LKW-Streik

Letzte Ausfahrt Gräfenhausen

| 03. Mai 2023
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Polnische paramilitärische Schlägertrupps gegen LKW-Fahrer auf einer Autobahn-Raststätte in Hessen – was ist los auf deutschen Autobahnen? Und was hat die EU damit zu tun?

Es sind Szenen, die einen eher an Guadalajara als an Gräfenhausen denken lassen: Fast sechs Wochen lang streikten und protestierten 60 LKW-Fahrer aus Georgien und Usbekistan auf der Autobahnraststätte Gräfenhausen bei Darmstadt, weil sie über 50 Tage keinen Lohn von ihrem polnischen Arbeitgeber, dem polnischen Unternehmer Lukasz Mazur, erhalten hatten. Immerhin ging es um eine Gesamtsumme von über 300.000 Euro. Am Karfreitag tauchte dieser Unternehmer mit einem Schlägertrupp und einem gepanzerten Fahrzeug auf der Raststätte auf – mit dem Ziel, den Fahrern die Lastwagen abzunehmen. Die Polizei griff ein und nahm 19 Personen vorübergehend fest, darunter den Unternehmer und seine Mitarbeiter, die danach Strafanzeigen erhielten.

DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell, der die Streikenden besuchte, bezeichnete dies als „ungeheuerlichen Vorgang“ und richtete eine Reihe von Forderungen an die Regierung, insbesondere mehr und zielgerichtete Kontrollen in der Branche, um geltendes Recht durchzusetzen. Andere, insbesondere EU-Abgeordnete, sprachen sogar von „moderner Sklaverei“. Das sind starke Worte zu einer Zeit, in der für „westliche Werte“ sogar Kriege geführt werden.

„Moderne Sklaverei“ in der EU, die vor zehn Jahren noch den Friedensnobelpreis bekommen hat, als Anerkennung für viele Jahrzehnte Frieden, Versöhnung und Demokratie?

Aber Fahrer ein Jahr lang ununterbrochen in ihren Lastwagenkabinen festzuhalten, ihnen Lohn zu verweigern oder sie in Scheinselbständigkeit zu halten, ist das Gegenteil von sozialen Frieden – es ist kriminell, wirtschaftskriminell.

Die EU zur wettbewerbsfähigsten Region machen

Tatsächlich hat die EU versucht, die schlimmsten Praktiken mit Richtlinien einzufangen. Andererseits bietet das Vertragsrecht die entsprechenden Umgehungsmöglichkeiten. Werkverträge, Scheinselbständigkeit und Sub-Unternehmerketten gehören zu den Instrumenten, welche die EU hoffähig gemacht hat.

Und die Beitrittsländer aus dem Osten nutzen dies selbstverständlich ebenso aus wie bisherige EU-Mitglieder. Es ist kein Zufall, dass es ein polnischer Unternehmer war, der die Streiks und die Zwischenfälle in Gräfenhausen zu vertreten hat. Polnische Spediteure bestreiten rund 20 Prozent der EU-Frachtkapazitäten. Ein wachsender Anteil der beteiligten LKW-Fahrer geht aber bereits über die EU hinaus: Von 228.000 Fahrerbescheinigungen für nicht-EU-Arbeitskräfte wurden allein in Polen 103.000, und in Litauen 67.000 Bescheinigungen ausgestellt. In Polen selbst ist ein Drittel der Fahrer nicht aus der EU.

Und hier kommt als nächstes das Lieferkettenproblem ins Spiel. Große und bekannte Unternehmen wie VW, Ikea oder DHL vergeben gerne Aufträge an solche Firmengruppen, um Geld zu sparen. In der Öffentlichkeit bestreiten sie dies aber. Auch der Vorsitzende des Verkehrsausschusses des Bundestags Udo Schiefner, SPD, beklagt dies und fordert die von seiner Partei gestellte Regierung auf, „wettbewerbsverzerrende und unfaire“ Arbeitsbedingungen stärker zu bekämpfen. Und bekämpfen heißt hier: verstärkte und wirksame Kontrollen.

Wenn es aber zum obersten Ziel der EU-Politik gehört, die „Wettbewerbsfähigkeit“ zu fördern, dann mutieren Kontrollen schnell zur lästigen Fessel. Arbeits- und Sozialrechte gehören aus dieser Sicht immer schon zu den Fesseln.

Spätestens seit dem Lissabon-Vertrag von 2007 will Brüssel die EU zur „wettbewerbsfähigsten Region der Welt“ und die Arbeitsverhältnisse fit für die Globalisierung machen. Das Schlagwort ist „Flexicurity“. Dieses Konzept von 2007, sagt Heide Pfarr vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI), nährt den Verdacht, dass es lediglich um den Abbau von Schutzrechten der Beschäftigten gehe, während die Stärkung sozialer Sicherheit nur papierenes Versprechen bleibe. Pfarr: „Der Verdacht liegt nahe, die Diskussion um Flexicurity könnte zur Verschleierung und Rechtfertigung weiterer Deregulierungsvorhaben dienen.“

Durch den Ukrainekrieg hat der Einfluss der USA auf die EU noch einmal stark zugenommen. Und mit diesem wachsenden Einfluss schreitet auch die „Amerikanisierung der Arbeitsverhältnisse“ in der EU voran. Dazu muss man wissen, dass die USA von den 207 Arbeitsrechten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nur 12 anerkannt haben, und auch die Sozial- und Arbeitsrechte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO nicht anerkennen.

Insoweit wirft der Streik der georgischen und usbekischen LKW-Fahrer in Gräfenhausen nicht nur ein Licht auf die Nutznießer unsozialer Arbeitsverhältnisse, sondern auch auf den Zustand einer EU, die sich im Ukrainekrieg als Leuchtturm der Menschenrechte inszeniert.

Letztlich ist der Vorfall auf der Autobahnraststätte nur die Spitze des Eisbergs: kriminelle Praktiken sind Teil unseres Wirtschaftssystems, weil sie schlicht besonders profitabel sind, solange sie nicht aufgedeckt werden. Und damit das so bleibt, muss nur dafür gesorgt werden, dass Kontrollen des Rechts so wenig wie möglich die Geschäfte behindern.

Ob es Geldwäsche ist, Cum-Ex oder WIRECARD: Mit Kontrollen befasste Experten können ein Lied davon singen, wie sie von ihrer eigenen Behörde im Zaum gehalten werden. Zuletzt beschrieb die Steuerfahnderin Birgit Orth in ihrem Bestseller „Als Steuerfahnderin auf der Spur des Geldes“ diese Vorfälle.

Wenn die Staatsanwaltschaft Osnabrück gegen das Bundesfinanzministerium wegen „Strafvereitelung im Amt“ ermittelt, dann stellt sich die Frage, inwieweit Kontrollen von Staatsseite überhaupt erwünscht sind, wenn dadurch die Profitabilität von Unternehmen beeinträchtigt wird.

Insofern haben die LKW-Fahrer aus dem 4.000 km entfernten Georgien und dem über 5.000 km entfernten Usbekistan einen dringend benötigten Spiegel geliefert, den wir auch nutzen sollten.