Wehrdienst

‚Hamse jedient?‘ Kein Bock auf Bund

| 06. Mai 2025
IMAGO / photothek

Deutschland steht vor einer Wiedereinführung der Wehrpflicht. Das kontrastiert mit der Bereitschaft der Bevölkerung dazu. Weder die Bürger allgemein noch die Parteiengagierten der dies vorantreibenden ‚Mitte‘ zieht es zur Bundeswehr.

Die Bundesrepublik Deutschland hat gerade einen Kanzler gewählt, der 69 ist, also schon zwei Jahre über das Standard-Renteneintrittsalter hinaus. Die von ihm geführte Regierung wird dann laut ihres Koalitionsvertrags beschließen, eine Wehrerfassung wieder einzuführen. Alle 18jährigen, das ist in etwa Merzens Enkelgeneration, sollen in Zukunft einen Fragebogen ausfüllen – für Männer verpflichtend, für Frauen und andere Personen freiwillig –, in dem sie über ihren Gesundheitszustand, ihre Interessen, den Bildungsgrad etc. Auskunft zu geben haben und dabei auch mitzuteilen ob sie bereit wären, demnächst einen zeitlich befristeten Wehrdienst bei der Bundeswehr abzuleisten. Bei Nicht-Beantwortung oder Falschaussagen sind Strafen vorgesehen.

Das könnte zu spannenden Gerichtsprozessen wegen angeblich wissentlich falscher Angaben führen. Kann jemand in einem Sportverein aktiv sein und sich trotzdem ‚wegen Rücken‘ selbst für körperlich strikt wehruntauglich erklären? Oder, wenn ein Angeschriebener bei Gamer-Wettbewerben schon Preise gewonnen hat, muss dieser das angeben und darf er in der Dimension Computerkenntnisse trotzdem eine bescheidene Kategorie wählen?

Zu solchen Verfahren muss es natürlich gar nicht kommen, da die Bundeswehr ganz davon absehen könnte, eher zweifelhafte Angaben zu überprüfen und weiter zu verfolgen. Sicher ist das aber nicht, denn neben der direkten Funktion, für jetzt mehr Personal zu gewinnen, soll ja auch ein Datensatz für künftige Einberufungen in einem Krisenfall gewonnen werden. Und keine konservativ geführte Regierung will mit sonst sicher zu erwartenden BILD-Schlagzeilen von diesem Typus leben: ‚Wie einfach Carsten, 18 Jahre, die Bundeswehr austrickste und jetzt auf Malle einen auf Feiersau macht‘.

Erhofft wird, dass der Musterungsbogen genügend Anreiz bietet, sich als Freiwilliger zur Verfügung zu stellen. Und warum auch nicht? Angestrebt ist nämlich laut dem Bundesverteidigungsminister durch diese Maßnahme nur eine sehr bescheidene Zielmarke von jährlich 5.000 mehr Soldaten. So um 800.000 Personen werden jedes Jahr hierzulande volljährig und bekommen dann diesen Fragebogen. Selbst wenn keine einzige Frau freiwillig zur Bundeswehr wollte – was sehr unwahrscheinlich ist, da heute schon 17 Prozent der Soldaten weiblich sind – ergibt das nur eine Ratio von 5.000 Gesuchte / 400.000 Männer oder ganze 1,25 Prozent. Allerdings soll die Quote der Einzuberufenden mit der Zeit steigern, was dann perspektivisch sehr wohl auch zu Aufforderungen zum Wehrdienst gegen den Willen der Betroffenen führen dürfte.

Der politische Nachwuchs der ‚Mitte‘

Noch aufschlussreicher wird das Verhältnis zwischen dem zunächst gewünschten Personalzuwachs und dem eigentlich zur Verfügung stehenden Potential, wenn nur eine Subgruppe der Bevölkerung, nämlich die Mitglieder einer – nach allgemeinem Verständnis und Selbsteinschätzung – mittig positionierten politischen Partei betrachtet wird. Alle in der neuen Koalition vertretenen Gruppierungen haben etablierte Nachwuchsorganisationen. Bei der CDU/CSU sind das die gemeinsame Junge Union, bei der SPD die Jungsozialisten. Realistischerweise sollte man zur politischen ‚Mitte‘ noch die GRÜNEN zählen, die gerade in der ‚Kriegstüchtigkeits‘-Frage sogar den Konservativen näher als den Sozialdemokraten sind und vermutlich dem bald zu erwartenden Gesetz zur Wehrerfassung deshalb auch zustimmen dürften. Deren Nachwuchs heißt Grüne Jugend.

Die Junge Union zählt 90.000 Mitglieder, die Jungsozialisten 75.000, die Grüne Jugend 16.000, wobei die öffentlich zugänglichen Quellen dieser Informationen teilweise Jahre zurück liegen, aber nicht aktualisiert wurden. Zusammen macht das über 180.000 Personen. Die Altersgrenzen sind bei den beiden älteren Organisationen sehr ähnlich. Für die JU werden 15 - 35 angegeben, bei den Jusos 14 - 35. Die GJ fällt da etwas heraus, weil es dort keine Altersuntergrenze gibt und die Mitgliedschaft schon beim Eintritt des 28 Geburtstags endet.

Wieviel werden davon jährlich 18? Ich habe alle drei Bundesgeschäftsstellen angeschrieben, ob sie mir vielleicht eine Altersverteilung zukommen lassen könnten. Es gab keine einzige Antwort, nicht einmal eine Absage (so viel zur Rechenschaftsbereitschaft der Parteien gegenüber der Öffentlichkeit). Also muss man ersatzweise mit einer Hilfskalkulation arbeiten, wobei ich mangels anderer Informationen von einer Gleichverteilung aller Jahrgänge ausgegangen bin. Zusätzlich habe ich bei den Junggrünen eine Untergrenze von 14 Jahren aufgrund der Erfahrungen der anderen Parteien angesetzt.

Das Ergebnis: bei der Jungen Union ist danach eine Größe von 4.000 Mitgliedern, die jährlich 18 Jahre alt werden, zu erwarten. Bei den Jusos sind es etwas über 3.000 und bei der Grünen Jugend knapp 1.000. zusammen macht das gut 8.000. Oder anders ausgedrückt, die Jungmitglieder der Parteien der ‚Mitte‘ übertreffen alleine den gewünschten Personalaufwuchs der Bundeswehr.

Hier muss man selbstverständlich keine Differenzierung nach Geschlecht vornehmen, da der freiwillige Dienst ja Frauen wie Männern wie Diversen offensteht. Kleines Gedankenspiel: wenn von der allgemeinen Bevölkerung durch den Anreiz des Musterungsfragebogens vielleicht 3.000 zusätzliche Rekruten gewonnen werden würden – also weniger als 1 Prozent der männlichen Alterskohorte –, dann müsste nach dieser überschlägigen Kalkulation von dem mittigen Politikernachwuchs nur jeder Vierte tauglich und willens sein, eine Zeitlang bei der Bundeswehr zu dienen, um die Zielmarke zu erfüllen.

Die politische Diskussion um die Wehrerfassung und dann einer möglicherweise doch noch folgenden Wehrpflicht, weil sich eben nicht genügend Freiwillige finden bzw. die Zielmarke erhöht wird, ist durch zwei große Schieflagen geprägt. Einmal beschließen erheblich Ältere, dass ganz Junge die Last allein tragen sollen. Und zum anderen wird das große Bedrohungsszenario von ‚Putin ante portas, vielleicht schon demnächst‘ zwar in der medialen wie etablierten politischen Kommunikation gepflegt und gehätschelt, aber von persönlichen Konsequenzen daraus liest man so gut wie gar nicht. Beides ist zu auffällig und gewichtig, um nicht etwas nähere Betrachtung zu verdienen.

Alt gegen Jung

Bei Umfragen ergibt sich das recht entlarvende Bild, dass die Zustimmung zur Wehrpflicht – zur Wehrerfassung alleine wird wenig gefragt – mit dem Alter steigt. Die Jüngeren sind da sehr dagegen. Zum Beispiel ergab die neueste von YouGov vom März 2025, dass bei den 18 - 29jährigen nur ein Drittel eine Wehrpflicht gut findet. Und dann nimmt dieser Anteil mit den Lebensjahren kontinuierlich zu, bis zu starken 75 Prozent bei den über 70jährigen. Offensichtlich hilft es der Positionierung in dieser Frage ganz ungemein, wenn man weiß, dass man persönlich davon kaum betroffen sein wird.

Dazu kommt, dass aller medialen Berieselung zum Trotz die Bevölkerung zu großen Teilen bei der Frage einer persönlichen Kriegsbeteiligung erstaunlich ablehnend aufgestellt ist. Eine Forsa-Erhebung vom März 2025 für RTL/ntv ergab, dass nur 17 Prozent der Befragten „auf jeden Fall“ bereit wären, Deutschland militärisch zu verteidigen, 19 Prozent hielten es noch für „wahrscheinlich“, 60 Prozent dagegen kreuzten „wahrscheinlich nicht“ und „auf keinen Fall“ an. Das ist kein Ausrutscher, gleichlautende Befragungen in 2023 und 2024 kamen zu ähnlichen Ergebnissen.

Man kann das als eine weitere Erinnerung daran sehen, wie treffend die Analyse von Precht/Welzer 2022 war, deren Buch zur Krieg-/Friedens-Debatte den Untertitel hatte „Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist.“ Das ist kein Phänomen etwaiger ‚Ränder‘. Wähler der ‚Mitte‘-Parteien gehören ebenfalls ganz überwiegend zum parteiübergreifend großen Ablehnungs-Lager. „Auf jeden Fall“ selbst verteidigen wollen nur 24 Prozent der CDU/CSU-Anhänger, 15 Prozent der SPD-Wählenden und ganze 10 Prozent des Grünen-Lagers.

Eine demokratie-orientierte Regierung könnte bei solchen Ergebnissen selbstkritisch agieren und sich fragen, warum ihre Lageeinschätzung eigentlich so ganz anders ist als die Mehrheit der Bevölkerung. Meinen die Deutschen überwiegend, dass es doch sehr unwahrscheinlich bleibt, dass Russland die bei weitem übermächtige NATO angreifen wird und für das Restrisiko eine Berufsarmee zulangt?

Oder sagen sich viele, ein Krieg mit der weltgrößten Nuklearmacht kann nur in allgemeiner Vernichtung enden, warum einem solchen Irrsinn noch persönlich Vorschub leisten? Oder erinnert man sich daran, dass ein einmal aufgebautes Militär nicht nur zur Verteidigung, sondern schnell auch mal zum Angriff eingesetzt werden kann (Serbien, Afghanistan), und man daran nicht mitwirken möchte? Oder finden vielleicht andere, dass ihre Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik nicht die besten sind und dass dann doch diejenigen, die von der Politik bei Einkommen, Vermögen, Bildungszugang etc. seit langem bevorzugt werden, auch bei den Pflichten mal primär herangezogen werden sollten?

Wie dem auch sei, das offizielle Berlin hat beschlossen, solche Warnzeichen zu ignorieren und die darin liegende Herausforderung zu umgehen, indem sie einfach alle Last auf die Jüngsten, die gerade erwachsen Gewordenen abwälzt. Das ist politisch ziemlich risikolos, denn deren Einfluss auf künftige Wahlen ist gering. Es wäre natürlich auch anders gegangen. Man hätte zum Beispiel neben (oder sogar statt) der Erfassung der 18jährigen noch eine Zufallsstichprobe der älteren Personen im gleichen Umfang ziehen können, etwa aus der Altersgruppe bis 45. Die sind selbst nach Einschätzung der Bundeswehr als Kohorte ziemlich fit und haben zwischenzeitlich viele Kenntnisse erworben, die auch militärisch gut nutzbar sind.

Eine solche potentielle Beteiligung Älterer hätte jetzt ganz anderen Bevölkerungskreisen klargemacht, was auch an persönlichen Lebensveränderungen durch die aktuelle Aufrüstungsmanie auf dem Spiel steht. Aus Sicht der kurzfristigen Stimmenmaximierer ist das aber genau der Nachteil. Denn dann würden jedes Jahr weitere 800.000 Personen mit dem Fragebogen und einer möglichen Einberufung behelligt werden, in zehn Jahren also 8 Millionen. Man darf annehmen: das machte sich bei folgenden Wahlen sehr wohl bemerkbar und kaum zugunsten der ‚Kriegstüchtigkeits‘-Parteien.

Wort versus Tat

Eine Zeitlang schien es fast schon Mode – zumindest bei den Grünen –, dass ehemalige Kriegsdienstverweigerer ihre Entscheidung bedauerten und angaben, heute lieber zur Bundeswehr zu gehen. An erster Stelle steht dafür Robert Habeck. Allerdings hat nur ein einziger, Tobias Lindner, der Mitglied im Verteidigungsausschuss des alten Bundestags war, diesen Status auch formell zurückgenommen, um mal bei einer Wehrübung für Abgeordnete teilnehmen zu können.

Aber jenseits solcher Statements verspürt Deutschland wenig praktische Neigung, nicht mehr anerkannter Kriegsdienstverweigerer sein zu wollen um im Kriegsfall selbst in den Schützengraben ziehen zu können. Ganze 624 solcher Anträge zählte man etwa 2024. Nimmt man nur die Anzahl der männlichen Parteimitglieder von Parteien der ‚Mitte‘ oder auch bloß die ihrer Funktionsträger, dann beschreibt das doch eine gewaltige Kluft zwischen den teils martialischen Äußerungen zur jetzt unbedingten nötigen ‚Kriegstüchtigkeit‘ und der kleinen Mühe, ein diesbezügliches Briefchen an die zuständige Behörde zu schreiben.

Der Eindruck großer Heuchelei wird nicht aufgehoben, wenn man fragt, wer sich denn von den jüngeren bis mittelalten Mitgliedern der ‚Mitte‘-Parteien zu einem freiwilligen Wehrdienst bequemt? Die Bundeswehr bietet seit 2001 eine maßgeschneiderte Option für Bürger ‚im besten Alter‘ und ‚mitten im Leben‘ an. Dabei muss man nicht Heim und Herd für lange Zeit verlassen, sondern die Aktivitäten finden vorwiegend am Wochenende statt. Bei dieser Ausbildung zum Reservisten im ‚Heimatschutz‘ darf man von 18 - 45 mitmachen, begleitend zu den sonstigen Verpflichtungen in Beruf und Familie. Allzu viele wollen das jedoch nicht. Laut der Bundeswehr umfasst die Kategorie ‚Freiwillig Wehrdienstleistende im Heimatschutz‘ aktuell gerade einmal 273 Personen. Kleiner Abgleich: allein die Zahl der Mitglieder des Bundestags und aller Landtage beträgt 2.500. Bei einer Wette hätte man sehr gute Chancen für die Annahme, dass sich unter den Abgeordneten von CDU/CSU/SPD/Grünen zwar jede Menge Aufrüstungsbefürworter, aber nicht ein einziger Heimatschutz-Freiwilliger finden wird.

Mehr direkte Demokratie, mehr Transparenz

Immer wieder weisen Forscher darauf hin, dass sich in Deutschland die Kluft zwischen Regierenden und Regierten vertieft. Zum Beispiel erhebt die Körber-Stiftung regelmäßig Daten dazu. Für 2024 etwa hatten die Befragten in die Partei, die man selbst gewählt hat, zu auch schon recht mäßigen 46 Prozent „sehr großes“/“großes“ Vertrauen, aber nur noch 22 Prozent zum Bundestag, 18 Prozent in die Bundesregierung, 9 Prozent in die Parteien allgemein.

Das einfachste Gegenmittel wäre, neben der repräsentativen Demokratie endlich auch Elemente direkter Demokratie einzuführen – so wie es das Grundgesetz von Anbeginn an fordert –, um bestimmte Politikfragen, die als besonders wichtig angesehen werden und in der auch in der Bürgerschaft starke Meinungsunterschiede herrschen, vom Souverän selbst entscheiden zu lassen. Dazu gibt es viele Überlegungen. 

Aber diesen Weg scheuen die Parteien der ‚Mitte‘ wie der Teufel das Weihwasser. Offensichtlich will man seine Politikvorstellungen auch dann durchsetzen können, wenn dafür eigentlich kein Mandat zu erkennen ist. Und dann wundert man sich, warum eine immer besser gebildete und damit in Politikfragen auch kompetentere Wählerschaft das zunehmend kritisch sieht.

Was als Second-best-Lösung noch bleibt, ist seitens der Parteien durch mehr Transparenz ihrerseits auf die Wähler zuzugehen. Und das bedeutet in der hochbedeutenden Frage von Wehrdienst offenzulegen, in wieweit denn bei ihnen selbst Wort und Tat übereinstimmen. Praktisch umgesetzt heißt es zu untersuchen ob die eigenen Parteimitglieder und Funktionsträger wohl bereit sind, das von anderen geforderte selbst zu leisten. Man könnte interne Befragungen dazu organisieren – von einem neutralen Umfrageinstitut um den Verdacht jeglicher Manipulation entgegen zu treten – wer in CDU/CSU/SPD/Grüne jemals Wehrdienst geleistet hat, wer seine Bereitschaft dazu wie bekundete, und wer weiter bei einer bereits anerkannten  Verweigerung bleibt. Und das natürlich sorgfältig aufbereitet nach Altersgruppen, Geschlecht etc. publizieren. Die Parteien sind in der Lage so etwas ohne unzumutbaren organisatorischen Aufwand zu organisieren. Gerade hat die SPD eine Online-Mitgliederbefragung zum Koalitionseintritt hinter sich gebracht und die Berliner CDU etwa befragt regelmäßig Parteimitglieder ebenfalls online zu diversen Themen.

Ist man auch zu einem solchen kleinen Schritt der Vertrauensbildung nicht bereit, dann gilt wohl weiter Heinrich Heines Verdikt aus ‚Deutschland ein Wintermärchen‘:
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.