lösen“. Gemeint ist der Status als Nicht-Nuklearmacht, der im Zwei-plus-Vier-Vertrag und im Vertrag über die Nukleare Nichtverbreitung (NVV) verankert ist. „Eine Bindung …, die dem Land schadet oder nur einem Gegner und bisherigen Vertragspartner dient, kann keinen Bestand haben“, schreibt Müller.
Derartige Spekulationen sind nicht geeignet, die europäische und globale Stabilität zu fördern. Derzeit steht ja keineswegs fest, dass sich die USA völlig aus der NATO zurückziehen werden. Solche Gedankenspiele könnten jedoch von der Trump-Regierung als Ermunterung dazu aufgefasst werden. Zudem gefährden sie auch das internationale System der Nichtverbreitung von Kernwaffen – mit unkalkulierbaren Folgen für die regionale Stabilität, vor allem im Nahen Osten und in Ostasien.
Ein Ausstieg aus dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag würde Deutschland international isolieren
Deutschland hat sich im Zwei-Plus-Vier-Vertrag von 1990 und im Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) verpflichtet, auf die Herstellung, den Erwerb und den Besitz von Atomwaffen zu verzichten und ihre Stationierung in den Beitrittsgebieten nicht zuzulassen. Dass Deutschland eine grundlegende Komponente seiner Existenzsicherung den USA überantwortet hat, war aus Sicht unserer europäischen Partner ein wichtiger Beitrag für die Wahrung der innereuropäischen Stabilität.
Im Falle eines Vertragsbruchs würden wir diese gefährden und uns international isolieren. Das globale Nichtverbreitungsregime könnte als Folge davon erodieren und die Anstrengungen, Atomwaffen weiter zu reduzieren, würden konterkariert werden. Die Folge wäre sehr wahrscheinlich eine Kettenreaktion, die einige ohnehin fragile Regionen weiter destabilisieren könnte. Diese Überlegungen gelten natürlich auch für ähnliche Ambitionen in Polen.
Die „gegenseitig gesicherte Vernichtungsfähigkeit“ der Atommächte durch strategische Atomwaffen
Was solche Spekulationen außerdem außer Acht lassen: Die „erweiterte nukleare Abschreckung“ litt schon in der Vergangenheit an einer konzeptionellen Glaubwürdigkeitslücke. Das Konzept besagt im Kern, dass eine Atommacht einer anderen den Einsatz von Atomwaffen androht, falls sie eine verbündete Nicht-Atommacht angreift. Allerdings verfügen die fünf Atommächte, die im NVV als solche anerkannt werden – also die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – über überlebensfähige Atomwaffen mit „strategischer“ Reichweite. Das heißt, sie können das Territorium der anderen Atommächte mit einem verheerenden Gegenschlag auch dann noch vernichten, wenn ihr Territorium selbst Opfer eines „strategischen“ Atomangriffs geworden ist.
Diese „gegenseitige gesicherte Vernichtungsfähigkeit“ schreckt vor einem strategischen Erstschlag ab. Daher haben sich die „P 5“ darauf verständigt, dass „ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“. Somit ist die Androhung eines „strategischen“ Nuklearschlags als Antwort auf einen Angriff einer Atommacht gegen einen verbündeten Nicht-Kernwaffenstaat irrational, denn sie gefährdet das eigene Überleben.
Taktische Atomwaffen für den Einsatz außerhalb des „Sanktuariums“ der Staatsgebiete der Atommächte
Um die Glaubwürdigkeit einer nuklearen Eskalationsdrohung dennoch zu erhalten, haben die USA im Kalten Krieg vor allem auf die Rolle „taktischer“ Atomwaffen gesetzt. Sie konnten entweder auf dem „Gefechtsfeld“ – mit Deutschland im Zentrum – oder im geographischen Glacis zwischen dem Bündnisgebiet und den Grenzen der damaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes zur Sowjetunion eingesetzt werden. Solche „Ersteinsätze“ sollten militärische Ziele „glaubwürdig“, also außerhalb des „Sanktuariums“ der Sowjetunion zerstören, den Angriff unterbrechen und dem Angreifer die Risiken einer weiteren Eskalation vor Augen führen, um den Krieg zu stoppen.
Allerdings konnte der Gegner mit den gleichen Mitteln zurückschlagen. Denn auch der potenzielle Angreifer verfügte über taktische Kernwaffen. Somit bestand die Gefahr eines atomaren Gefechtsfeldkrieges, den Deutschland und seine Nachbarn wohl kaum überlebt hätten. Deutschland wollte daher keinem NATO-Konzept zustimmen, das exzessive „taktische“ Kernwaffeneinsätze vorsah. Es beharrte vielmehr auf einer Strategie, die eine rasche Eskalation in die strategische Ebene androhte. Diese Option war aber für die USA nicht akzeptabel.
Die NATO-Strategie der „Flexiblen Reaktion“
Da es keinen für beide Seiten akzeptablen Ausweg aus diesem Dilemma gab, entschied sich die NATO für eine Strategie der „Flexiblen Reaktion“. Sie war ein Kompromiss, der sich nicht auf ein bestimmtes Vorgehen festlegte, sondern alle Optionen offenhielt und sie auch ausplante. Im Ergebnis waren bis zu 7.000 taktische Kernwaffen in Europa stationiert, davon 5.000 allein in Westdeutschland. Aus der konzeptionellen Not wurde eine Tugend entwickelt: Die Risiken einer nuklearen Eskalation seien für den Gegner „unkalkulierbar“; die möglichen Konsequenzen eines Angriffs seien also für ihn nicht berechenbar.
Tatsächlich war es aber möglich, Einsatzoptionen auszuschließen, die zur Zerstörung der nuklearen Schutzmacht geführt hätte, sofern sie rational handelte. Letztlich waren sich alle Bündnispartner darüber im Klaren, dass im Konfliktfall nur die Atommacht USA allein über das tatsächliche Vorgehen entscheiden würde.
Um die deutsche Mitsprache bei der Nuklearplanung im Frieden und bei operativen Entscheidungen im Ernstfall zu erhöhen, wurden neben der Stationierung von Atomwaffen in Deutschland auch die deutsche nukleare Teilhabe und eine deutsche Sonderrolle in der Nuklearplanung der NATO vereinbart. Die Teilhabe bedeutete, dass deutsche Trägersysteme mit atomaren Gefechtsköpfen der USA ausgestattet werden konnten, sobald der US-Präsident sie freigab. Sie waren in Deutschland unter der Aufsicht von US-Spezialteams gelagert. Die Beteiligung weiterer Verbündeter bei der Stationierung und Teilhabe mit eigenen Trägersystemen sollte die Risiko- und Lastenteilung im Bündnis gewährleisten.
Die neue geopolitische Lage in Europa
Seit dem Kalten Krieg hat sich jedoch die geopolitische Lage in Europa entscheidend verändert: Die Erfolge der Rüstungskontrolle in den 1990er Jahren hatten den drastischen Abbau der konventionellen und nuklearen Kräfte zur Folge. Heute gibt es noch etwa 100 „substrategische“ Atomwaffen der USA in Europa, die in Deutschland, Italien, den Niederlanden und Belgien gelagert sind. Die Sowjetunion ist kollabiert, Russland hat sich komplett aus den früheren Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes und aus den Baltischen Staaten zurückgezogen; die NATO hat diese Räume aufgenommen und sich über 1.000 km nach Osten bis an die Grenzen Russlands ausgeweitet. Der Beitritt Finnlands 2023 hat die gemeinsamen Grenzen auf ca. 2.700 km Länge ausgedehnt.
Ein geographisches Glacis dazwischen, einen neutralen Raum, der als Puffer zwischen den Konfliktparteien fungieren könnte, gibt es kaum noch, doch tobt ein Krieg um die Ukraine. Das Konzept der „erweiterten nuklearen Abschreckung“ ist also noch schärfer als im Kalten Krieg mit dem konzeptionellen Dilemma konfrontiert, wie die Glaubwürdigkeit der Eskalationsdrohung gesichert werden kann: Wenn Atomangriffe gegen das „Sanktuarium“ einer strategischen Gegenmacht als irrational ausscheiden, dann bleiben nur „substrategische“ Angriffe in einer geographischen Grauzone davor, nun also vor allem auf Bündnisgebiet.
Deutschland als strategische Pufferzone Frankreichs
Mit solchen Dilemmata ist auch Frankreich konfrontiert, das nun die „europäische Rolle“ der französischen Atommacht betont. Im Kalten Krieg kritisierte es den Strategiewechsel der USA und der NATO zur „flexiblen Antwort“. Es trat aus der militärischen Integration der NATO aus und hielt am Konzept der „massiven Vergeltung“ mit nationalen Atomwaffen fest, also eines strategischen Atomschlags gegen einen Angreifer, der französisches Territorium bedroht. Doch konnte es sich gleichzeitig hinter der NATO-Vorneverteidigung positionieren.
Paris sah den Einsatz nationaler Kräfte in Deutschland nur dann vor, wenn sowjetische Truppen diese Verteidigung durchbrochen hätten und weiter nach Westen marschierten. Für diesen Fall plante es zunächst den Einsatz taktischer Atomwaffen als letzte Option vor einem strategischen Erstschlag. Deutschland spielte in der Strategie Frankreichs also die Rolle eines strategischen Glacis, um einen Angriff auf Frankreich zu stoppen.
Wenn Frankreich heute die „europäische Rolle“ französischer Kernwaffen betont, dann muss es erklären, warum die Androhung eines raschen strategischen Erstschlags gegen den potenziellen Angreifer Russland glaubwürdig sein soll, auch wenn Frankreich dann durch einen russischen Gegenschlag zerstört würde. Während Russland mit über 4.000 Atomwaffen etwas mehr in den aktiven Beständen besitzt als die USA, verfügt Frankreich über ca. 240 strategische Sprengköpfe auf U-Boot-gestützten Raketen.
Paris ist sich dieses Dilemmas durchaus bewusst und droht vor der strategischen Eskalation einen „letzten Warnschlag“ mit „substrategischen“ Kernwaffen an. Dazu hält es 40 bis 50 atomar bewaffnete Marschflugkörper mittlerer Reichweite vor, die es von Kampfflugzeugen aus einsetzen kann. Paris geht davon aus, dass ihr Einsatz als „letzte Warnung“ eine glaubwürdigere Drohung wäre und so ein unmittelbarer strategischer Gegenschlag vermieden werden könne.
Doch um glaubwürdig zu sein, muss der taktische Ersteinsatz auch militärische Wirksamkeit demonstrieren. Wenn beides sichergestellt werden soll (Vermeidung eines strategischen Gegenschlages und glaubwürdige Drohung), so kann diese „letzte Warnung“ nur auf Bündnisgebiet stattfinden. Diese Wiederholung der „Glacis-Strategie“ Frankreichs auf Kosten von Bündnispartnern, wie sie im Kalten Krieg geplant war, dürfte für die Nachbarn und insbesondere Deutschland keine akzeptable Option darstellen.
Frankreich kann das derzeitige Arrangement Deutschlands mit den USA zur nuklearen Teilhabe nicht ersetzen
Für eine nukleare Teilhabe von Verbündeten, die das derzeitige Arrangement mit den USA ersetzen könnte, fehlt es Frankreich am politischen Willen, an einer glaubwürdigen Strategie und an technischen Mitteln. Auch Deutschland wäre darauf technisch nicht vorbereitet, zumal es sich 2022 dafür entschieden hat, für diese Rolle amerikanische Jagdbomber F-35 als Ersatz für die veralteten Tornados zu beschaffen.
Präsident Macrons Angebot, gemeinsam die europäische Bedeutung der französischen Atommacht zu erörtern, sollte nicht als Angebot zur nuklearen Teilhabe missverstanden werden. Dies wäre in Frankreich selbst politisch nicht durchsetzbar. Die französische Doktrin sieht Atomwaffen als nationale Sicherheitsvorsorge und als Selbstvergewisserung der Großmachtrolle Frankreichs vor.
Auch der Vorschlag, einige französische Jagdbomber mit substrategischen Waffen in Deutschland zu stationieren, kommt zur Unzeit. Er kann die USA dazu ermutigen, sich aus Europa zurückzuziehen, und würde die europäische Balance weiter unterminieren. Moskau würde eine Vorwärtsstationierung französischer Atomwaffen als strategische Provokation bewerten.
Kann die bloße Existenz französischer Atomwaffen Russland vom Angriff auf Frankreichs Nachbarländer abschrecken?
Eine andere Frage ist es, inwieweit die pure Existenz französischer Atomwaffen geeignet ist, Russland auch vor einem Angriff auf Frankreichs Nachbarländer abzuschrecken, die Paris als Sicherheitsglacis betrachtet. Ein nuklearer Angriff auf sie würde schon allein wegen ihrer geographischen Nähe die Interessen Frankreichs unmittelbar berühren, ganz zu schweigen von den Auswirkungen von Kernwaffeneinsätzen in Mitteleuropa. In der Tat wäre Frankreich von einem Krieg in Europa unmittelbarer betroffen als die USA in ihrer globalen Insellage.
Aber würde die ungleich größere Betroffenheit Frankreichs die Glaubwürdigkeit einer erweiterten Abschreckung tatsächlich erhöhen? Und wie weit reicht diese geographische Begründung für eine erweiterte Abschreckung zugunsten von Verbündeten? Und was würde sich tatsächlich ändern gegenüber der Lage, die heute schon besteht?
Frankreich ist ein Mitgliedstaat der NATO. Zwar hat es die eigenen Atomstreitkräfte nicht in die NATO-Planung integriert, sondern behält sie ausschließlich der nationalen Planungshoheit vor; aber die NATO betrachtet die französischen Atomwaffen dennoch als Teil der gemeinsamen Abschreckung und betont die Rolle der drei unabhängigen nationalen Entscheidungszentren, nämlich Washington, Paris und London, als Beitrag zu Unkalkulierbarkeit der Bündnisreaktion.
Sicherheit durch Dialog und Rüstungskontrolle
Statt in der ohnehin gespannten Konfliktlage in Europa die Diskussion um die Rolle von Atomwaffen, neue Optionen und erweiterte Stationierungsräume weiter zu beschleunigen, halte ich es für geboten, einen Dialog darüber zu führen, wie die Risiken militärischer Konfrontationen reduziert werden können und wie die Nichtverbreitung von Atomwaffen global gefördert werden kann.
Ein Atomkrieg würde nicht aus heiterem Himmel entstehen. Er könnte sich aber aus einem konventionellen Konflikt entwickeln, in dem eine Seite ihre Existenz bedroht sieht. Daher ist es an der Zeit, über die Verhinderung von militärischen Zwischenfällen und deren Eskalation zu sprechen und über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen, um die militärische Konfrontation abzubauen. Regionale Rüstungskontrollmaßnahmen sind insbesondere in der langen NATO-Russland Kontaktzone geboten, um einen Krieg zu verhindern und künftig eine stabile europäische Sicherheitsordnung wiederherzustellen.