Editorial

Auf der Intensivstation

| 04. Mai 2021
istock.com/Ivan Zastavetskyi

Liebe Leserinnen und Leser,

Covid und kein Ende. Anders gesagt: Wir haben nicht das Ende des Tunnels erreicht, wir stecken mittendrin – so viel dürfte mittlerweile, mehr als einem Jahr nach Beginn der Pandemie, auch den größten Optimisten und Feierwütigen klar geworden sein. Es ist allerdings eine psychologisch gefährliche Erkenntnis. Jemand, der das Ziel vor Augen sieht, kann – körperlich und moralisch – mehr Kräfte mobilisieren als derjenige, der es aus den Augen verloren hat.

Das Virus hat das ohnehin schon geschwächte Immunsystem der Demokratie befallen. Die Gesellschaft befindet sich auf der Intensivstation. Es herrscht allgemeine Verunsicherung. Doch liegt die Bedrohung für unser demokratisches Gemeinwesen in den aktuell verfügten gesundheitlichen Schutzmaßnahmen oder aber in den daraus resultierenden sozialen Konflikten?

Die Internet-Aktion #allesdichtmachen, eine Kritik an den Corona-Schutzmaßnahmen der Bundesregierung durch 52 prominente Schauspieler, ist eines der jüngsten aber nicht das einzige Beispiel, das – so zumindest der Befund von Berthold Vogel – zeige: die gesellschaftliche Solidarität zerbricht von oben her. Im Furor der Selbstgewissheit spielten für die Schriftsteller und Schauspieler überlastete Ärzte und Pflegekräfte, die die Politik um klare Schutzmaßnahmen und die Gesellschaft um Solidarität anflehen, keine Rolle.

Einst war Solidarität eine evolutionäre Meister-Strategie des Menschen, genauer: die soziale Innovation des Teilens, die uns in der heutigen Welt der grassierenden Ungleichheit so abzugehen scheint. Wussten Sie, dass in keiner anderen Spezies unter Erwachsenen auch nur annähernd so viel geteilt wird, wie bei den Menschen? Heute allerdings leben wir in gewisser Weise wie Zootiere. Fern von unserem natürlichen Habitat, entfremdet von unseren natürlichen Bedürfnissen, die durch Konsum substituiert werden. Und wie im Zoo schlägt sich das in einem hohen Krankheitsstand nieder.

Diese klinisch prekäre Lage gilt genauso für die Wirtschaft: Ist sie über dem Berg oder steht sie vor dem Absturz? Als MAKROSKOP-Leser wissen Sie, die wirtschaftliche Entwicklung bleibt bisher weit hinter den optimistischen Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute zurück. Ein Grund zur Sorge etwa ist die gegenüber dem Vorjahr um 5,3 % höhere Vergabe von Unternehmenskrediten im Euroraum im März. Haben die Aufnahme dieser Kredite primär mit dem letztjährigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von 6,1 % und den damit verbundenen Liquiditätslücken der Unternehmen zu tun? Sollte das der Fall sein, dann droht eine Bilanzrezession.

Die Börsen dagegen scheinen für manch einen die Boten eines neuen Wirtschaftswunders am Zukunftshorizont zu sein. Doch es gibt genügend Gründe, die weltweit steigenden Kurse mit großer Skepsis zu betrachten. Und so sehr Dow Jones und Dax von der Entwicklung der Realwirtschaft losgelöst sind, hängt diese am Tropf der Staatsausgaben, des Geldtransferstaates, ohne den wir uns in einer Depression vergleichbar mit der von 1930 befinden würden. Der Kapitalismus wird – einmal mehr – künstlich am Leben erhalten, auch er ist auf der Intensivstation.

Doch was sagen die Ärzte? Sie haben keinen Plan, schwanken zwischen der altbekannten Medizin aus neoliberalen Reformauflagen – siehe EU-Aufbaufonds – und Geldspritzen für private Haushalte, nur um die Dinge so zu belassen, wie sie vorher waren. Bemühungen, neue Industrien aufzubauen oder alte zu transformieren, sind genauso wenig auszumachen, wie Anzeichen für die Nutzung neuer Technologien oder dafür, dass die Regierung eine führende, strategische Rolle in der Wirtschaft übernehmen will. Die Frage also ist: Wird alles anders, oder bleibt alles anders?