Die Idealisierung bürgerlicher Öffentlichkeit
Wer von Öffentlichkeit redet, denkt an Habermas. Doch dessen liberale Definition lässt Aspekte der Ungleichheit wie Klasse und Geschlecht unbeachtet. Dabei prägen gerade Ausschluss und Marginalisierung den öffentlichen Raum.
Öffentlichkeit ist ein schillernder Begriff, der analytisch allerdings oft unscharf bleibt. Vor allem ist er normativ hoch aufgeladen und untrennbar mit dem der liberalen Demokratie verbunden. Im Anschluss an Jürgen Habermas wird er nach Manfred G. Schmidt zumeist als Ort, Diskurs und Prozess „der argumentativen Abwägung, der gemeinsamen Beratschlagung und Verständigung über öffentliche Angelegenheiten“ verstanden.
Ich möchte im Folgenden den Fokus verschieben und stattdessen dafür plädieren, dass ein Begriff von Öffentlichkeit vor allem auf Aspekte von Ungleichheit abstellen sollte. Ausschluss und Marginalisierung – im öffentlichen Raum, im Diskurs und im öffentlichen Leben – und die Folgen dieses Ausschlusses scheinen mir zentral für einen Öffentlichkeitsbegriff, der dem gesellschaftstheoretischen Anspruch gerecht werden will, die durch Widersprüche, Macht und Herrschaft geprägte gesellschaftliche Ordnung der Moderne zu verstehen.
Öffentlichkeit bei Habermas & Fraser
Kaum ein Autor hat unsere Vorstellung von Öffentlichkeit so nachhaltig geprägt wie Jürgen Habermas. Insbesondere „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ gilt als Standardwerk. Zwar wurde Habermas historische Analyse der Herausbildung bürgerlicher Öffentlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert. Doch entwarf Habermas ein bis heute anerkanntes Ideal.
Danach bezeichnet Öffentlichkeit einen institutionellen Mechanismus, politische Herrschaft zu rationalisieren. Regierungen werden gegenüber den Bürgern rechenschaftspflichtig gehalten. Darüber hinaus geht es um eine spezifische Art der Interaktion. Öffentlichkeit zeichnet sich durch die ungehinderte rationale Diskussion allgemeiner Belange aus. Die Diskussion soll für alle offen und zugänglich sein. Rein private Themen sind nicht zulässig. Statusunterschiede werden ausgeklammert und die Diskussionsteilnehmer begegnen sich als Ebenbürtige.
Eine scharfe Kritik an Habermas legte 1990 Nancy Fraser vor. Sie argumentiert, dass die liberale öffentliche Sphäre des 18. und 19. Jahrhunderts, die Habermas untersucht, durch massive Prozesse der Exklusion gekennzeichnet war. Dabei fokussiert Fraser vor allem auf den Ausschluss von Frauen aus der Öffentlichkeit; doch sie verweist auch auf andere Formen von Exklusion.
Frasers Kritik ist auf zwei Ebenen angesiedelt: Zum einen argumentiert sie, dass Habermas die Exklusion entlang der Kategorien „Geschlecht“ und „Klasse“ nicht thematisiert. Ausschluss aus der Öffentlichkeit spiele für Habermas bestenfalls eine nachgeordnete Rolle. Dies führe zu einer Idealisierung bürgerlicher Öffentlichkeit.
Zum anderen stellt Fraser fest, dass es nicht nur die männlich kodierte Öffentlichkeit der Bürger gegeben hätte, sondern auch alternative Formen von Öffentlichkeit. Dass diese in der „großen Erzählung“ über Öffentlichkeit keinen Platz haben, bedeutet für Fraser, dass bürgerliche Öffentlichkeit immer auch ein Ergebnis von Hegemoniekämpfen ist. In diesem Konflikt geht es darum, was als legitime gesellschaftliche Auseinandersetzung um das „Allgemeinwohl“ und die „public opinion“ angesehen wird – und was im Gegenzug dazu der Sphäre des Privatlebens zugeordnet wird. An diese Debatte gilt es anzuschließen.
Öffentlichkeit & Geschlecht
Mit Blick auf eine feministische Kritik am Öffentlichkeitsbegriff scheint mir wichtig, dass der Ausschluss viel tiefer ging – und es auch heute noch ist –, als es die Darstellung bei Fraser zunächst vermuten lässt. Bereits 1976 hat Karin Hausen, eine der Pionierinnen der deutschsprachigen Geschlechterforschung, eine historisch-soziologische Arbeit vorgelegt, in der sie nachvollzieht, wie im 18. und 19. Jahrhundert Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen im Zuge der kindlichen Erziehung tief in den Subjekten verankert wurden. Männern bzw. Jungen wurde qua Biologie und Naturbestimmung ein „Geschlechtscharakter“ mit Eigenschaften wie „aktiv, rational und tugendhaft“ zugeschrieben; der „Geschlechtscharakter“ der Frauen bzw. Mädchen zeichnete sich dagegen angeblich durch „Passivität, Bescheidenheit, Abhängigkeit und Empfindsamkeit“ aus. Damit korrespondierten auch klar unterschiedene Rollen im Bezug auf die Beteiligung am öffentlichen Leben.
Konzeptionell rekurriert Karin Hausen auf die soziologische Rollentheorie. Wir kennen sie vor allem von Ervin Goffman. Er argumentiert, dass jeder Mensch in der Interaktion mit seinem Gegenüber eine Rolle spielt. Doch während sich Goffman auf einer handlungstheoretischen Ebene bewegt und fragt, inwiefern wir für die Bewältigung unterschiedlicher Situationen ein ganzes Repertoire an unterschiedlichen Rollen nutzen, geht es Karin Hausen darum, dass wir auf bestimmte Rollen – hier geschlechtlich kodierte Rollen – strukturell festgelegt werden.
Weiterentwickelt wurde dieses Verständnis von strukturell festgelegten Geschlechterrollen in den Gender Studies. Hier wird unter anderem mit dem Begriff der „Performance“ an die Rollentheorie angeknüpft. Geschlecht wird demnach sprichwörtlich aufgeführt. Es wird inszeniert. Hinzu kommt der Blick auf die Bedeutung von Diskursen und die Praxis des Sprechens. Mit Judith Butler können wir festhalten, dass die gesellschaftlich konstruierten Rollen – und damit auch die bestehenden Ungleichheiten – durch immer wiederkehrende Akte des Benennens eingeübt, gefestigt und normalisiert werden.
Es bleibt abzuwarten, welche Veränderungen der Geschlechterordnung wir im Gefolge der aktuellen „me-too-Bewegung“ – und der konservativen Reaktion darauf – erleben werden. Um noch einmal den Bogen zurück zu Fraser zu schlagen: Diese befragt die bürgerliche Öffentlichkeit auf ihre strukturelle Verschränkung mit Ausschuss und Ungleichheit. Doch ein Verständnis von patriarchaler Herrschaft und Öffentlichkeit sollte weiter gehen. Die Gender Studies eröffnen uns den Blick darauf, wie Ungleichheits- und Machtstrukturen im Zusammenspiel zwischen öffentlicher und privater Sphäre tief in den Subjektstrukturen verankert werden.
Öffentlichkeit & Klasse
Ähnliche Prozesse der Exklusion lassen sich mit Blick auf Klassenzugehörigkeit beobachten. Bis heute sind hier die Arbeiten von Pierre Bourdieu wegweisend. Ihm verdanken wir ein tieferes Verständnis davon, wie durch die „feinen Unterschiede“ im Hinblick auf Sprache, Ausdruck, Benehmen, kulturelle Vorlieben, ästhetischen Geschmack, usw. – kurz: den Habitus – nur schwer zu überschreitende Grenzen gezogen werden zwischen sozialen Gruppen mit unterschiedlicher Kapitalausstattung. Ein einfacher Arbeiter fühlte sich im bürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts vermutlich genauso fehl am Platz wie heute in einer öffentlichen Abendveranstaltung des Rotary Clubs – auch wenn der Zugang formal gar nicht beschränkt sein mag.
Oskar Negt und Alexander Kluge haben Anfang der 1970er Jahre in einer Antwort auf Habermas – „Erfahrung und Öffentlichkeit“ – argumentiert, dass sich neben der bürgerlichen auch proletarische Öffentlichkeiten herausbilden. E.P. Thompsons nur ein Jahr nach „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ erschienene Arbeit „The making of the English working class“ gilt auf diesem Feld als bahnbrechend. Doch viele Alltagsorte, an denen in Zeiten des Industriekapitalismus eine kollektive Reflexion der Lebenssituation der Lohnabhängigen stattfand, galten gerade nicht als öffentlich: die Werkskantine, die Kneipe, der Kegelverein. Negt und Kluge argumentieren darüber hinaus, dass die proletarische Öffentlichkeit nie einen eigenständigen Ausdruck gefunden hat und sich stattdessen an den hegemonialen Formen bürgerlicher Öffentlichkeit orientiert.
Das ist eine interessante Debatte, die heute fast in Vergessenheit geraten ist. Dabei ist die Frage auch gegenwärtig hoch aktuell: Etablieren zum Beispiel die prekär Beschäftigten der neuen Dienstleistungsökonomie ihre eigenen Formen von Öffentlichkeit? Welche Arten von Öffentlichkeit präferieren junge und technikaffine Erwachsene? Digitale soziale Netzwerke spielen hier vermutlich eine wichtige Rolle; aber vielleicht auch neue urbane Räume wie Co-Working Spaces und hybride Öffentlichkeitsaktionen wie Flash Mobs.
Ein kritischer Begriff von Öffentlichkeit sollte jedenfalls ein Verständnis davon erlauben, wie und wo Exklusivität im Hinblick auf Klasse hergestellt wird und inwiefern sich im Gegenzug alternative Formen von Öffentlichkeit konstituieren. Und er sollte dem Umstand Rechnung tragen, dass sich mit dem Wandel der Gesellschaft auch Formen von Öffentlichkeit verändern. Eine solche Perspektive legt nahe, nicht pauschal von einem historischen Verfall von Öffentlichkeit zu sprechen, wie es zum Beispiel Richard Sennet 1974 in „The Fall of Public Man“ als These formuliert hat, sondern eher von einem ambivalenten Prozess, den es vor dem Hintergrund Hegemonie-theoretischer Überlegungen immer wieder neu einzuschätzen gilt, wie Alex Demirovic argumentiert.
Flüchtige Öffentlichkeiten
Kaum Beachtung findet in den großen Theorien liberaler und insbesondere deliberativer Öffentlichkeit der Aspekt der Flüchtigkeit: Das Gespräch mit den Bekannten im Fitness-Studio, die zufällige Unterhaltung in der Reisegruppe im ICE oder zwischen Eltern vor der Kita. Folgen wir einem klassischen Verständnis, so handelt es sich dabei bestenfalls um informelle Spielarten von Öffentlichkeit, eher jedoch um Privatgespräche, um Smalltalk, Gossip und Gerüchte.
Dabei findet gerade in diesen Momenten ein wichtiger Austausch zwischen Menschen statt, die nicht von vorneherein Teil der gleichen sozialen Netzwerke sind. Wir treffen auf Meinungen und Erfahrungen, die nicht unsere eigenen sind, und müssen uns selbst dazu ins Verhältnis setzen. Die Soziologin Lyn Lofland spricht von einer „Sphäre des Gemeinsamen“ – the „parochial realm“ – die sich von der privaten und der öffentlichen Sphäre unterscheidet.
Julie-Anne Boudreau, Nathalie Boucher und Marilena Liguori haben in diesem Zusammenhang eine interessante Studie angefertigt, in der sie migrantische Kindermädchen auf ihrem Arbeitsweg durch Los Angeles begleiten. Bei der langen Fahrt mit dem öffentlichen Bus durch die Stadt sehen und erfahren sie zum einen ganz sinnlich die sozialen Disparitäten der US-amerikanischen Gesellschaft: Obdachlosigkeit, soziale Not, Touristen, Villenviertel und Shoppingmalls ziehen wie in einem Kinofilm an ihnen vorbei. Zum anderen treffen sie im Bus auf andere Nannies, die sich in einer ähnlichen Lage wie sie selbst befinden. Schritt für Schritt findet in den Bekanntschaften und Gesprächen eine Reflexion der eigenen Situation statt. In einem langsamen Prozess setzen sich die Frauen als marginalisierte Latinas in L.A in Bezug zur US-amerikanischen Gesellschaft. Hier, im flüchtigen Diskurs des halb-öffentlichen Raums, formiert sich politische Subjektivität.
Bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass diese flüchtigen Begegnungen auch gar nicht so willkürlich sind, sondern es durchaus schwach institutionalisierte Ankerorte gibt, an denen wir wiederholt andere Menschen treffen und uns mit ihnen auseinandersetzen: in der S-Bahn, im Café, im Nachbarschaftsladen, beim Sport, im Friseursalon. Ray Oldenburg hat für diese Orte den Begriff des „third place“ geprägt. Und auch hier stellt sich die Frage, welche Rolle Öffentlichkeit für den Zugang zu bzw. Ausschluss von Ressourcen spielt und wo Spaltungen verlaufen und Ungleichheit reproduziert wird, im öffentlichen Raum etwa entlang rassistischer Ausschlüsse.
Ein Fazit aus aktuellem Anlass
Dass die Frage nach Öffentlichkeit, Ungleichheit und Ausschluss für die Sozialwissenschaften zentral ist, erleben wir nicht zuletzt im Corona-Lockdown. Wie unter einem Brennglas zeigen sich gesellschaftliche Problemlagen, die vorher auch schon bestanden, nun aber deutlich vergrößert in den Blick kommen. Wer hat in Zeiten von Corona eine Stimme? Wer kann die neuen Formen von digitaler Öffentlichkeit pflegen? Wer darf in den Talkshows sprechen, wird sichtbar und gehört? Und wer bleibt am Rand der Gesellschaft oder wird noch weiter abgedrängt? Welche Rolle spielen dabei rassistische und klassistische Ausschlüsse?
Soll die Forschung zum Thema Öffentlichkeit einen Beitrag zur Bearbeitung gesellschaftlicher Problemstellungen leisten, kommt sie an der Perspektive auf Ungleichheit nicht vorbei.
Dieser Artikel erschien zuerst im Theorieblog. Wir danken für die freundliche Genehmigung der Übernahme.