Ukraine-Krieg

Die Rückkehr des Königs

| 03. Mai 2022

Wenn es jemals eine Frage war, wer in Europa das Sagen hat, die NATO oder die Europäische Union, dann hat der Krieg sie geklärt – zumindest für die absehbare Zukunft.

Einst beklagte Henry Kissinger, dass es in Europa keine gemeinsame Telefonnummer gäbe, dass man viel zu viele Anrufe tätigen müsse, um etwas zu erreichen, und dass die Befehlskette viel zu umständlich sei und vereinfacht werden müsse. Nach dem Ende von Franco und Salazar kam es dann zur Süderweiterung der EU, wobei Spanien und Portugal zugleich auch der NATO beitraten, was Kissinger und die Vereinigten Staaten sowohl vor dem Eurokommunismus bewahrte als auch vor einer Machtübernahme durch ein anderes Militär als das der NATO.

Später, in der entstehenden Neuen Weltordnung nach 1990, war es Aufgabe der EU, die meisten ehemaligen Mitgliedstaaten des untergegangenen Warschauer Paktes aufzunehmen und sie auf die NATO-Mitgliedschaft vorzubereiten, also die neuen Mitglieder des kapitalistischen Lagers wirtschaftlich und politisch zu stabilisieren und ihre Nationen- und Staatsbildung so zu lenken, dass sie bereit und fähig wurden, Teil des "Westens" zu werden – angeführt von den Vereinigten Staaten in einer nunmehr unipolaren Welt.

In den darauffolgenden Jahren wuchs die Zahl der osteuropäischen Länder, die auf eine Aufnahme in die EU warteten, wobei sich die Vereinigten Staaten für ihre Aufnahme einsetzten. Mit der Zeit erlangten Albanien, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien den offiziellen Kandidatenstatus, während das Kosovo, Bosnien-Herzegowina und Moldawien bis heute in der Warteschleife verblieben. Unterdessen nahm der Enthusiasmus unter den EU-Mitgliedstaaten ab, insbesondere in Frankreich, das die "Vertiefung" der EU ihrer "Erweiterung" vorzog und vorzieht. Dies entsprach der speziellen französischen finalité des "immer engeren Zusammenschlusses der Völker Europas": ein politisch und sozial relativ homogener Staatenverbund, der in der Lage ist, gemeinsam eine unabhängige, selbstbestimmte, "souveräne" und vor allem von Frankreich geführte Rolle in der Weltpolitik zu spielen ("ein unabhängigeres Frankreich in einem stärkeren Europa", wie es der gerade wiedergewählte französische Präsident gerne ausdrückt).

Voraussetzung dafür war, dass die wirtschaftlichen Kosten für die Angleichung der neuen Mitgliedstaaten an die europäischen Standards und die Anforderungen an einen von außen gelenkten erforderliche Aufbau von Institutionen überschaubar blieben; schließlich hatte die EU bereits mit den anhaltenden wirtschaftlichen Unterschieden zwischen den Mittelmeerländern und den Ländern des Nordwestens zu kämpfen, ganz zu schweigen von der tiefen Verbundenheit einiger der neuen Mitglieder im Osten mit den Vereinigten Staaten. So blockierte Frankreich den EU-Beitritt der Türkei, eines langjährigen NATO-Mitglieds (was sie auch bleiben wird, obwohl sie gerade einen Osman Kavala ins Gefängnis geschickt hat, lebenslänglich in Einzelhaft ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung), und mehrerer Staaten auf dem Westbalkan, wie Albanien und Nordmazedonien, nachdem es nicht gelungen war, den Beitritt von Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Slowenien und Ungarn in der ersten Welle der Osterweiterung im Jahr 2004 zu verhindern. Vier Jahre später verhinderten Sarkozy und Merkel die von den Vereinigten Staaten unter George Bush dem Jüngeren geforderte Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO, in der Befürchtung, dass dem eine Aufnahme in die Europäische Union hätte folgen müssen.

Mit dem Krieg änderte sich das Spiel. Selenskyjs Fernsehansprache vor den versammelten EU-Regierungschefs löste eine Art von Begeisterung aus, die in Brüssel zwar erwünscht, aber selten zu erleben ist, und seine Forderung nach vollständiger EU-Mitgliedschaft, tutto e subito, rief nicht enden wollenden Beifall hervor. Übereifrig wie immer reiste von der Leyen nach Kiew, um Selenskyj den langen Fragebogen zu überreichen, den Beitrittskandidaten ausfüllen müssen, um das Aufnahmeverfahren einzuleiten.

Während die nationalen Regierungen normalerweise Monate, wenn nicht gar Jahre brauchen, um die in dem Fragebogen geforderten komplexen Angaben zusammenzustellen, versprach Selenskyj trotz des Belagerungszustands in Kiew, die Arbeit in wenigen Wochen zu erledigen, was er auch tat. Noch unbekannt sind seine Antworten auf Fragen wie die Behandlung ethnischer und sprachlicher Minderheiten, vor allem der russischen, das Ausmaß der Korruption und der Zustand der Demokratie, zum Beispiel die Rolle der nationalen Oligarchen in den politischen Parteien, im Parlament und in der Regierung.

EU als zivile Hilfskraft der NATO

Wenn die Ukraine so schnell aufgenommen wird wie versprochen und wie es ihre Regierung und die der Vereinigten Staaten erwarten, gibt es keinen Grund mehr, nicht nur den Staaten des westlichen Balkans, sondern auch Georgien und Moldawien, die sich zusammen mit der Ukraine beworben haben, die Mitgliedschaft zu verweigern. Alle zusammen werden den anti-russischen und pro-amerikanischen Flügel innerhalb der EU stärken, der heute von Polen angeführt wird, seinerzeit wie die Ukraine ein eifriger Teilnehmer an der "Koalition der Willigen", die von den Vereinigten Staaten zum Zweck eines aktiven nation-building im Irak zusammengestellt wurde.

Was die EU als solche betrifft, so wird sie durch den Beitritt der Ukraine mehr denn je zu einer Art Vorschule für künftige NATO-Mitglieder. Dies gilt selbst dann, wenn die Ukraine im Rahmen eines möglichen Friedensschlusses offiziell für neutral erklärt werden muss, was einen direkten NATO-Beitritt verhindern würde. (Tatsächlich wurde die ukrainische Armee nach 2014 unter amerikanischer Leitung von Grund auf neu aufgebaut, so dass sie 2021 erreicht hatte, was im NATO-Jargon als "Interoperabilität" mit den der NATO unterstellten Streitkräften bezeichnet wird).

Neben der Aufgabe, der NATO neue Mitglieder zuzufüttern, fällt es der EU in ihrem neuen Status als zivile Hilfskraft der NATO zu, Wirtschaftssanktionen auszuarbeiten, die dem russischen Feind schaden, während sie Freunde und Verbündete so weit wie nötig verschonen. So wie die NATO die Waffen kontrolliert, soll die EU die Häfen kontrollieren. Von der Leyen, mit dem für sie charakteristischen Enthusiasmus, ließ die Welt bereits Ende Februar wissen, dass die in der EU beschlossenen Sanktionen die wirksamsten aller Zeiten sein und "die industrielle Basis Russlands Schritt für Schritt abtragen“ würden. Vielleicht hatte sie als Deutsche so etwas wie einen Morgenthau-Plan im Sinn, wie er Beratern von Franklin D. Roosevelts vorgeschwebt hatte, um das besiegte Deutschland für immer auf eine Agrargesellschaft zu reduzieren. Dieses Projekt wurde bald fallen gelassen, spätestens als die Vereinigten Staaten erkannten, dass sie (West-)Deutschland für ihre "Eindämmung" der Sowjetunion im Kalten Krieg brauchen würden.

Versagen bei der Planung von Sanktionen

Es ist nicht klar, wer von der Leyen sagte, dass sie es nicht übertreiben solle; von „abtragen“ war jedenfalls nicht mehr die Rede, vielleicht weil das, was damit gemeint war, auf eine aktive Kriegsteilnahme hätte hinauslaufen können. Unabhängig davon stellte sich bald heraus, dass die Kommission, ungeachtet ihrer hohen Meinung von ihren technokratischen Fähigkeiten, bei der Planung von Sanktionen genauso versagte wie bei der Planung makroökonomischer Konvergenz. In bemerkenswerter eurozentrischer Manier schien die Kommission vergessen zu haben, dass es Teile der Welt gibt, die keinen Grund sehen, sich einem vom Westen ausgerufenen Boykott Russlands anzuschließen; für sie sind militärische Interventionen nichts Ungewöhnliches, einschließlich Interventionen des Westens für den Westen.

Als es darauf ankam, fiel es der EU darüber hinaus schwer, ihre Mitgliedstaaten anzuweisen, was sie nicht kaufen oder verkaufen sollten; Forderungen an Deutschland und Italien, die Einfuhr von russischem Gas umgehend einzustellen, verhallten ungehört, da beide Regierungen darauf bestanden, dass nationale Arbeitsplätze und nationaler Wohlstand ebenfalls zu berücksichtigen seien. Fehlkalkulationen gab es sogar im Finanzbereich, wo der Rubel in letzter Zeit sogar gestiegen ist – und zwar um etwa 30 Prozent zwischen dem 6. und 30. April, trotz immer raffinierterer Sanktionen gegen russische Banken, einschließlich der russischen Zentralbank.

Kehrt ein König zurück, kommt die Säuberung 

Wenn ein König zurückkehrt, ist eine Säuberung fällig, zur Beseitigung der Anomalien, die sich in seiner Abwesenheit angesammelt haben. Alte Rechnungen werden neu vorgelegt und kassiert, mangelnde Loyalität, wie in der königsfreien Zeit zutage getreten, wird bestraft, unbotsame Ideen und unpassende Erinnerungen werden ausgetilgt, und die Ecken und Winkel des Staates werden von den politischen Abweichlern gesäubert, die sich in der Zwischenzeit in ihnen eingenistet haben. Symbolische Maßnahmen vom Typ McCarthy sind hilfreich, denn sie verbreiten Angst unter potenziellen Abweichlern.

Überall im Westen werden heute Pianisten, Tennisspieler oder Relativitätstheoretiker, die zufällig aus Russland stammen und weiter spielen wollen, was sie spielen, zu öffentlichen Äußerungen gedrängt, die ihr Leben und das ihrer Familien in der Heimat bestenfalls schwierig machen würden. Investigative Journalisten entdecken einen Abgrund an philanthropischen Spenden russischer Oligarchen für Musik- und andere Festivals, Spenden, die in der Vergangenheit willkommen waren, aber jetzt als Untergrabung der künstlerischen Freiheit empfunden werden, natürlich anders als die philanthropischen Spenden ihrer westlichen Oligarchenkollegen. Usw. usw.

Allgemein reduziert sich der öffentliche Diskurs vor dem Hintergrund wuchernder Loyalitätsschwüre auf die Verbreitung der Wahrheit des Königs, und allein seiner Wahrheit. Putin, oder womit auch immer wir es zu tun haben, zu verstehen – nach Motiven und Gründen zu forschen, nach einem Anhaltspunkt zu suchen, wie man vielleicht ein Ende des Blutvergießens aushandeln könnte – wird mit Putin verzeihen gleichgesetzt; es "relativiert", wie die Deutschen sagen, die Gräueltaten der russischen Armee, indem man versucht, sie mit anderen als militärischen Mitteln zu beenden. Wie man jetzt weiß bzw. besser nicht bestreitet, gibt es nur einen Weg, mit einem Wahnsinnigen umzugehen; über andere Wege nachzudenken fördert seine Interessen und kommt daher einem Verrat gleich. (Ich erinnere mich an Lehrer in den 1950er Jahren, die der jungen Generation zu verstehen gaben, dass "die einzige Sprache, die der Russe versteht, die Sprache der Faust ist".)

Das Verbrechen des "Whataboutism"

Gedächtnismanagement ist hier von zentraler Bedeutung: Erwähnen Sie nie die Minsker Abkommen von 2014 und 2015 zwischen der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland, fragen Sie nicht, was aus ihnen geworden bzw. nicht geworden ist und warum, vergessen Sie das Programm für eine verhandelte Konfliktlösung, mit dem Selenskyj 2019 von fast drei Vierteln der ukrainischen Wähler gewählt wurde, ebenso wie die amerikanische Antwort noch 2021 mit Megaphon-Diplomatie auf die russischen Vorschläge für ein europäisches Sicherheitssystem. Vor allem aber erwähne unter keinen Umständen die verschiedenen amerikanischen "Spezialoperationen" der jüngsten Vergangenheit, wie im Irak und in Falludscha innerhalb des Iraks (800 zivile Opfer allein in wenigen Tagen); damit begeht man laut deutschem Twitter das Verbrechen des "Whataboutism", was angesichts der "Bilder aus Mariupol" moralisch völlig indiskutabel ist.

Überall im Westen richtet sich die Politik der imperialen Restoration gegen alles und jeden, der von der amerikanischen Position gegenüber Russland und der Sowjetunion abweicht oder in der Vergangenheit abgewichen ist. Hier wird heute die Grenze zwischen der westlichen Gesellschaft und ihren Feinden, zwischen Gut und Böse gezogen, eine Grenze, an der nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit gesäubert werden muss.

Besonderes Augenmerk gilt dabei Deutschland, dem Land, das seit der Ostpolitik Willy Brandts und der deutschen Anerkennung der Nachkriegs-Westgrenze Polens unter amerikanischem (Kissinger-)Verdacht steht, eine eigene Stimme in Fragen der europäischen und seiner eigenen, nationalen Sicherheit haben zu wollen, vorerst innerhalb der NATO und der Europäischen Gemeinschaft, in Zukunft aber möglicherweise auf eigene Faust. Dass Schröder drei Jahrzehnte nach Brandt wie Blair, Obama und so viele andere nach seinem Ausscheiden aus dem Amt seine politische Vergangenheit monetarisierte, wurde erst zum Problem, als es als Beweis für einen weiteren Fall von Ungehorsam herangezogen werden konnte, anschließend an Schröders Weigerung, zusammen mit Chirac, sich dem amerikanischen Aufgebot zum Einmarsch in den Irak anzuschließen und damit genau dasselbe Völkerrecht zu brechen, das jetzt von Putin gebrochen wird. (Dass Merkel als damalige Oppositionsführerin wenige Tage vor dem amerikanischen Überfall in die Welt hinausposaunte, wohlgemerkt aus Washington D.C., Schröder vertrete nicht den wahren Willen des deutschen Volkes, mag ein Grund dafür sein, dass sie bis heute von amerikanischen Angriffen wegen einer angeblichen Hauptursache des Ukraine-Krieges erstaunlich verschont geblieben ist, nämlich ihrer Energiepolitik, die Deutschland von russischem Erdgas abhängig gemacht hat.)

Heute ist jedenfalls nicht der von den Millionen, mit denen die russischen Oligarchen ihn vollstopfen, allzu offensichtlich berauschte Schröder das Hauptziel der deutschen Säuberung. Stattdessen ist es die SPD als Partei – die laut BILD und dem neuen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, einem Geschäftsmann mit exzellenten amerikanischen Verbindungen, ein Russland-Problem nicht nur hat, sondern immer hatte. Die Rolle des Großinquisitors spielt dabei der ukrainische Botschafter in Deutschland, ein gewisser Andrij Melnyk, selbsternannter Erzfeind vor allem des heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der als Personifizierung der "Russland-Connection" der SPD herhalten muss.

Steinmeier war von 1999 bis 2005 Schröders Stabschef im Kanzleramt, diente zwei Mal (2005-2009 und 2013-2017) als Außenminister unter Merkel und war vier Jahre lang (2009-2013) Oppositionsführer im Bundestag. Laut Melnyk, der unermüdlich twittert und Interviews gibt, hat Steinmeier "seit Jahren ein Spinnennetz von Kontakten zu Russland gewoben", in dem "viele Leute verstrickt sind, die jetzt in der Bundesregierung das Sagen haben". Für Steinmeier, so Melnyk, "war und ist das Verhältnis zu Russland etwas Grundlegendes, etwas Heiliges, egal was passiert. Selbst der russische Angriffskrieg ist ihm ziemlich egal." So informiert erklärte die ukrainische Regierung Steinmeier in letzter Minute zur Persona non grata, als er zusammen mit dem polnischen Außenminister und den Regierungschefs der baltischen Staaten einen Zug von Warschau nach Kiew besteigen wollte. Während die anderen in die Ukraine einreisen durften, musste er den begleitenden Journalisten mitteilen, dass er nicht willkommen sei, und nach Deutschland zurückkehren.

Der Fall Steinmeier ist interessant, da er zeigt, wie die Ziele der Säuberung ausgewählt werden. Auf den ersten Blick scheint Steinmeiers neoliberal-atlantischer Ruf tadellos zu sein. Nicht nur war Steinmeier Autor der Agenda 2010; als Chef des Kanzleramts und Koordinator der deutschen Geheimdienste erlaubte er den USA, ihre deutschen Militärbasen zu nutzen, um in aller Welt im "Krieg gegen den Terror" gemachte Gefangene zu sammeln und zu verhören – vermutlich als Ausgleich für Schröders Weigerung, sich dem amerikanischen Abenteuer im Irak anzuschließen. Auch machte er nicht viel Aufhebens, genau genommen überhaupt keins, als die USA deutsche Staatsbürger libanesischer und türkischer Abstammung jahrelang in Guantanamo gefangen gehalten und gefoltert wurden, nachdem sie mit jemand anders verwechselten worden waren. Der Vorwurf, Hilfe nicht geleistet zu haben, zu der er nach deutschem Recht verpflichtet gewesen wäre, verfolgt ihn bis heute.

Richtig ist auch, dass Steinmeier dazu beigetragen hat, Deutschland von russischer Energie abhängig zu machen, wenn auch nicht so, wie ihm vorgeworfen wird. Er war es, der 1999 im Auftrag der rot-grünen Regierung unter Schröder den deutschen Ausstieg aus der Kernenergie verhandelte, wie von den Grünen, nicht von der SPD gefordert. Später, als Oppositionsführer, machte er mit, als Merkel, die zunächst den Atomausstieg I rückgängig gemacht hatte, 2011 nach Fukushima den Atomausstieg II durchsetzte, in der Hoffnung, dadurch die Tür zu einer Koalition mit den Grünen zu öffnen. Steinmeier machte auch mit, als sie ein paar Jahre später mit demselben Ziel den Ausstieg aus der Kohle, insbesondere der Braunkohle, durchsetzte, und zwar ungefähr gleichzeitig mit der Abschaltung der letzten verbliebenen Atomreaktoren.

Dennoch wird nicht Merkel, sondern Steinmeier und seine angebliche Russophilie für die deutsche Energieabhängigkeit von Russland verantwortlich gemacht, vielleicht aus andauernder amerikanischer Dankbarkeit für Merkels Hilfe in der syrischen Flüchtlingskrise nach der verpfuschten Intervention der USA in den syrischen Bürgerkrieg. Währenddessen gelingt es den Grünen, der treibenden Kraft hinter der deutschen Energiepolitik seit Schröder I, dem amerikanischen Zorn zu entgehen, indem sie unermüdlich die SPD und Scholz angreifen, weil sie zögern bzw. gezögert haben, "schwere Waffen" an die Ukraine zu liefern.

Und Nord Stream 2? Auch hier hatte Merkel immer das Sagen, nicht zuletzt, weil das deutsche Ende der Pipeline in ihrem Heimatland, ja sogar in ihrem Wahlkreis liegen sollte. Übrigens wurde Nord Stream 2 nie in Betrieb genommen; das bestehende Pipelinesystem, das zu einem großen Teil durch die Ukraine verläuft, hat bis heute für die Versorgung Deutschlands und Westeuropas gereicht. Was Nord Stream 2 in Merkels Augen notwendig machte, war die chaotische rechtliche und politische Situation in der Ukraine nach 2014, die die Frage nach der Zuverlässigkeit des Gastransits aufwarf – eine Frage, die Nord Stream 2 auf elegante Weise beantworten sollte.

Man muss kein Ukraineversteher sein, um zu verstehen, dass dies die Ukrainer verärgert haben muss. Es ist interessant, dass nach mehr als zwei Monaten Krieg immer noch russisches Gas durch ukrainische Pipelines nach Deutschland geliefert wird. Obwohl die ukrainische Regierung dem jederzeit ein Ende setzen könnte, tut sie dies nicht, wahrscheinlich um sich und den mit ihr verbundenen Oligarchen zu ermöglichen, weiterhin Transitgebühren zu kassieren.

Warum also Steinmeier und die SPD, und nicht Merkel und die CDU, oder vor allem die Grünen? Ein Grund dürfte sein, dass der Name Steinmeier in der Ukraine, insbesondere auf der radikalen Rechten des politischen Spektrums, vor allem im Zusammenhang mit dem sogenannten "Steinmeier-Algorithmus" bekannt und verhasst ist – eine Art Fahrplan oder To-do-Liste für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, die Steinmeier als Außenminister unter Merkel erarbeitet hat. Während Nord Stream 2 aus ukrainischer Sicht unverzeihlich war, war Minsk nicht nur in den Augen der ukrainischen Rechten eine Todsünde (unter anderem hätte es den russischsprachigen Teilen der Ukraine Autonomie gewährt), sondern auch für die Vereinigten Staaten, die durch das Abkommen ebenso umgangen wurden, wie die Ukraine durch Nord Stream 2 umgangen werden sollte. Wenn letzteres ein unfreundlicher Akt unter Geschäftspartnern war, so war ersteres ein Akt des Hochverrats gegen einen vorübergehend abwesenden König, der nun zurückgekommen ist, um aufzuräumen und Rache zu nehmen.

Die Ziellinie nach vorne verlegt

Obwohl die EU zu einer Art Tochtergesellschaft der NATO geworden ist, kann man davon ausgehen, dass ihre Funktionäre so wenig wie alle anderen über die ultimativen Kriegsziele der Vereinigten Staaten wissen. Mit dem jüngsten Besuch der US-Außen- und Verteidigungsminister in Kiew scheinen die Amerikaner die Ziellinie nach vorne verlegt zu haben, von der Verteidigung der Ukraine gegen die russische Invasion zur dauerhaften Schwächung des russischen Militärs.

In welchem Ausmaß die USA die Kontrolle übernommen haben, wurde eindringlich deutlich, als die beiden Minister auf ihrer Rückreise in die Vereinigten Staaten einen Zwischenstopp auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt in Ramstein, Deutschland, einlegten, den die USA unter anderem für den Krieg gegen den Terror nutzen. Dort trafen sie mit den Verteidigungsministern von nicht weniger als 40 Ländern zusammen, die sie vorgeladen hatten, um der Ukraine und natürlich den Vereinigten Staaten ihre Unterstützung zuzusichern. Bezeichnenderweise fand das Treffen nicht im NATO-Hauptquartier in Brüssel statt, das zumindest formal ein multinationaler Ort ist, sondern in einer militärischen Einrichtung, von der die Vereinigten Staaten behaupten, dass sie ihrer Souveränität und nur ihrer Souveränität untersteht, was die deutsche Regierung sich gelegentlich leise zu bezweifeln erlaubt.

Hier, wo die Vereinigten Staaten unter zwei riesigen Flaggen, der amerikanischen und der ukrainischen, den Vorsitz führten, stimmte die Regierung Scholz schließlich der Lieferung der seit langem geforderten "schweren Waffen" an die Ukraine zu, offenbar ohne dass ihr ein Mitspracherecht hinsichtlich des genauen Verwendungszwecks ihrer Panzer und Haubitzen eingeräumt wurde. (Die 40 Nationen vereinbarten, einmal im Monat zusammenzukommen, um zu entscheiden, welche weiteren Waffen an die Ukraine geliefert werden sollen.) Man kann sich in diesem Zusammenhang nur an die Bemerkung eines pensionierten amerikanischen Diplomaten in einer frühen Phase des Krieges erinnern, dass die USA die Russen "bis zum letzten Ukrainer" bekämpfen würden.

Bekanntlich ist die Aufmerksamkeitsspanne nicht nur der amerikanischen Öffentlichkeit, sondern auch des amerikanischen außenpolitischen Establishments kurz. Dramatische Ereignisse innerhalb oder außerhalb der Vereinigten Staaten können das nationale Interesse an einem weit entfernten Ort wie der Ukraine entscheidend beeinträchtigen – ganz zu schweigen von den bevorstehenden Zwischenwahlen und der Kampagne von Donald Trump, der 2024 erneut die Präsidentschaft übernehmen könnte. Aus amerikanischer Sicht ist dies kein großes Problem, da die Risiken, die mit amerikanischen Auslandsabenteuern verbunden sind, fast ausschließlich den Einheimischen zufallen; siehe Afghanistan.

Kann ein konventioneller Krieg gegen eine Atommacht gewonnen werden?

Umso wichtiger, so sollte man meinen, sollte es für die europäischen Länder sein, zu wissen, was genau die Kriegsziele der Vereinigten Staaten in der Ukraine sind und wie sie von wem im Laufe des Krieges angepasst werden. Nach dem Treffen in Ramstein war nicht nur von einer dauerhaften Schwächung des russischen Militärs die Rede, von einer Friedensregelung schon gar nicht, sondern von einem eindeutigen Sieg der Ukraine und ihrer Verbündeten. Damit wird die konventionelle Weisheit, dass ein konventioneller Krieg gegen eine Atommacht nicht gewonnen werden kann, auf die Probe gestellt.

Für die Europäer wird das Ergebnis eine Frage von Leben und Tod sein – was erklären könnte, warum die deutsche Regierung einige Wochen lang gezögert hat, der Ukraine Waffen zu liefern, mit denen sie beispielsweise auf russisches Territorium vordringen könnte, zunächst vielleicht, um russische Nachschublinien zu treffen, später dann für mehr. (Als der Schreiber dieser Zeilen von dem neuen amerikanischen Streben nach einem "Sieg" las, wurde er für einen kurzen, aber unvergesslichen Moment von einem tiefen Angstgefühl erfasst).

Wenn Deutschland überhaupt den Mut gehabt hat, ein Mitspracherecht bei der amerikanisch-ukrainischen Strategie einzufordern, so scheint nichts dergleichen angeboten worden zu sein: die deutschen Panzer, so scheint es, werden mit Blankoscheck übergeben. Gerüchten zufolge endeten praktisch alle der zahlreichen war games, die in den letzten Jahren von der amerikanischen Regierung bei amerikanischen Thinktanks zum Thema Ukraine, die NATO und Russland in Auftrag gegeben wurden, auf die eine oder andere Weise in einem nuklearen Armageddon, zumindest für Europa.

Freilich ist von einem nuklearen Ende öffentlich nicht die Rede. Stattdessen hört man, dass die Vereinigten Staaten davon ausgehen, dass der Sieg über Russland viele Jahre dauern wird, nach einem langen Patt im Schlamm eines Landkriegs, in dem die Ukrainer von einem neu amerikanisierten "Westen" ständig mit neuem Geld und neuem Material, wenn nicht gar mit lebendigen Destruktionsspezialisten versorgt werden, ohne dass sie in der Lage wären, in Russland einzudringen und dessen Hauptstadt zu bedrohen. Für die Vereinigten Staaten könnte dies als recht komfortabler Stellvertreterkrieg erscheinen, bei dem sie das Kräftegleichgewicht entsprechend ihren strategischen Bedürfnissen immer wieder neu justieren können. Als Biden in den letzten Apriltagen weitere 33 Milliarden Dollar an Hilfe für die Ukraine allein für das Jahr 2022 forderte, deutete er an, dass dies nur der Anfang eines langfristigen Engagements sein wird, das so teuer wie Afghanistan sein werde, dafür aber sein Geld wert sei. Es sei denn, die Russen feuerten mehr ihrer Wunderraketen ab, packten ihre chemischen Waffen aus und setzten schließlich ihr Nukleararsenal ein, die kleinen Gefechtsköpfe zuerst.

Es ist schwer vorstellbar, wie und wann das Blutvergießen enden soll

Gibt es trotzdem eine Perspektive für einen Frieden nach dem Krieg, oder weniger ehrgeizig: für eine regionale Sicherheitsarchitektur, vielleicht nachdem die Amerikaner das Interesse verloren haben oder Russland das Gefühl hat, dass es den Krieg nicht fortsetzen kann oder muss?

Eine eurasische Lösung, wenn wir sie denn so nennen wollen, wird wahrscheinlich eine Art Regimewechsel in Moskau voraussetzen. Nach den Ereignissen ist es schwer vorstellbar, dass westeuropäische Politiker öffentlich ihr Vertrauen in Putin oder einen putinesken Nachfolger bekunden. Gleichzeitig gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass die vom Westen gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen einen Volksaufstand zum Sturz des Putin-Regimes auslösen werden. Nach den Erfahrungen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg mit den Bombenteppichen auf deutsche Städte könnten die Sanktionen sogar das Gegenteil bewirken und die Russen dazu bringen, sich geschlossen hinter ihre Regierung zu stellen.

Eine De-Industrialisierung Russlands à la von der Leyen wird ohnehin nicht möglich sein, da China sie letztlich nicht zulassen wird: nicht zuletzt, weil es für sein Projekt der Neuen Seidenstraße einen funktionierenden russischen Staat braucht. Populäre Forderungen im Westen, Putin und seine Kamarilla vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu stellen, werden schon aus diesen Gründen unerfüllt bleiben. Im Übrigen hat Russland, wie auch die Vereinigten Staaten, den Vertrag zur Einrichtung des Gerichtshofs nicht unterzeichnet und damit seinen Bürgern Immunität vor Strafverfolgung gesichert. Genau wie Kissinger und Bush jr. und andere in den USA wird Putin daher bis zum Ende seiner Tage auf freiem Fuß bleiben, wie auch immer dieses Ende aussehen wird. Diejenigen europäischen Länder, die historisch gesehen nicht gerade zur Russophilie neigen, wie die baltischen Länder und Polen, und natürlich auch die Ukraine, haben gute Chancen, die Öffentlichkeit in Ländern wie Deutschland oder Skandinavien davon zu überzeugen, dass Russland zu vertrauen gefährlich für die nationale Gesundheit sein kann.

Ebenso wie in Russland könnte ein Regimewechsel auch in der Ukraine notwendig sein. In den letzten Jahren scheint das ultra-nationalistische Ende der ukrainischen Politik, das tief in der faschistischen und sogar pro-nazistischen ukrainischen Vergangenheit verwurzelt ist, in einem neuen Bündnis mit ultra-interventionistischen Kräften in den Vereinigten Staaten an Stärke gewonnen zu haben, was unter anderem die Ursache dafür sein könnte, dass Minsk von der ukrainischen politischen Agenda verschwunden ist.

Ein prominenter Vertreter der ukrainischen Ultrarechten ist der bereits erwähnte ukrainische Botschafter in Deutschland, der in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen verlauten ließ, dass für ihn jemand wie Nawalny genau dasselbe sei wie Putin, wenn es um das Recht der Ukraine gehe, als souveräner Nationalstaat zu existieren. Auf die Frage, was er seinen russischen Freunden sagen würde, verneinte er, überhaupt welche zu haben, denn Russen seien von Natur aus darauf aus, das ukrainische Volk auszulöschen. Melnyks politische Familie geht auf die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) in der Zwischenkriegszeit und unter deutscher Besatzung zurück, mit der ihre Führer kollaborierten – so lange, bis sie entdeckten, dass die Nazis nicht wirklich zwischen Russen und Ukrainern unterschieden, wenn es darum ging, Menschen zu töten und zu versklaven.

Die OUN wurde von zwei Männern angeführt, einem Andrij Melnyk (derselbe Name wie der Botschafter) und einem Stepan Bandera, wobei letzterer, soweit möglich, etwas rechts von ersterem gestanden haben soll. Beide sollen mit deutscher Genehmigung oder auf deutschen Befehl Kriegsverbrechen begangen haben, Bandera als von den Nazis ernannter Polizeichef in Lviv (Lemberg). Später wurde Bandera von den Deutschen beiseitegeschoben und unter Hausarrest gestellt, wie auch andere lokale Faschisten anderswo. (Die Nazis glaubten an den Einheitsstaat, nicht an Föderalismus.) Nach dem Krieg, als die Sowjetunion wiederhergestellt war, lebte Bandera unter einem Decknamen in München, Nachkriegswohnort zahlreicher osteuropäischer Kollaborateure, zum Beispiel aus den Reihen der kroatischen Ustascha. (In der Nähe von München befand sich auch der Bundesnachrichtendienst, unter den Nazis die Abteilung „Fremde Heere Ost“ der deutschen Spionage, als „Organisation Gehlen“ von den Amerikanern in den Dienst des Kalten Krieges gestellt.) Dort wurde Bandera 1959 von einem sowjetischen Agenten ermordet, nachdem er von einem Moskauer Gericht zum Tode verurteilt worden war.

Der heutige Melnyk bezeichnet Bandera als seinen "Helden". Im Jahr 2015, kurz nach seiner Ernennung zum Botschafter, besuchte Melnyk Banderas Grab in München, wo er Blumen niederlegte, und berichtete über seinen Besuch auf Twitter. Dies führte zu einer formellen Missbilligung seitens des deutschen Außenministeriums, das damals von Steinmeier geleitet wurde. Melnyk hat sich auch öffentlich für das sogenannte Asow-Regiment ausgesprochen, eine 2014 gegründete paramilitärische Organisation in der Ukraine, die als gemeinsamer militärischer Arm der verschiedenen neofaschistischen Bewegungen in der Ukraine gilt. Für den Nicht-Spezialisten ist nicht ganz klar, wie groß der Einfluss von Melnyks politischer Strömung in der heutigen ukrainischen Regierung ist; sicherlich gibt es auch andere Strömungen in der Regierungskoalition, deren Macht jedoch mit dem Fortschreiten des Krieges weiter abnehmen könnte.

Nationalistische Bewegungen träumen manchmal davon, ihre Nation aus dem Tod ihrer Besten ihres Volkes auf dem Schlachtfeld, zusammengeschweißt durch deren heldenhaftes Opfer, hervorgehen zu sehen. In dem Maße, in dem die Ukraine von politischen Kräften dieser Art regiert wird, von außen unterstützt von den Vereinigten Staaten, die den Krieg in der Ukraine aus welchen Gründen auch immer in Gang halten wollen, ist es schwer vorstellbar, wie und wann das Blutvergießen enden soll, außer wenn der Feind entweder kapituliert oder zu seinen Atomwaffen greift.

Kampf mit China um die nächste Neue Weltordnung

Ein amerikanischer Stellvertreterkrieg um die Ukraine könnte Russland in ein enges Abhängigkeitsverhältnis zu China zwingen, was China einen fest an es gebundenen eurasischen Verbündeten bescheren und ihm sicheren Zugang zu russischen Ressourcen verschaffen würde – und zwar zu günstigen Preisen, da der Westen nicht mehr um sie konkurrieren würde. Russland wiederum könnte von der chinesischen Technologie profitieren, soweit sie ihm zur Verfügung gestellt würde.

Auf den ersten Blick mag ein solches Bündnis den geostrategischen Interessen der Vereinigten Staaten zuwiderlaufen. Es würde jedoch mit einer ebenso engen und ebenso asymmetrischen, von den USA dominierten Allianz zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa einhergehen, die Deutschland unter Kontrolle halten und französische Bestrebungen nach "europäischer Souveränität" niederhalten würde. Sehr wahrscheinlich würde das, was Europa den Vereinigten Staaten liefern könnte, übertreffen, was Russland China liefern kann, so dass ein Verlust Russlands an China durch die Vorteile einer erneuten Behauptung der amerikanischen Hegemonie über Westeuropa mehr als kompensiert würde.

Ein Stellvertreterkrieg in der Ukraine könnte daher für die Vereinigten Staaten attraktiv sein, wenn sie ein globales Bündnis für ihren bevorstehenden Kampf mit China um die nächste Neue Weltordnung – monopolar oder bipolar auf alte oder neue Weise – aufbauen wollen, in den bevorstehenden Jahren nach dem Ende des Endes der Geschichte.