Afghanistan – ein gerechter Krieg?
Der Ukrainekrieg hat den verlorenen Afghanistankriegs aus den öffentlichen Debatten verdrängt. Seine Dauer, die hohe Zahl an Toten und Verwundeten und andere humanitäre Folgen verlangen aber nach einer Aufarbeitung.
In den letzten Artikeln hat Sophie Lukas ethische und sozialwissenschaftliche Theorien zu den internationalen Beziehungen erklärt. Heute kommt sie zur Anwendung: War der Afghanistankrieg ein gerechter Krieg?
„Der Afghanistankrieg war der längste Krieg, den die USA und ihre Verbündeten bisher geführt haben. Trotz seiner Länge, der hohen Zahl an Toten und Verwundeten, den immensen Kosten und seinem Scheitern, wurde er kaum aufgearbeitet. Hinzu kommt, dass er zu Beginn beinahe einhellig befürwortet wurde: Seine Berechtigung schien offensichtlich zu sein. Es gibt also eine ganze Reihe gewichtiger Gründe, sich mit diesem Krieg auseinanderzusetzen. Dabei spielen sowohl ethische als auch sozialwissenschaftliche Perspektiven eine Rolle. Welche ethischen Positionen haben wir angesprochen?“
„Das Spektrum reicht vom radikalen Pazifismus bis zum Militarismus.“
„Richtig. Aus der Perspektive des radikalen Pazifismus und des pragmatischen Pazifismus, wie ihn etwa Olaf L. Müller vertritt, war der Afghanistankrieg moralisch falsch. Offenbar hatten diese Positionen in der Öffentlichkeit wenig Einfluss. Anders die Lehre vom gerechten Krieg: Zumindest rhetorisch wurde der Afghanistankrieg von der amerikanischen Regierung immer wieder als ‚gerechter Krieg‘ bezeichnet. Sehen wir also von den stärker pazifistischen Positionen ab und überlegen, ob der Afghanistankrieg auf der Basis dieser Lehre so offensichtlich berechtigt war, wie dies damals verfochten wurde.“
„Dann müssten wir also erstmal darüber nachdenken, ob es einen gerechten Grund für den Afghanistankrieg gab.“
„Ja. Der Krieg muss einem Ziel dienen, der die zu erwartende Zerstörung rechtfertigt. Was gilt als gerechter Grund?“
„Häufig beruft man sich auf Nothilfe, um zum Beispiel ein Massaker an der Zivilbevölkerung zu verhindern.“
„Der Krieg soll ausgebrochene Gewalt beenden oder bevorstehende Gewalt in einem Land verhindern. Wie Michael Walzer betont, muss die Gewalt eine bestimmte Intensität haben. Nicht jede Mordaktion eines Staates gegen eine Bevölkerungsgruppe legitimiert unmittelbar einen gerechten Krieg, um weiteres Leid zu verhindern. Ein Genozid oder ein Massaker an der Zivilbevölkerung muss auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bevorstehen, damit ein Krieg eröffnet werden darf. Ein solcher Fall lag in Afghanistan offensichtlich nicht vor. Er wurde von der amerikanischen Regierung auch nicht als Kriegsgrund genannt. Der Schutz der afghanischen Zivilbevölkerung ist aber ein Kriterium, das wir im Blick behalten sollten. Was gilt noch als gerechter Grund?“
„Selbstverteidigung.“
„Damit kommen wir der offiziellen Begründung der amerikanischen Regierung nahe: Die Bombardierung von Zielen in Afghanistan war ein Akt der Selbstverteidigung. Bei 9/11 handelte es sich nicht nur um einen Terroranschlag, sondern, wie Präsident George W. Bush betonte, um einen Akt des Krieges. Bei einem Terroranschlag ist ein strafrechtlicher Ansatz die übliche Antwort, bei einem Kriegsakt stehen militärische Mittel in Frage. Was ist demnach gedanklich der nächste Schritt unserer Analyse?“
„Überlegen, was Krieg und was Terror bedeuten.“
„Gut. Nun ist es mit Worten so, dass es keine Instanz gibt und auch nicht geben kann, die in philosophischen Fragen eindeutig festlegt, wann etwas unter den einen oder den anderen Begriff fällt. Natürlich gibt es zahllose Fälle die offensichtlich sind: Der Koran ist ein Buch und kein Auto. Aber ab wann jemand moralisch eine Gefängnisstrafe verdient hat, kann niemand verbindlich beantworten – auch die amerikanische Regierung nicht. Und im Fall von 9/11 gab es auch in der Wissenschaft Stimmen, die sich gegen die Einordnung als Kriegsakt ausgesprochen haben. 9/11 hatte alle Merkmale eines Terroranschlags: Die Ausübung von Terror mittels Gewalt, um bestimmte, meist politische Ziele zu erreichen. Trotz der hohen Zahl an Todesopfern hatten die Anschläge für sie nicht die Intensität und Dauer, die notwendig ist, um diesen Akt als Kriegsakt einzuordnen. Auch nicht im Sinne internationalen Rechts.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es einen gerechten Grund gab, Krieg gegen die Taliban zu führen. Die Taliban wurden von der amerikanischen Regierung nicht beschuldigt, an der Planung der Terroranschläge beteiligt gewesen zu sein. Die Taliban sind zwar eine militante Organisation, sie waren jedoch nicht wie die al-Qaida international ausgerichtet, ihnen ging es um ihren Gottesstaat in Afghanistan. Sie wurden vielmehr beschuldigt, Osama bin Laden nicht auszuliefern und die Anwesenheit der Al Quaida in Afghanistan zu billigen. Ein gerechter Grund für einen Krieg gegen die Taliban hängt also wiederum von der Frage ab, ob man den Terroranschlag als Akt des Krieges einstufen sollte. Und das ist offensichtlich keineswegs eindeutig.
Aber selbst wenn man dies zugesteht, ist damit noch nicht gezeigt, dass die indirekte Unterstützung der al-Quaida für den gerechten Grund ausreicht, gegen die Taliban Krieg zu führen. Sind beispielsweise Waffenlieferungen ein gerechter Grund, auch gegen den Lieferanten Krieg zu eröffnen? Das lässt sich offenbar bestreiten. So hielt der Philosophieprofessor Georg Meggle ‚eng begrenzte Schläge‘ gegen Ausbildungslager möglicherweise für gerechtfertigt, nicht aber einen Krieg, von dem das gesamte Land betroffen ist.“
„Gab es vielleicht einen zusätzlichen, davon unabhängigen Grund, gegen die Taliban Krieg zu führen?“
„In den Medien wurde die totalitäre Herrschaft der Taliban und vor allem die massive Diskriminierung von Frauen kritisiert. Doch wie Walzer betont, ist die Vertreibung einer autoritären Herrschaft noch kein hinreichender Grund für einen gerechten Krieg, solange es nicht zu schockierenden Entwicklungen kommt wie etwa systematischen Massakern an der Zivilbevölkerung. Und das war nicht der Fall. Doch unabhängig davon hängt die Berechtigung, einen Krieg zu führen, noch von weiteren Kriterien ab.“
„Unter anderem das letzte Mittel, die Aussicht auf Erfolg und die Verhältnismäßigkeit.“
„Richtig. Diese Kriterien hängen hier eng zusammen. Um das zu beurteilen, müssen wir natürlich wissenschaftliche Erkenntnisse über Terrorismusbekämpfung berücksichtigen. Dabei können wir uns auf verschiedene Analysen stützen, die der amerikanische Politikwissenschaftler Metthew Evangelista zusammengestellt hat.
Das besondere Problem des Terrorismus ist, dass er anders als ein Staat nicht an einen Ort gebunden ist. Eine terroristische Organisation ist nicht mit einer Armee vergleichbar, die eine Stadt angreift. Terrorgruppen in Terrorcamps können sich leicht auflösen und mit der Bevölkerung vermischen, sie können die Region oder das Land wechseln. Terroranschläge können zudem dezentral vorbereitet werden. 9/11 wurde vor allem in Deutschland und der Vereinigten Arabischen Emirate geplant, nicht in Afghanistan. Die meisten der Terroristen kamen aus Saudi-Arabien. Eine wirksame militärische Eindämmung des Terrorismus steht damit vor erheblichen Schwierigkeiten.“
„Kann man das nachweisen?“
„In einer Studie der RAND Corporation – der größte militärische Thinktank in den USA – wurden 286 Terrororganisationen untersucht, die zwischen 1968 und 2006 aktiv waren. Nur 7% der Gruppen wurden durch das Militär besiegt. Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen, dass militärische Mittel nicht geeignet sind, um effektiv gegen die al-Quaida vorzugehen.
Zudem besteht das Risiko, dass der Krieg den Terrorismus verstärkt, statt ihn zu schwächen. Die amerikanische Außenpolitik im Nahen Osten ist nach den Äußerungen der al-Quaida der Grund für ihren Terrorismus. Ursprünglich hatte die amerikanische Regierung afghanische Terroristen im Kampf gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans sogar unterstützt. In den 90er Jahren wandte sich Osama bin Laden jedoch gegen seine ehemaligen Unterstützer. Warum? Ein wichtiger Grund war die Anwesenheit und Aufstockung von amerikanischen Truppen in der Nähe der beiden großen Heiligtümer des Islam, Mekka und Medina nach dem Irakkrieg Anfang der 90er Jahre. Viele Muslime empfinden dies als Schande.“
„Warum wird denn jemand zu Terroristen?“
„Die Gründe sind vielfältig. Soziale Ausgrenzung eines jungen Menschen kann ebenso eine Rolle spielen wie ein religiöser Führer und freundschaftliche oder verwandtschaftliche Beziehungen zu militanten Gruppen. Evangelista weist jedoch auf einen grundlegenden Faktor für die Verbreitung von Terrorismus hin: Dass der Kampf der Terroristen zu einem gewissen Maß in der Bevölkerung Anerkennung findet. Ein wichtiger Grund, warum der Terrorismus der 70er Jahre endete, war, dass die von den Terroristen bekämpften Missstände sich verbesserten. Dies nahm den Terroristen ihren Grund zu kämpfen ebenso wie potentielle Sympathisanten in der Bevölkerung.
Doch wenn der Westen ein muslimisches Land mit Krieg überzieht, der zahllose zivile Opfer fordert, verstärkt dies in der muslimischen Welt das Gefühl der Demütigung und Wut, aus dem Terroristen ihre Motivation und Anerkennung schöpfen können. Insbesondere junge Männer, die ihre Frauen, Eltern, Kinder oder Verwandte verloren haben, haben verständliche Gründe, hasserfüllt zu sein. Ein Krieg gegen den Terror beinhaltet also das Risiko den Terrorismus zu verstärken statt zu schwächen.“
„Welche Aussichten hatten die USA, die Taliban zu besiegen?“
„John Mearsheimer, ein einflussreicher amerikanischer Politikwissenschaftler, beurteilte dieses Ziel aus einer Reihe von Gründen bereits im November 2001 als unrealistisch: Die Taliban könnten sich bei Angriffen einfach in die Bevölkerung oder nach Pakistan zurückziehen und auf die nächste Gelegenheit für ihre Rückkehr warten. Wegen der zivilen Opfer sei eine Solidarisierung mit den Taliban in der Bevölkerung zu erwarten. Ein zeitweiser, regional begrenzter Sturz der Taliban, wie ihn die Amerikaner auch nach wenigen Wochen erreichten, sei einfach, aber um eine dauerhafte Ordnung zu installieren, müsse das Land regelrecht okkupiert werden. Das zerklüftete Land sei aber für einen Guerrilla-Krieg prädestiniert, wie die Sowjetunion bereits feststellen musste. Ein US-gestütztes Regime könne kaum eine tiefgreifende Macht in dem zerklüfteten Land ausüben.“
„Wenn also die Erfolgsaussichten von Krieg nicht sehr groß sind, wie sieht es mit Alternativen aus?“
„Eine Hochzeit des Terrorismus waren die 70er Jahre, in denen u.a. die deutsche Rote-Armee-Fraktion und die japanische Rote-Armee-Fraktion eine Reihe von Anschlägen verübten. Die Terrorgruppen waren international vernetzt und nutzten Terrorcamps im Libanon, fanden aber auch Aufnahme in der DDR, in Nordkorea und anderen Ländern des Nahen Ostens. Wie gelang es diese Terrorgruppen einzudämmen? Deutschland und Japan nutzen intensiv geheimdienstliche und polizeiliche Maßnahmen. Japan setzte aber noch ein weiteres Mittel erfolgreich ein: Sie gewährten Syrien ökonomische Hilfen, das im Gegenzug die Bewegungsfreiheit der Terroristen einschränkte. Hinzukam, dass sich die von den Terroristen bekämpfen politischen Verhältnisse verbesserten. Der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern in den 90er Jahren nahm den Terroristen ihre Argumente und trug entscheidend zur Auflösung der japanischen Rote-Armee-Fraktion bei.“
„Standen den USA ähnliche Mittel zur Verfügung?“
„Der Terrorismus der 70er Jahre führte zu einer erheblichen Intensivierung der internationalen geheimdienstlichen und polizeilichen Zusammenarbeit, die nach 9/11 durch Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen noch einmal sehr stark ausgeweitet wurde. So stark, dass sie von Kritikern bereits als fragwürdige, weltweite Beschränkung von Bürgerrechten wahrgenommen wurde. Den USA standen erheblich mehr Mittel als je zuvor zur Verfügung, durch polizeiliche und geheimdienstliche Maßnahmen gegen den Terrorismus vorzugehen.
Bereits 1993 wurde auf das World Trade Center ein islamistischer Terroranschlag verübt. Die führenden Täter wie ihre Mittäter konnten fast alle durch polizeiliche und geheimdienstliche Maßnahmen festgenommen und gerichtlich verurteilt werden. Ein effektives Mittel war die Infiltration der Terrororganisation mit verdeckten Ermittlern. Auch während dem Afghanistankrieg war die geheimdienstliche Arbeit erfolgreich. So konnten beispielsweise durch verdeckte Ermittler in einer pakistanischen Bank hunderte Terroristen ausfindig gemacht werden. Nach der bereits erwähnten Studie der RAND-Corporation konnten 40 Prozent der 268 terroristischen Gruppen zwischen 1968 und 2006 durch polizeiliche und geheimdienstliche Maßnahmen aufgelöst werden, 43 Prozent beendeten ihre Tätigkeit auf Grund von friedlicher politischer Übereinkunft. Auch wenn Sicherheitsvorkehrungen, Polizei und Geheimdienste nicht jegliches Risiko eliminieren können, spricht folglich vieles dafür, dass dies der adäquate Weg ist, gegen den Terrorismus vorzugehen.“
„Wie sieht es mit dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit aus?“
„Wenn die Aussichten wenig erfolgversprechend sind, ist das Risiko groß, dass sich der Krieg lange hinzieht und viele Unschuldige umkommen oder an den Folgen des Krieges zu leiden haben. Da sich die al-Qaida und die Taliban leicht mit Zivilisten vermischen können oder in bewohnten Gebieten kämpfen, muss mit vielen zivilen Opfern gerechnet werden. Indirekte Folgen eines Krieges sind Unterernährung und mangelhafte Gesundheitsversorgung. Hilfsorganisationen warnten entsprechend vor einer Hungersnot, die Millionen Menschen betreffen würde.
Eine andere Gefahr bestand in der politischen Radikalisierung Pakistans. Bei einem politischen Umsturz hätten radikale Islamisten über Atomwaffen verfügt. Beide Gefahren sind nicht eingetreten. Ob die Entscheidung für den Krieg gerechtfertigt ist, hängt aber nicht von den tatsächlichen, sondern von den wahrscheinlichen Folgen zu Kriegsbeginn ab. Für Meggle war die Unverhältnismäßigkeit der zu erwartenden Todesopfer von 1:10 oder 1:20 ein entscheidender Grund, den Krieg abzulehnen.“
„Was waren denn die tatsächlichen Folgen des Krieges?“
„Nach dem Cost of War Projekt der Browns-University kamen 176.000 Menschen durch die Gewalt des Krieges um und ein Vielfaches davon durch die indirekten Folgen. Durch den Krieg habe sich die Situation für die Menschen erheblich verschlechtert: Vor dem Krieg waren 62% der Afghanen von Ernährungsunsicherheit betroffen, nach dem Krieg waren es 92%. Die Unterernährung von Kindern unter fünf Jahren stieg von 9% auf 50%, die generelle Armut von 80% auf 97%. Heute leben 1,5 Millionen Afghanen mit körperlichen Behinderungen, 2 Millionen Afghaninnen sind Witwen. Der Terrorismus hingegen hat seit der Ausrufung des ‚Kriegs gegen den Terror‘ insgesamt erheblich zugenommen. Diese Folgen bestätigen Warnungen, wie sie von Meggle und anderen ausgesprochen wurden. Der Afghanistankrieg war demnach also kein gerechter Krieg.“
Eine Anwendung von Theorien der Internationalen Beziehungen auf den Ukrainekrieg findet sich hier. Die folgenden Artikel behandeln normative Theorien globaler Gerechtigkeit.