Kommissionsklage gegen Ungarn

Eine waghalsige Lesart der Unionswerte

| 03. Mai 2023

15 Länder haben sich der Kommissionsklage gegen das ungarische Anti-LGBTQ-Gesetz angeschlossen. Das klingt politisch erfreulich, die Sache hat dennoch einen Haken.

Im Juni 2021 verabschiedete das ungarische Parlament ein Kinderschutzgesetz, wenige Wochen später trat es in Kraft. Ursprünglich ging es in dem Gesetz tatsächlich um Kinderschutz, genauer: um den Schutz vor und die Ahndung von pädophilen Straftaten. Im Zuge der Beratungen wurde das Gesetz aber mit weiteren Inhalten angereichert. Für viel Kritik sorgten die Regelungen zum erschwerten Zugang Jugendlicher zu Medien, die nicht-heterosexuelle Sexualität, Transsexualität und Geschlechtsumwandlungen darstellen.

Nicht nur hier richtet die ungarische Regierung ihre Familienpolitik strikt am traditionellen Familienbild aus. Die Kritik daran überzeugt oft, wenn auch nicht immer. Die Werte, an denen sich die Familienpolitik und angrenzende Politikfelder orientieren, dürfen sich in der heterogenen EU legitimerweise unterscheiden. Doch selbst wenn man das fair in Rechnung stellt, erscheint die ungarische Politik zur Unterdrückung der öffentlichen Sichtbarkeit von LGBTQ-Personen empörend.

Jüngst zeigte ein Vorgang im Zusammenhang mit der Umsetzung der europäischen Whistleblower-Richtlinie, wie weit einige ungarische Politiker zu gehen bereit sind. Einige Abgeordnete sorgten dafür, dass der Gesetzestext dahingehend ergänzt wurde, dass unter seinen Schutzbereich auch Hinweise auf Aktivitäten fallen, die die „verfassungsmäßig anerkannte Rolle von Ehe und Familie“ oder das „Recht von Kindern auf Identität entsprechend ihrem Geschlecht bei der Geburt“ in Frage stellen. Kritiker sprachen zu Recht von staatlicher Förderung einer Blockwart-Mentalität im Dienste des traditionellen Familienbilds. Glücklicherweise stoppte die ungarische Staatspräsidentin den Vorgang wegen Grundrechtsbedenken.[1] Übrigens, dies nur am Rande, hat Deutschland die Whistleblower-Richtlinie bisher nicht umgesetzt, so dass nun Zwangsgelder drohen.

Zurück zum ungarischen Anti-LGBTQ-Gesetz: Die Kommission verfolgte die Vorgänge aufmerksam und eröffnete ein Vertragsverletzungsverfahren. Solche Verfahren haben mehrere Stufen. Sie beginnen mit einem Aufforderungsschreiben, zu dem das betroffene Land innerhalb von zwei Monaten Stellung nehmen muss. Ist die Kommission mit der Antwort nicht zufrieden, formuliert sie eine förmliche Aufforderung, das EU-Recht einzuhalten. Wieder gibt es eine Frist von zwei Monaten. Ist die Kommission von den Ergebnissen erneut nicht überzeugt, kann sie den Europäischen Gerichtshof (EuGH) einschalten. Das geschah im Dezember 2022, die Klageschrift zur Rechtssache C-769/22 findet sich hier.

Die Kommission gewinnt viele Unterstützer

Es kommt immer wieder vor, dass einzelne Mitgliedstaaten oder kleine, von der beanstandeten Maßnahme besonders betroffene Ländergruppen die Kommission bei Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof unterstützen, indem sie der Klage formell beitreten. Außergewöhnlich ist aber der Beitritt von zehn und mehr Mitgliedstaaten. Seit Dezember erklärten 15 Länder ihre Unterstützung, und zwar in dieser Reihenfolge: zuerst die drei Benelux-Länder; dann Portugal, Dänemark, Österreich, Malta, Spanien, Irland; und in einem weiteren Schritt Schweden, Finnland, Slowenien und Griechenland. Schließlich, am letztmöglichen Tag vor Ende der hier maßgeblichen Frist am 6. April 2023, traten auch Deutschland und Frankreich der Kommissionsklage bei.

Die Unterstützung ist ein starkes politisches Signal – so weit, so gut. Der Beitritt zu einer solchen Klage ist aber mehr als nur ein politisches Zeichen. Er ist nämlich nicht nur im Hinblick auf die politische Bewertung des Zielpunkts des Verfahrens informativ, hier: die Bewertung des in der Tat verheerenden Anti-LGBTQ-Gesetzes der national-konservativen ungarischen Regierung. Vielmehr signalisiert ein solcher Beitritt auch Zustimmung zu ihrer Begründung, also zur Interpretation der Bestimmungen, gegen die die beanstandete Maßnahme mutmaßlich verstößt.

Und hier lohnt ein genauerer Blick. Die Kommission verfolgt mit ihrer Klageschrift eine Agenda, in der es um mehr und anderes geht als um die ungarische Familienpolitik. Es geht ihr um die Ausweitung ihrer Befugnisse. Dass sie den Vorgang entsprechend nutzt, wirft einen Schatten auf die Klage. Ich bezweifle, dass die Kommission hier Unterstützung verdient.

Worauf die Kommissionsklage fußt

Die Klage stützt sich auf einen bunten Strauß unionsrechtlicher Bestimmungen: vier Unionsgrundrechte aus der europäischen Grundrechtecharta, eine Binnenmarktfreiheit (und zwar die Dienstleistungsfreiheit) sowie vier sekundärrechtliche Akte, darunter drei Richtlinien und eine Verordnung. Eine oder mehrere der Bestimmungen dürften am Ende „beißen“, wenn auch vielleicht nicht alle. Entscheidend ist nun, dass die Kommission der Aufzählung folgenden Klagegrund hinzufügt: „Indem Ungarn die … genannten Vorschriften erlassen hat, hat Ungarn gegen Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union verstoßen.“ Das liest sich unscheinbar, ist im Hinblick auf das Verhältnis zwischen EU und ihren Mitgliedstaaten aber revolutionär.

Was hat es mit Artikel 2 EUV auf sich? An dieser Stelle listet der Vertrag Grundsätze zum Selbstverständnis der Union auf: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einschließlich der Rechte von Minderheiten. Kein vernünftiger Mensch würde diesem Selbstverständnis widersprechen wollen. Eine andere Frage ist, wozu genau die Aufzählung die Unionsorgane eigentlich ermächtigt.

Denn der Vertragsartikel kennzeichnet die Grundsätze nicht als Rechtspflichten, sondern als Werte. Nicht die europäischen Gerichte, sondern die Politik, so bis vor kurzem jedenfalls der Stand der Dinge, war aufgerufen, über sie zu wachen. Die Einzelheiten finden sich in Artikel 7 EUV, der den Rat in einem zweistufigen Verfahren ermächtigt, einzelne Mitgliedstaaten im Falle der Gefahr einer Verletzung der Werte zur Rede zu stellen (Stufe 1) und bei schwerwiegenden und anhaltenden Verletzungen Sanktionen bis hin zur Aussetzung von Stimmrechten im Rat zu verhängen (Stufe 2).

Eine Revolution in mehreren Schritten

In der Auseinandersetzung um die polnischen Rechtstaatsreformen wurde das Artikel-7-Verfahren jüngst relevant. Es erwies sich wegen der hier erforderten Einstimmigkeit und vor dem Hintergrund der Partnerschaft zwischen Polen und Ungarn aber als politisch blockiert. Auf der Suche nach Alternativen begann die Kommission, Polen in einer Serie von Fällen direkt vor dem EuGH zu verklagen. Sie argumentierte, dass aus Artikel 2 EUV in Verbindung mit Artikel 19 EUV, der den Mitgliedstaaten die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes abverlangt, durchaus vertikal durchsetzbare Rechtspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der EU resultieren. Der EuGH folgte der Kommission, verlangte Anpassungen und verhängte, wenn die Anpassungen ausblieben, Zwangsgelder in exzeptioneller Höhe. Die Einzelheiten habe ich in diesem Makroskop-Artikel beschrieben.[2]

Bereits das war ein großer, mit viel Mut zur Kreativität gegangener Schritt. Wie Martin Nettesheim in Ausgabe 8/2021 der Zeitschrift für Rechtspolitik stimmig beschrieb, erfolgte mit den Eingriffen in mitgliedstaatliche Justizordnungen eine vorher nicht für möglich gehaltene Umkehrung des Verhältnisses zwischen Union und Mitgliedstaaten. Nicht mehr die Mitgliedstaaten schaffen sich eine Union zur Bearbeitung transnationaler Problemlagen (und schreiben deren Verfassung), nein: Die Union reklamiert, konsequent zu Ende gedacht, unter Verweis auf die Unionswerte jene mitgliedstaatlichen Strukturen entwerfen und transformieren zu dürfen, die sie gemäß Artikel 4 EUV doch eigentlich gerade zu respektieren hat.

Die neue Klageschrift gegen Ungarn dreht die Schraube nun noch einmal einen entscheidenden Schritt weiter. Die Kommission stützt sich im zitierten Satz nämlich isoliert auf Artikel 2 EUV, ohne Verbindung zu einer anderen Vertragsbestimmung wie Artikel 19 EUV. Die Kommission testet hier, wie weit der Gerichtshof bei der Uminterpretation des normativen Gehalts der Unionswerte zu gehen bereit ist.

Ein unüberschaubares Potenzial

Wie Jannes Dresler auf dem Verfassungsblog herausarbeitete, hatte der Verweis auf Artikel 2 EUV im Verfahren gegen Polen noch eine gewisse Erdung, indem er in Verbindung mit einem weiteren Artikel genutzt wurde, der den aufgerufenen Unionswert konkretisierte und zudem einen Bezug zum Anwendungsbereich des Unionsrechts herstellte. Anders nun im Verfahren gegen Ungarn. Die Kommission möchte die Werte so verstanden wissen, dass sie mit ihnen isoliert und freihändig, ohne Rücksicht auf den Anwendungsbereich der Unionsrechts, hantieren kann. Gelingt das, dann könnte sie künftig gegen alle nur erdenklichen Praktiken der Mitgliedstaaten als vermeintliche Verstöße gegen die Unionswerte vorgehen.

Die Folgen wären weitreichend, denn die Rechtsordnung der EU wäre grundlegend umstrukturiert – ein Schritt, der sich integrationsgeschichtlich nur mit der Schöpfung der Direktwirkung und des Vorrangs des Europarechts in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vergleichen ließe, vielleicht auch mit der in den siebziger Jahren vom EuGH begonnenen und sukzessive fortgesetzten Neuinterpretation der Binnenmarktfreiheiten. Die Uferlosigkeit des Vorgangs ergibt sich aus dem unklaren, ja unbestimmbaren Inhalt der Unionswerte einerseits und ihrem unbeschränkten Anwendungsbereich andererseits.

Weil die Konsequenzen tatsächlich so unvorhersehbar wie unkontrollierbar wären, würde das Ergebnis mindestens – erneut – die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten auf den Plan rufen und damit neue Verfassungskonflikte im europäischen Mehrebenensystem schüren. Gewiss, es ist nicht gesagt, dass der Gerichtshof hier tatsächlich zugreift. Die Kommission wirft dem EuGH einen Ball zu, indem sie in ihrer Klageschrift ein abermals neues Verständnis des Artikels 2 EUV behauptet, oder vielmehr: es einigermaßen frech voraussetzt. Alles Weitere ist Sache des EuGH. Er kann den Ball aufnehmen oder aber auch nicht.

Schau hin, was Du unterstützt

Die Unterstützung der Klageschrift durch Deutschland und andere Mitgliedstaaten ist angesichts all dessen unbedacht. War den 15 Regierungen bewusst, was sie taten, als sie sich zum Beitritt zur Klage entschieden? In Deutschland gab es hierzu, soweit ich erkennen kann, keinen formalen Kabinettsbeschluss. Die Entscheidung muss in einer Art Umlaufverfahren gefallen sein, und wie man hört, war den grün geführten Ministerien an dem Beitritt zur Klage besonders gelegen. Richtet sich die neue Lesart des Artikels 2 EUV in künftigen Verfahren gegen Deutschland oder andere Mitkläger, werden sie sich gewiss anhören dürfen, dass sie die neue Deutung dieser Vertragsbestimmung im Verfahren gegen Ungarn doch schließlich aus freien Stücken unterstützten.

Bauchschmerzen bereitet mir hier ein noch ein weiterer Umstand. Oben habe ich die 15 Länder aufgezählt, die der Kommissionsklage beitraten. Der Vorgang ist ein sozialwissenschaftlich interessanter Testfall: Alle 26 Mitgliedstaaten außer dem beklagten Land selbst (Ungarn) mussten sich zum selben Zeitpunkt zum selben Fall verhalten, indem sie sich für oder gegen den Beitritt zur Klage entschieden. Im Ergebnis zeigt sich eine nahezu perfekte Ost-West-Spaltung: Von den 11 osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten (Ungarn hier mitgezählt) entschloss sich lediglich Slowenien für eine Unterstützung, während sich von den 16 westeuropäischen Mitgliedern lediglich Italien und Zypern gegen eine Unterstützung entschieden.

Offenbar haben wir es bei familienpolitischen (und mutmaßlich bei weiteren kulturellen) Konflikten mit Wertekonflikten zwischen Ost und West zu tun, nicht lediglich mit einer „abtrünnigen“ rechtskonservativen Regierung. Die Regierungen sollten hierüber unbedingt sprechen. Ist es aber klug, solche Auseinandersetzungen mittels rechtlich oktroyierter Vorgaben lösen zu wollen? Und das zudem auf Grundlage einer waghalsigen Neudeutung der Unionswerte?

Das erscheint mir nicht weitsichtig. Falls der Versuch den Konflikt unnötig vertieft, statt ihn zu lösen oder zu befrieden, sollte uns das nicht überraschen. Und man denke hier bitte nicht: verbohrtes Osteuropa. Nehmen wir einmal im Gedankenexperiment an, das Deutschland der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts habe sich in einer Europäischen Gemeinschaft mit Ländern wiedergefunden, deren Familienpolitik durchweg progressiver ausfiel als die deutsche. Hätte sich Deutschland einen europäischen Eingriff in seine Familienpolitik gefallen lassen – oder hätte es so ein Vorgehen vielmehr als übergriffig zurückgewiesen und sich von der damaligen EG entfremdet?

Fazit

Wie auch immer: Die Kommission hat die Chance auf eigene Machtausweitung, die in dem Verfahren gegen das ungarische Anti-LGBTQ-Gesetz schlummerten, erfasst und ergriffen. Der berechtigte Unmut über die Familienpolitik Ungarns ließ die Mitgliedstaaten über die Details der Klageschrift hinwegsehen. So gelang es der Kommission, 15 Mitgliedstaaten um Unterstützung zu ködern. Frankreich, Deutschland und andere sollten sich nicht beschweren, wenn sich die neue Lesart der Unionswerte als vertikal durchsetzbare Rechtspflichten gegenüber den EU-Organen bald gegen sie selbst wenden sollte. Sie haben zugebissen, obwohl der Haken weithin sichtbar aus dem Wurm herauslugte.

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[1] FAZ vom 24.4.23, S. 5
[2] Die Fortsetzung dieses Zweiteilers findet sich hier.